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Full text of "17/139 - Plenarprotokoll vom 10.11.2011"

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Plenarprotokoll 17/139 


Deutscher Bundestag 

Stenografischer Bericht 
139. Sitzung 


Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Inhalt: 


Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- 
neten Max Lehmer 1645 1 A 

Wahl der Abgeordneten Ralph Lenkert und 
Sabine Stüber als Schriftführer 1645 1 B 

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- 
nung 1 645 1 B 

Absetzung der Tagesordnungspunkte 11, 13 

und 33 16453 A 


Tagesordnungspunkt 3: 

Antrag der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, 

Dr. Michael Fuchs, Kai Wegner, weiterer Ab- 
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU 
sowie der Abgeordneten Dr. Fiermann Otto 
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia 
Bügel, weiterer Abgeordneter und der Frak- 
tion der FDP: Weniger Bürokratie und Be- 
lastungen für den Mittelstand - Den Er- 
folgskurs fortsetzen 

(Drucksache 17/7636) 16453 B 

in Verbindung mit 


Zusatztagesordnungspunkt 2: 

Antrag der Abgeordneten Andrea Wicklein, 

Garreit Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sta- 
gnation beim Bürokratieabbau überwin- 
den - Neue Schwerpunktsetzung für den 
Mittelstand umsetzen 

(Drucksache 17/7610) 16453 C 


Ernst Burgbacher, Pari. Staatssekretär 


BMWi 16453 C 

Andrea Wicklein (SPD) 16454 D 

Kai Wegner (CDU/CSU) 16456 B 

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) 16458 B 

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16459 C 

Claudia Bügel (FDP) 16461 B 

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) 16462 C 

Claudia Bügel (FDP) 16462 C 

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) 16462 D 

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) 16464 A 

Johanna Voß (DIE LINKE) 1 6465 A 

Lena Strothmann (CDU/CSU) 16466 A 

Ernst Hinsken (CDU/CSU) 16467 B 


Tagesordnungspunkt 4: 

a) - Zweite und dritte Beratung des von 
den Abgeordneten Rüdiger Veit, 

Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz, 
weiteren Abgeordneten und der Frak- 
tion der SPD eingebrachten Entwurfs 
eines Gesetzes zur Änderung des 
Staatsangehörigkeitsrechts 
(Drucksachen 17/773, 17/7675) 16468 C 

- Zweite und dritte Beratung des von 
den Abgeordneten Memet Kilic, Josef 
Philip Winkler, Kai Gehring, weiteren 
Abgeordneten und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten 



II 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- 
rung des Staatsangehörigkeitsrechts 

(Drucksachen 17/3411, 17/7675) .... 16468 D 

b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- 
nenausschusses zu dem Antrag der Abge- 
ordneten Sevim Dagdelen, Jan Körte, Ulla 
Jelpke, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion DIE LINKE: Ausgrenzung be- 
enden - Einbürgerungen umfassend er- 


leichtern 

(Drucksachen 17/2351, 17/7675) 16468 D 

Dr. Oie Schröder, Pari. Staatssekretär 

BMI 16469 B 

Aydan Özoguz (SPD) 16471 A 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) 16473 A 

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) 16475 A 

Renate Künast (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16476 A 

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 16476 D 

Florian Pronold (SPD) 16478 B 

Dr. Frank- Walter Steinmeier (SPD) 16479 D 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) 16481 B 

Serkan Toren (FDP) 16482 B 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE) 16483 B 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16484 C 

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) 16484 D 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE) 16485 B 


zes zu dem Abkommen vom 13. Fe- 
bruar 2007 zwischen der Regierung der 
Bundesrepublik Deutschland und der 
Regierung des Staates Kuwait über die 
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 
(Drucksache 17/7601) 

c) Erste Beratung des von der Bundesregie- 

rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zu dem Abkommen vom 22. Fe- 
bruar 2009 zwischen der Regierung der 
Bundesrepublik Deutschland und der 
Regierung des Staates Katar über die 
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 
(Drucksache 17/7602) 

d) Erste Beratung des von der Bundesregie- 
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zu dem Abkommen vom 10. März 
2009 zwischen der Regierung der Bun- 
desrepublik Deutschland und der Re- 
gierung der Republik Kroatien über die 
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung 
der Organisierten und der schweren 
Kriminalität 

(Drucksache 17/7603) 

e) Erste Beratung des von der Bundesregie- 
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zu dem Abkommen vom 27. Mai 
2009 zwischen der Regierung der Bun- 
desrepublik Deutschland und der Re- 
gierung des Königreichs Saudi-Arabien 
über die Zusammenarbeit im Sicher- 
heitsbereich 

(Drucksache 17/7604) 


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16485 D 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) 16487 A 

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16488 D 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) 16489 B 


f) Erste Beratung des von der Bundesregie- 
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zu dem Abkommen vom 14. April 
2010 zwischen der Regierung der Bun- 
desrepublik Deutschland und der Re- 
gierung der Republik Kosovo über die 
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 
(Drucksache 17/7605) 


Namentliche Abstimmung 16489 C 

Ergebnis 16493 D 


Tagesordnungspunkt 34: 

a) Erste Beratung des von der Bundesregie- 
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zur Durchführung der Internationa- 
len Gesundheitsvorschriften (2005) und 
zur Änderung weiterer Gesetze 

(Drucksache 17/7576) 16489 D 

b) Erste Beratung des von der Bundesregie- 
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 


g) Erste Beratung des von der Bundesregie- 

rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 
zes zu dem Abkommen vom 30. August 
2010 zwischen der Regierung der Bun- 
desrepublik Deutschland und dem Mi- 
nisterkabinett der Ukraine über die 
Zusammenarbeit im Bereich der Be- 
kämpfung der Organisierten Kriminali- 
tät, des Terrorismus und anderer Straf- 
taten von erheblicher Bedeutung 
(Drucksache 17/7606) 

h) Antrag der Abgeordneten Dorothea 
Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einfuhr 
und Verwendung von Asbest und as- 


16489 D 


16490 A 


16490 A 


16490 A 


16490 B 


16490 B 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


III 


besthaltigen Produkten in Deutschland gelung energiewirtschaftsrechtlicher 

umfassend verbieten Vorschriften 


(Drucksache 17/7478) 16490 C 

i) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton 
Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans- Josef Fell, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bau der 

dritten Start- und Landebahn am Flug- 
hafen München Erdinger Moos ausset- 
zen - Keine unumkehrbaren Tatsachen 
schaffen 

(Drucksache 17/7479) 16490 C 

j) Antrag der Abgeordneten Beate Müller- 
Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann- 
Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeord- 
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN: Leiharbeit und Werkver- 
träge abgrenzen - Kontrollen verstär- 
ken 

(Drucksache 17/7482) 16490 C 

k) Antrag der Abgeordneten Andrej Hunko, 

Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion DIE 
LINKE: Die Europäische Sozialcharta 
unverzüglich umsetzen 

(Drucksache 17/7484) 16490 D 

l) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, 

Paul Schäfer (Köln), Harald Koch, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE 
LINKE: Konversion von Bundeswehr- 
standorten als Entwicklungschance für 
Kommunen 

(Drucksache 17/7504) 16490 D 

m) Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, 

Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar 
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion DIE LINKE: Die Billigkeits- 
richtlinie zu den Umstellungskosten aus 
der Umwidmung von Frequenzen den 
Realitäten anpassen 

(Drucksache 17/7655) 16491 A 

n) Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, 

Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität 
der Integrationskurse verbessern 
(Drucksache 17/7639) 16491 A 


in Verbindung mit 


Zusatztagesordnungspunkt 3: 

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der 
CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- 
wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neure- 


(Drucksache 17/7632) 16491 A 

b) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, 

Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: 

Leitlinien für Transparenz und Um- 
weltverträglichkeit bei der Förderung 
von unkonventionellem Erdgas 

(Drucksache 17/7612) 16491 B 

c) Antrag der Abgeordneten Dr. Matthias 
Miersch, Dirk Becker, Marco Bülow, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der 
SPD: Monitoring für versenkte Atom- 
müllfässer im Atlantik sicherstellen und 
Maßnahmen gegen weitere Strahlenex- 
position einleiten 

(Drucksache 17/7633) 16491 B 


Tagesordnungspunkt 35: 

a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung 
des von der Bundesregierung eingebrach- 
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 3. Februar 2011 zwischen 
der Bundesrepublik Deutschland und 
dem Königreich Spanien zur Vermei- 
dung der Doppelbesteuerung und zur 
Verhinderung der Steuerverkürzung 
auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- 
kommen und vom Vermögen 

(Drucksachen 17/7318, 17/7554) 16491 C 

b) Zweite und dritte Beratung des von der 
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 
eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes 
zur Umsetzung der Richtlinie des Euro- 
päischen Parlaments und des Rates 
über den strafrechtlichen Schutz der 
Umwelt 

(Drucksachen 17/5391, 17/7674) 16491 D 

c) Zweite und dritte Beratung des von der 
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 
eines Gesetzes zur Änderung des EG- 
Verbraucherschutzdurchsetzungsgeset- 
zes und zur Änderung des Unterlas- 
sungsklagengesetzes 

(Drucksachen 17/7235, 17/7672) 16492 A 

d) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Sportausschusses zu dem Antrag der Ab- 
geordneten Klaus Riegert, Eberhard 
Gienger, Stephan Mayer (Altötting), wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der 
CDU/CSU sowie der Abgeordneten 
Joachim Günther (Plauen), Dr. Lutz 
Knopek, Gisela Piltz, weiterer Abgeordne- 
ter und der Fraktion der FDP: Klima- und 
Umweltschutz im und durch den Sport 



IV 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


stärken - Für eine verantwortungsvolle 
Sportentwicklung in Deutschland 

(Drucksachen 17/5779, 17/7608) 16492 C 

e) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- 
ren vor dem Bundesverfassungsgericht 
2 BvE 8/11 

(Drucksache 17/7668) 16492 D 

f) -k) 

Beratung der Beschlussempfehlungen des 
Petitionsausschusses: Sammelübersich- 
ten 331, 332, 333, 334, 335 und 336 zu 
Petitionen 

(Drucksachen 17/7492 (neu), 17/7493, 

17/7494, 17/7495, 17/7496, 17/7497) .... 16492 D 

in Verbindung mit 


Zusatztagesordnungspunkt 4: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- 
lung zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela 
Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Tabea 
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Frak- 
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der älter 
werdenden Gesellschaft gerecht werden - 
Barrieren in Wohnungen und im Wohnum- 
feld abbauen 

(Drucksachen 17/7188, 17/7630) 16493 C 


Zusatztagesordnungspunkt 5: 

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion 
DIE LINKE: Haltung der Regierungskoali- 


tion zur Einführung eines Mindestlohns .. 16496 A 

Klaus Ernst (DIE LINKE) 16496 A 

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) 16497 B 

Andrea Nahles (SPD) 16498 B 

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) 16499 A 

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16500 C 

Frank Heinrich (CDU/CSU) 1 650 1 C 

Hubertus Heil (Peine) (SPD) 16503 A 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) 16504 D 

Jutta Krellmann (DIE LINKE) 16506 C 

Max Straubinger (CDU/CSU) 16508 A 

Anette Kramme (SPD) 16509 D 

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) ... 16511 B 


Tagesordnungspunkt 5: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- 
lung 

- zu dem Antrag der Abgeordneten 
Veronika Bellmann, Dirk Fischer (Ham- 
burg), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordne- 
ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie 
der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick 
Döring, Werner Simmling, weiterer Abge- 
ordneter und der Fraktion der FDP: Weiß- 
buch Verkehr - Auf dem Weg zu einer 
nachhaltigen und bezahlbaren Mobili- 
tät 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael 
Groß, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der 
SPD: EU-Weißbuch Verkehr - Neuaus- 
richtung der integrierten Verkehrspoli- 
tik in Deutschland und in der Europäi- 
schen Union nutzen 

- zu dem Antrag der Abgeordneten 
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, 
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter 
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN: Weißbuch Verkehr für Trend- 
wende der Verkehrspolitik in Deutsch- 
land und Europa nutzen 

(Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906, 


17/7679) 16512 D 

Veronika Bellmann (CDU/CSU) 16513 B 

Martin Burkert (SPD) 165 14 D 

Oliver Luksic (FDP) 16516 B 

Herbert Behrens (DIE LINKE) 16517 C 

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16518 C 

Karl Holmeier (CDU/CSU) 16519 C 

Florian Pronold (SPD) 16520 C 

Michael Groß (SPD) 16521 B 

Patrick Döring (FDP) 16522 C 

Alexander Ulrich (DIE LINKE) 16523 C 

Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16524 A 

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) 16525 A 


Tagesordnungspunkt 6: 

Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, 
Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Neskovic, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE 
LINKE: Widerruf der gemäß § 8 des Parla- 
mentsbeteiligungsgesetzes erteilten Zu- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


v 


Stimmungen zu den Anträgen der Bundes- 
regierung vom 28. Januar 2011 und 
23. März 2011 - Bundeswehr aus Afghanis- 


tan abziehen 

(Drucksache 17/7547) 16526 C 

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 16526 D 

Robert Hochbaum (CDU/CSU) 16527 D 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16528 A 

Johannes Pflug (SPD) 16529 B 

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) 16531 A 

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) 16531 C 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16532 D 

Dr. Rainer Stinner (FDP) 16533 C 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16533 D 

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) 16534 C 


Tagesordnungspunkt 7: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bun- 
desregierung eingebrachten Entwurfs eines 

Gesetzes zur Neuordnung des Pflanzen- 


schutzrechtes 

(Drucksachen 17/7317, 17/7369, 17/7671) . . 16535 C 

Alois Gerig (CDU/CSU) 16535 D 

Gustav Herzog (SPD) 16536 D 

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) 16538 C 

Alexander Süßmair (DIE LINKE) 16540 A 

Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16540 D 

Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) 16541 D 


Tagesordnungspunkt 8: 

Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, 
Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jetzt Voraus- 
setzungen für die Einführung eines Min- 


destlohns schaffen 

(Drucksache 17/7483) 16543 C 

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16543 D 

Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) 16544 C 

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) 16546 B 

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . 16546 C 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) 16547 C 


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16548 C 

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) .... 16549 C 

Michael Schlecht (DIE LINKE) 16550 B 

Ulrich Lange (CDU/CSU) 16551 A 

Michael Schlecht (DIE LINKE) 16552 B 

Ulrich Lange (CDU/CSU) 16552 C 

Ottmar Schreiner (SPD) 16552 D 

Max Straubinger (CDU/CSU) 16553 D 


Tagesordnungspunkt 9: 

Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung 
der Beteiligung bewaffneter deutscher 
Streitkräfte an der EU-geführten Opera- 
tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisie- 
rung des Friedensprozesses in Bosnien und 
Herzegowina im Rahmen der Implementie- 
rung der Annexe 1-A und 2 der Dayton- 
Friedensvereinbarung sowie an dem 
NATO-Hauptquartier Sarajevo und seinen 
Aufgaben, auf Grundlage der Resolution 
des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- 
nen 1575 (2004) und Folgeresolutionen 


(Drucksache 17/7577) 16554 D 

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister 

AA 16555 A 

Dietmar Nietan (SPD) 16556 B 

Thomas Kossendey, Pari. Staatssekretär 

BMVg 16557 C 

Inge Höger (DIE LINKE) 16558 C 

Katja Keul (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16559 C 

Florian Hahn (CDU/CSU) 16560 C 


Tagesordnungspunkt 10: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- 
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten 
Martin Gerster, Sönke Rix, Sabine Bätzing- 
Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion der SPD: Rechtsextremistische 
Einstellungen im Sport konsequent be- 
kämpfen - Toleranz und Demokratie nach- 


haltig fördern 

(Drucksachen 17/5045, 17/7597) 16561 C 

Dr. Christoph Bergner, Pari. Staatssekretär 

BMI 16561 D 

Martin Gerster (SPD) 16563 B 

Dr. Lutz Knopek (FDP) 16564 B 

Jens Petermann (DIE LINKE) 16565 B 



VI 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ 


DIE GRÜNEN) 16565 D 

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) 16566 D 

Sönke Rix (SPD) 16568 A 


Zusatztagesordnungspunkt 15: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- 
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- 
schäftsordnung: Antrag auf Genehmigung 
zur Durchführung eines Strafverfahrens 
(Drucksache 17/7682) 16568 D 


Tagesordnungspunkt 32: 

a) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Verteidigungsausschusses 

- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/ 

CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN: Ausgleich für Radar- 
geschädigte der Bundeswehr und 
der ehemaligen NVA 

- zu dem Antrag der Abgeordneten 
Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, 

Dr. h. c. Gemot Erler, weiterer Abge- 
ordneter und der Fraktion der SPD: 

Ausgleich für Radargeschädigte der 
Bundeswehr und der ehemaligen 
NVA voranbringen 

- zu dem Antrag der Abgeordneten 
Agnes Malczak, Katja Keul, Tom 
Koenigs, weiterer Abgeordneter und 
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN: Umfassende Entschädigung 
für Radarstrahlenopfer der Bundes- 
wehr und der ehemaligen NVA 

(Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, 

17/7553) 16568 D 

b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ver- 
teidigungsausschusses zu dem Antrag der 
Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer 
(Köln), Kathrin Vogler, weiterer Abgeord- 
neter und der Fraktion DIE LINKE: Um- 
fassende Entschädigung für Radar- 
strahlenopfer der Bundeswehr, der 
ehemaligen NVA und ziviler Einrichtun- 


gen 

(Drucksachen 17/5233, 17/6556) 16569 A 

Christian Schmidt, Pari. Staatssekretär 

BMVg 16569 B 

Ullrich Meßmer (SPD) 16570 C 


Burkhardt Miiller-Sönksen (FDP) 16572 A 

Harald Koch (DIE LINKE) 16573 A 

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16573 D 

Karin Strenz (CDU/CSU) 16574 D 


Tagesordnungspunkt 12: 

Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Ro- 
senheim), Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der SPD: 


Glücksspielsucht bekämpfen 

(Drucksache 17/6338) 16576 C 

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) 16576 D 

Karin Maag (CDU/CSU) 16577 D 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16579 B 

Frank Tempel (DIE LINKE) 16580 D 

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) 16581 D 

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16583 A 

Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) 16584 A 


Tagesordnungspunkt 15: 

a) Beratung der Unterrichtung durch den Par- 

lamentarischen Beirat für nachhaltige 
Entwicklung: Bericht des Parlamentari- 
schen Beirats über die Nachhaltigkeitsprü- 
fung in der Gesetzesfolgenabschätzung 
und die Optimierung des Verfahrens 
(Drucksache 17/6680) 16585 A 

b) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und 
Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung 
durch den Parlamentarischen Beirat für 
nachhaltige Entwicklung: Europäische 


Nachhaltigkeitsstrategie 

(Drucksachen 17/5295, 17/7678) 16585 A 

Daniela Ludwig (CDU/CSU) 16585 B 

Ingrid Arndt-Brauer (SPD) 16586 B 

Michael Kauch (FDP) 16587 C 

Ralph Lenkert (DIE LINKE) 16588 A 

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16589 A 

Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) 16590 A 

Florian Bemschneider (FDP) 16591 B 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


VII 


Tagesordnungspunkt 14: 

a) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Ausschusses für Ernährung, Landwirt- 
schaft und Verbraucherschutz zu dem An- 
trag der Abgeordneten Jan Körte, 

Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE 
LINKE: Ökosysteme schützen, Arten- 
vielfalt erhalten - Kormoranmanage- 
ment einführen 

(Drucksachen 17/5378, 17/5955) 16592 A 

b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz zu dem Antrag der Ab- 
geordneten Franz-Josef Holzenkamp, 

Peter Altmaier, Cajus Caesar, weiterer Ab- 
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU 
sowie der Abgeordneten Dr. Christel 
Happach-Kasan, Rainer Erdel, Angelika 
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion der FDP: Fischartenschutz vo- 
ranbringen - Vordringliche Maßnah- 


men für ein Kormoranmanagement 

(Drucksachen 17/7352, 17/7673) 16592 B 

Cajus Caesar (CDU/CSU) 16592 C 

Ute Vogt (SPD) 16594 C 

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) 16595 D 

Jan Körte (DIE LINKE) 16597 B 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16598 C 

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) 16599 C 

Jan Körte (DIE LINKE) 16600 A 


Tagesordnungspunkt 17: 

Erste Beratung des von der Bundesregierung 
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur 

Einrichtung und zum Betrieb eines bun- 
desweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen 
Frauen“ (Hilfetelefongesetz - Hilfetele- 


fonG) 

(Drucksache 17/7238) 16601 A 

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 16601 C 

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) .... 16602 D 

Sibylle Laurischk (FDP) 16603 D 

Cornelia Möhring (DIE LINKE) 16604 C 

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16605 C 

Norbert Geis (CDU/CSU) 16606 C 

Nicole Bracht-Bendt (FDP) 16607 C 


Tagesordnungspunkt 16: 

a) Beschlussempfehlung und Bericht des 
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und 
Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- 
geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Dorothea 
Steiner, Hans- Josef Fell, weiterer Abge- 
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN: Kein CASTOR-Trans- 
port nach Gorleben zu Lasten des 
Strahlenschutzes - Zwischenlagerung 
hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs- 
abfälle verursachergerecht neu gestal- 
ten 

(Drucksachen 17/7465, 17/7677) 16608 B 

b) Antrag der Abgeordneten Dorothee 
Menzner, Johanna Voß, Eva Bulling- 
Schröter, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion DIE LINKE: CASTOR-Trans- 
port 2011 nach Gorleben stoppen 


(Drucksache 17/7634) 16608 C 

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) 16608 C 

Kirsten Liihmann (SPD) 16609 D 

Angelika Brunkhorst (FDP) 16611 C 

Dorothee Menzner (DIE LINKE) 16612 C 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16613 C 

Judith Skudelny (FDP) 16614 B 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16614 C 

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) 16615 A 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16615 D 


Tagesordnungspunkt 18: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bun- 
desregierung eingebrachten Entwurfs eines 

Gesetzes über die Besetzung der Großen 
Straf- und Jugendkammern in der Haupt- 
verhandlung 

(Drucksachen 17/6905, 17/7276, 17/7669) .. 16617 A 


Tagesordnungspunkt 20: 

Erste Beratung des von der Bundesregierung 
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
zur Durchführung der Verordnung (EU) 
Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments 
und des Rates vom 16. Februar 2011 über 


die Bürgerinitiative 

(Drucksache 17/7575) 16617 C 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) 16617 C 

Gerold Reichenbach (SPD) 16618 C 



VIII 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Klaus Hagemann (SPD) 16619 B 

Jimmy Schulz (FDP) 16619 D 

Halina Wawzyniak (DIE LINKE) 16620 D 

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16621 B 


Tagesordnungspunkt 19: 

Antrag der Fraktion der SPD: Nachhaltige 
Entwicklung in Subsahara-Afrika durch 
die Stärkung der Menschenrechte fördern 

(Drucksache 17/7370) 16622 B 


Tagesordnungspunkt 22: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bun- 
desregierung eingebrachten Entwurfs eines 

Gesetzes zur Änderung von Vorschriften 
über Verkündung und Bekanntmachungen 


(Drucksachen 17/6610, 17/7560) 16622 C 

Di: Patrick Sensburg (CDU /CSU) 16622 C 

Di: Edgar Franke (SPD) 16623 C 

Mechthild Dyckmans (FDP) 16624 D 

Jens Petermann (DIE LINKE) 16625 B 

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16626 A 


Tagesordnungspunkt 21: 

a) Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, 

Dr. h. c. Gemot Erler, Petra Ernstberger, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der SPD sowie der Abgeordneten Agnes 
Malczak, Volker Beck (Köln), Marieluise 
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter 
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN: Gegen eine Aufweichung des 
Verbots von Streumunition 

(Drucksache 17/7637) 16627 A 

b) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Jan 
van Aken, Christine Buchholz, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion DIE 
LINKE: Streumunition nicht wieder zu- 
lassen - Gegen ein Protokoll über Streu- 


munition zum CCW 

(Drucksache 17/7635) 16627 A 

Uta Zapf (SPD) 16627 B 

Erich G. Fritz (CDU/CSU) 16628 C 

Inge Höger (DIE LINKE) 1 663 0 D 


Christoph Schnurr (FDP) 16631 C 

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16632 C 


Tagesordnungspunkt 24: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 
schusses für Kultur und Medien zu dem An- 
trag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP 
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gedenk- 
ort für die Opfer der NS-„Euthanasie“- 


Morde 

(Drucksachen 17/5493, 17/7596) 16633 D 

Marco Wanderwitz (CDU/CSU) 16634 A 

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 16634 C 

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) 16635 B 

Lars Lindemann (FDP) 16636 B 

Dr Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) 16637 A 

Claudia Roth ( Augsburg ) (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) .... 16638 A 


Tagesordnungspunkt 23: 

Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, 
Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 

Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen 
von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 


verlängern 

(Drucksache 17/7486) 16638 D 

Frank Heinrich (CDU/CSU) 16639 A 

Max Straubinger (CDU/CSU) 16639 C 

Ottmar Schreiner (SPD) 16640 B 

Sebastian Blumenthal (FDP) 16641 A 

Di: Martina Bunge (DIE LINKE) 16641 D 

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn 

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16642 B 


Tagesordnungspunkt 25: 

Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, 

Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer Abge- 
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN: Kontaminierte Kabinenluft in 
Flugzeugen unterbinden 

(Drucksache 17/7480) 16643 A 

in Verbindung mit 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


IX 


Zusatztagesordnungspunkt 6: 

Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim 
Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: 

Flugzeugbesatzungen und Reisende vor 
kontaminierter Kabinenluft schützen 


(Drucksache 17/7611) 16643 A 

Peter Wichtel (CDU/CSU) 16643 B 

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) 16644 B 

Hans-Joachim Hacker (SPD) 16645 C 

Torsten Staffel dt (FDP) 16647 A 

Thomas Lutze (DIE LINKE) 16648 A 

Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16648 C 


Tagesordnungspunkt 26: 

Antrag der Abgeordneten Sevim Dagdelen, 

Jan Körte, Matthias W. Birkwald, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeab- 
kommen - Assoziationsrecht wirksam um- 
setzen 

(Drucksache 17/7373) 16650 A 

in Verbindung mit 


Zusatztagesordnungspunkt 7: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- 
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten 
Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise 
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und 
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 
Visumfreie Einreise türkischer Staatsange- 
höriger für Kurzaufenthalte ermöglichen 


(Drucksachen 17/3686, 17/5989) 16650 B 

Michael Frieser (CDU /CSU) 16650 B 

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) 16651 B 

Serkan Toren (FDP) 16652 C 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE) 16653 D 

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16655 B 


Tagesordnungspunkt 27: 

Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- 
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten 
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, 
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter 
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 


NEN: Gutachten über die geplanten EU- 
Fluggastdatenabkommen mit den USA und 
Australien beim Gerichtshof der Europäi- 


schen Union einholen 

(Drucksachen 17/6331, 17/7676) 16656 A 

Clemens Binninger (CDU /CSU) 16656 B 

Wolfgang Gunkel (SPD) 16658 A 

Gisela Piltz (FDP) 16658 D 

Jan Körte (DIE LINKE) 16659 B 

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16660 A 

Nächste Sitzung 16661 C 


Anlage 1 

Liste der entschuldigten Abgeordneten 16663 A 


Anlage 2 

Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten 
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) zur Ab- 
stimmung über die Beschlussempfehlung zu 
dem Antrag: Fischartenschutz voranbringen - 
Vordringliche Maßnahmen für ein Kormoran- 
management (Tagesordnungspunkt 14 b) ... 16663 B 


Anlage 3 

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 
des Entwurfs eines Gesetzes über die Beset- 
zung der Großen Straf- und Jugendkammern 
in der Hauptverhandlung (Tagesordnungs- 


punkt 18) 

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) 16663 D 

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 16665 C 

Christoph Strässer (SPD) 16666 B 

Jens Petermann (DIE LINKE) 16667 D 

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16668 C 

Dr. Max Stadler, Pari. Staatssekretär bei der 

Bundesministerin der Justiz 16669 D 


Anlage 4 

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 
des Antrags: Nachhaltige Entwicklung in 
Subsahara-Afrika durch die Stärkung der 
Menschenrechte fördern (Tagesordnungs- 
punkt 19) 



X 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Frank Heinrich (CDU/CSU) 16670 C 

Klaus Riegert (CDU/CSU) 16672 A 

Christoph Strässer (SPD) 16673 C 


Marina Schuster (FDP) 16674 D 

Annette Groth (DIE LINKE) 16676 C 

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 16677 C 





Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16451 


139. Sitzung 


Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Beginn: 9.01 Uhr 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. 

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich 
begrüße Sie herzlich zur 139. Sitzung des Bundestages 
in dieser Legislaturperiode. 

Der Kollege Max Lehmer hat am 6. November sei- 
nen 65. Geburtstag gefeiert. Ich möchte ihm im Namen 
des ganzen Hauses dazu auch auf diesem Wege herzlich 
gratulieren und alles Gute für die nächsten 65 Jahre wün- 
schen. 

(Beifall) 

Die Kollegen Heidrun Dittrich und Andrej Hunko ha- 
ben ihre Schriftführerämter niedergelegt. Als neue 
Schriftführer schlägt die Fraktion Die Linke die Kolle- 
gen Ralph Lenkert und Sabine Stüber vor. Sind Sie da- 
mit einverstanden? 

(Zuruf) 

- Eine Vorstellung wäre denkbar, ist aber eigentlich 
nicht üblich. Ich nehme auch an, dass dazu allgemeines 
Einvernehmen besteht. - Das ist der Fall. Dann sind die 
beiden Kollegen hiermit gewählt. 

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver- 
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste 
aufgeführten Punkte zu erweitern: 

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der 
SPD: 

Nein zum Betreuungsgeld - Familien- und Bil- 
dungspolitik zukunftsfähig gestalten 

(siehe 138. Sitzung) 

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea 
Wicklein, Garreit Duin, Hubertus Heil (Peine), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden - 
Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand 
umsetzen 

-Drucksache 17/7610- 


Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Finanzausschuss 

Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss 

ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- 
fahren 

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ 
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines 
Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energie- 
wirtschaftsrechtlicher Vorschriften 

- Drucksache 17/7632 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank 
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Leitlinien für Transparenz und Umweltver- 
träglichkeit bei der Förderung von unkonven- 
tionellem Erdgas 

- Drucksache 17/7612 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 
Innenausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco 
Biilow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der SPD 



16452 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Präsident Dr. Norbert Lammert 

Monitoring für versenkte Atommüllfässer im 
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen 
weitere Strahlenexposition einleiten 

- Drucksache 17/7633 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- 
sprache 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und 
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag 
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth 
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeord- 
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN 

Der älter werdenden Gesellschaft gerecht wer- 
den - Barrieren in Wohnungen und im Wohn- 
umfeld abbauen 

-Drucksachen 17/7188, 17/7630 - 
B erichterstattung : 

Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) 

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE 
LINKE: 

Haltung der Regierungskoalition zur Einfüh- 
rung eines Mindestlohns 

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- 
Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz 
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der SPD 

Flugzeugbesatzungen und Reisende vor konta- 
minierter Kabinenluft schützen 

-Drucksache 17/7611 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) 
Ausschuss für Tourismus (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss 

Federführung strittig 

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, 
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 


Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö- (C) 
riger für Kurzaufenthalte ermöglichen 

- Drucksachen 17/3686, 17/5989 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Reinhard Grindel 
Daniela Kolbe (Leipzig) 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Ulla Jelpke 
Memet Kilic 

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus- 
Peter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter 
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der CDU/CSU 

sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, 

Dr. Hermann Otto Solms, Björn Sänger, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der FDP 

Ratingagenturen besser regulieren 

- Drucksache 17/7638 - 

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD 

Neuer Anlauf zur Finanzmarktregulierung er- 
forderlich 

- Drucksache 17/7641 - 

ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard 
Schick, Fritz Kuhn, Dr. Thomas Gambke, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN U ’ 

Einsetzung einer Kommission des Deutschen 
Bundestages zur Regulierung der Großbanken 

- Drucksachen 17/7359, 17/7665 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Björn Sänger 
Dr. Gerhard Schick 

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Hermann E. Ott, Viola von Cramon-Taubadel, 
Hans- Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

China als wichtiger Partner im Klimaschutz 

- Drucksache 17/7481 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 

Auswärtiger Ausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 

ZP 12 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ 

CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- 
setzes zur Wiedergewährung der Sonderzah- 
lung 

- Drucksache 17/7631 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Rechtsausschuss 

Verteidigungsausschuss 

Haushaltsausschuss 


ZP 8 


ZP 9 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16453 


Präsident Dr. Norbert Lammert 

(A) ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Euratom-Vertrag ändern - Atomausstieg eu- 
ropaweit voranbringen - Atomprivileg been- 
den 

-Drucksache 17/7670- 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 
Federführung strittig 

ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 

Schuldenfinanzierte Steuersenkungspläne der 
Bundesregierung - Folgen für künftige Gene- 
rationen und für die soziale Gerechtigkeit 

Dabei soll, wie immer, von der Frist für den Beginn 
der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen wer- 
den. 

Die Tagesordnungspunkte 11 und 13 werden abge- 
setzt. Anstelle von Tagesordnungspunkt 11 soll nun der 
Tagesordnungspunkt 32 beraten werden. Die Tagesord- 
nungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entspre- 
chend vor. Für den Tagesordnungspunkt 32 soll morgen 
der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Wieder- 
gewährung von Sonderzahlungen debattiert werden. 
Schließlich wird der Tagesordnungspunkt 33 abgesetzt 
und stattdessen der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die 
' ' Grünen zur Änderung des Euratom- Vertrages aufgeru- 
fen. Darf ich auch zu diesen zwischen den Fraktionen 
abgestimmten Veränderungen Ihr Einvernehmen fest- 
stellen? - Das ist der Fall. Dann ist das hiermit so be- 
schlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz- 
punkt 2 auf: 

3 Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Joachim Pfeiffer, Dr. Michael Fuchs, Kai 
Wegner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der CDU/CSU 

sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto 
Solms, Dr. Martin Lindner (Berlin), Claudia 
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der FDP 

Weniger Bürokratie und Belastungen für den 
Mittelstand - Den Erfolgskurs fortsetzen 

- Drucksache 17/7636 - 

Überweisungsvorschlag : 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Finanzausschuss 

Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss 


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea (C) 
Wicklern, Garreit Duin, Hubertus Heil (Peine), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Stagnation beim Bürokratieabbau überwinden - 
Neue Schwerpunktsetzung für den Mittelstand 
umsetzen 

- Drucksache 17/7610 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Finanzausschuss 

Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für 
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - 
Auch dazu gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann 
ist das so beschlossen. 

Wir beginnen mit dem Parlamentarischen Staatsse- 
kretär Burgbacher, dem ich hiermit das Wort erteile. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Ernst Burgbacher, Pari. Staatssekretär beim Bun- 
desminister für Wirtschaft und Technologie: 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Le 
Mittelstand Allemand“ - das ist in Frankreich zu einem 
Fachbegriff geworden, den die Franzosen voll Respekt ' 
verwenden. In vielen Ländern werden wir um unsere 
mittelständische Struktur beneidet. 

Wir alle sind uns wahrscheinlich einig, dass der Mit- 
telstand einen ganz wesentlichen Verdienst daran hatte, 
dass wir so gut aus der Krise herausgekommen sind. 
Mittelstand heißt: viele Familienunternehmer, die die 
Krise auch genutzt haben, um sich neu aufzustellen, die 
ihre Beschäftigten gehalten haben. Deshalb ist es ange- 
bracht, all diesen Unternehmerinnen und Unternehmern 
den Dank dieses Hauses für ihre Leistung zu sagen. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Ar- 
beitsplätze sind im Mittelstand. Über 99 Prozent der 
deutschen Unternehmen sind kleine und mittlere Unter- 
nehmen. Über 83 Prozent der Auszubildenden werden 
vom Mittelstand ausgebildet. Auch das ist etwas, um das 
uns eigentlich die ganze Welt beneidet. Das heißt, wir 
müssen den Mittelstand in Deutschland stärken; wir 
müssen alles dafür tun, dass er gestärkt wird, weil er das 
stabile Element in unserer Volkswirtschaft ist. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Meine Damen und Herren, wenn man zu Mittelständ- 
lern kommt und sie fragt, was sie von der Politik erwar- 
ten, dann heißt es häufig: Lasst uns arbeiten, gebt uns 
nicht ständig neue Regelungen, gängelt uns nicht! - Ge- 



16454 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Pari. Staatssekretär Ernst Burgbacher 

nau das ist das Markenzeichen der christlich-liberalen 
Regierung: Wir geben dem Mittelstand Freiraum. Wir 
entlasten den Mittelstand von Bürokratie. Wir lassen die 
Unternehmer arbeiten - das ist das, was sie wollen - und 
überziehen sie nicht ständig mit neuen staatlichen Vor- 
schriften. Im Gegenteil: Wir bauen Vorschriften ab; wir 
bauen Bürokratie ab. Das ist das Markenzeichen der 
Mittelstandspolitik dieser christlich-liberalen Regierung. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Es ist notwendig, dass wir den ordnungspolitischen 
Rahmen immer wieder überarbeiten, dass wir ihn an ak- 
tuelle Gegebenheiten anpassen. Wir können gute Erfolge 
vorweisen. Noch vor fünf Jahren hatte die deutsche 
Wirtschaft Bürokratielasten im Umfang von 50 Milliar- 
den Euro zu tragen. Wir haben diese Lasten um 
10,5 Milliarden Euro zurückgeführt. Ein Teil davon 
wurde in der Großen Koalition erreicht. Das waren aller- 
dings die Früchte, die niedrig hingen, die man nur zu 
pflücken brauchte. Wir haben jetzt eine weitere Reduzie- 
rung um 4,5 Milliarden Euro erreicht. Ich glaube, das ist 
nach zwei Jahren eine stolze Bilanz, die sich wirklich se- 
hen lassen kann. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Ich will einige ganz konkrete Beispiele nennen; ich 
beginne mit ELENA. ELENA war ein Vorhaben, das gut 
gemeint war, eigentlich ein Vorhaben, um Bürokratie ab- 
zubauen. Es hat sich aber gezeigt, dass es gerade für 
kleine und mittlere Unternehmen eher schwierig war, die 
Vorgaben zu erfüllen, dass es bei ihnen eines gewaltigen 
Aufwandes mit gewaltigen Kosten bedurfte, um diese 
Vorgaben zu erfüllen. Deshalb bin ich froh, dass der 
Deutsche Bundestag am 29. September beschlossen hat, 
ELENA auslaufen zu lassen, und zwar schon in diesem 
Jahr. Das ist ein gutes Zeichen für viele kleine und mitt- 
lere Unternehmen in Deutschland, 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

auch wenn wir natürlich darüber reden müssen, was wir 
mit den Daten machen und wie wir Dinge, die bereits ge- 
schehen sind, für die Zukunft nützen können. 

Ein zweites Beispiel: das Thema Vergaberecht. Bei 
öffentlichen Ausschreibungen müssen Unternehmen die 
Eignung nachweisen. Was wir getan haben: Es gibt jetzt 
ein deutlich vereinfachtes Verfahren für diesen Eig- 
nungsnachweis, was es gerade kleinen und mittleren Un- 
ternehmen leichter und auch kostengünstiger macht, an 
öffentlichen Ausschreibungen teilzunehmen. 

Ein drittes Beispiel. Wenn wir draußen im Land sind, 
bekommen wir alle etwas davon mit: die Klagen über 
EU-Vorgaben. Nun will ich deutlich sagen: Manchmal 
ist die Kritik ein Stück weit überzogen; die EU muss für 
vieles herhalten. Aber richtig ist, dass viele Bürokratie- 
lasten durch EU-Vörgaben entstehen. Deshalb haben wir 
den Koalitionsvertrag umgesetzt: Wir haben im Bundes- 
wirtschaftsministerium ein Frühwarnsystem für europäi- 
sche Regelungen eingerichtet. Dieses Frühwarnsystem 
wird ermöglichen, dass wir europäische Vorgaben nicht 
erst dann behandeln, wenn es zu spät ist, sondern dass 


wir jetzt schon im Anfangsstadium sehen, was aus Eu- 
ropa kommt, also rechtzeitig reagieren und handeln kön- 
nen. Auch das ist eine gute Nachricht für den Mittel- 
stand. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Ein biss- 
chen dünn bisher!) 

Schließlich, meine Damen und Herren, komme ich 
auf einen besonders wichtigen Punkt zu sprechen: Cor- 
porate Social Responsibility. Das unterstützen wir alle. 
Aber es kann nicht sein, dass die EU kleinen Unterneh- 
men Vorgaben für ausführliche Berichtspflichten macht. 
Dann wird aus dem gut gemeinten Projekt plötzlich wie- 
der neue Bürokratie. 

Deshalb sage ich auch für diese Bundesregierung: 
Wir werden das stoppen. Wir wollen Corporate Social 
Responsibility, aber rein nach dem Freiwilligkeitsprinzip 
und nicht durch neue bürokratische Vorschriften. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vieles hat diese Bundesregierung in den zwei Jahren 
getan. Der Mittelstand hat eine deutliche Entlastung er- 
fahren. Der Antrag weist weitere Punkte zu der Frage 
auf, was jetzt noch zu tun ist. 

Wir sind bei vielen Punkten in der Vorbereitung. Wir 
werden das Umsetzern Wir werden zeigen: Mittelstands- 
politik ist ein Kernstück dieser christlich-liberalen Re- 
gierung. Mittelstandspolitik heißt, Unternehmerinnen 
und Unternehmern endlich wieder die Luft zum Atmen 
zu geben und ihnen das zu ermöglichen, was sie am 
liebsten tun, nämlich etwas zu unternehmen. 

Dafür hat die Politik die richtigen Rahmenbedingun- 
gen zu setzen. Genau das machen wir. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Wicklein 
für die SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Andrea Wicklein (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Herr Burgbacher, in der Sache sind wir uns ei- 
nig: Natürlich müssen wir alles dafür tun, den Mittel- 
stand von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir sind 
uns auch einig, was die Bedeutung des Mittelstands be- 
trifft - gar keine Frage. 

Aber was ist eigentlich in den letzten zwei Jahren mit 
dem Regierungsprogramm Bürokratieabbau passiert? 
Sie haben nicht, wie vor fünf Jahren festgelegt, das 25-Pro- 
zent-Nettoabbauziel bei den Informations- und Statistik- 
pflichten erreicht. 

Auf europäischer Ebene, die in der Tat zu 50 Prozent 
für die bürokratischen Belastungen der deutschen Ge- 
setzgebung verantwortlich ist, ist seit zwei Jahren so gut 
wie gar kein Fortschritt erzielt worden. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16455 


Andrea Wieklein 

Für den neuen Ansatz, den Erfüllungsaufwand in aus- 
gewählten Bereichen zu verringern, wie durch das NKR- 
Gesetz im März 2011 festgelegt, haben Sie gerade ein- 
mal ein Handbuch vorgelegt. Ansonsten geht nach wie 
vor die Umsetzung dieses wichtigen politischen Ziels 
leider nur sehr schleppend voran. Insgesamt stagniert 
also die Umsetzung des Regierungsprogramms. 

Ich schaue mich um und frage mich: Was ist eigent- 
lich mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Bü- 
rokratieabbau? Fragen Sie einmal in unserem Land, wer 
Eckart von Klaeden in dieser Funktion kennt! 

(Zuruf von der CDU/CSU: Er sitzt da!) 

- Jetzt sehe ich ihn. Er sitzt auf der Regierungsbank - 
ganz versteckt. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er leistet hervor- 
ragende Arbeit!) 

- Herr Hinsken, fragen Sie im Land, ob jemand den Bü- 
rokratiebeauftragten der Bundesregierung kennt! 

(Ernst Burgbacher, Pari. Staatssekretär: Ab- 
bau! - Zurufe von der CDU/CSU: Bürokratie- 

abbaubeaufiragten ! ) 

Dann merken Sie: Fehlanzeige! Niemand kennt ihn. Kei- 
ner weiß, dass es einen Bürokratieabbaubeauftragten der 
Bundesregierung gibt. 

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: 

Edmund Stoiber ist das! - Gegenruf des Abg. 

Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau! 

Dann kam Kelber! Dann hat man Bürokratie 

aufgebaut!) 

Dabei war die Große Koalition vor fünf Jahren sehr 
eindrucksvoll gestartet. In sehr kurzer Zeit gelang es, 
den Normenkontrollrat zu etablieren, das Standardkos- 
tenmodell einzuführen, die drei Mittelstandsentlastungs- 
gesetze zu verabschieden und so innerhalb relativ kurzer 
Zeit die Belastung der Wirtschaft durch unnötige Büro- 
kratie um 20 Prozent abzubauen. Erreicht werden sollten 
aber bis Ende 2011 25 Prozent. 

(Kai Wegner [CDU/CSU]: Bis Ende 2011?) 

Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren sind verbindli- 
che Abbauziele. Ich frage daher die Bundesregierung 

- dazu haben Sie, Herr Staatssekretär, nicht viel gesagt -: 
Wie wollen Sie innerhalb der kurzen Zeit, also innerhalb 
der uns verbleibenden drei Sitzungswochen, noch die 
fehlenden Entlastungsmaßnahmen im Umfang von 
2 Milliarden Euro im Bundestag beschließen? 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Das funktioniert also nicht. Folglich können wir 
schon heute kritisieren, dass Sie das versprochene Ab- 
bauziel nicht erreichen werden. 

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das müssen wir mal festhalten!) 

In der Tat erwartet der deutsche Mittelstand von der 
Bundesregierung eine sehr schnelle Umsetzung des Ab- 
bauziels. 


Wir erwarten natürlich, dass Sie nächstes Jahr eine 
neue Zielmarke für Bürokratieabbau setzen. Oder wollen 
Sie etwa 2012 den Bürokratieabbau ad acta legen? Auch 
bei der Umsetzung des NKR-Gesetzes muss gehandelt 
werden. Die Bundesregierung muss die Kosten, die 
durch die Rechtsanwendung entstehen, schnell bewerten 
und den Bürokratieabbau zu einem eigenständigen Poli- 
tikziel entwickeln. Dazu brauchen wir ein festes quanti- 
tatives Abbauziel. 

Wir stellen fest: Auf EU -Ebene ist die Kommission 
nach wie vor nicht bereit, den Bürokratieabbau von ei- 
nem unabhängigen Gremium bewerten zu lassen. Das ist 
sehr bedauerlich; denn so wie in Deutschland Bürokra- 
tiekosten nach einheitlichen Maßstäben erfasst und in ei- 
nem komplexen Prozess bewertet werden, müsste das 
ebenfalls auf EU-Ebene passieren. Wir brauchen einen 
europäischen Normenkontrollrat, der Regelungsvorha- 
ben der EU schon in der Frühphase auf mögliche Büro- 
kratiekosten hin kontrolliert. 

(Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: 

Das macht alles der Edmund Stoiber!) 

Wie eben aufgezeigt, gibt es seit zwei Jahren einen 
Stillstand beim Bürokratieabbau, und das ist fatal, ge- 
rade im Hinblick auf die wirtschaftlichen Herausforde- 
rungen, vor denen wir stehen. Wir müssen alles unter- 
nehmen, um unnötige Kosten zu senken, damit sich die 
Unternehmen auf ihre Kemkompetenzen konzentrieren 
können. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regie- 
rungsfraktionen, sicherlich ist Ihnen das auch aufgefal- 
len. Deshalb haben Sie jetzt kurz vor Toresschluss einen 
Antrag formuliert. In ihm fordern Sie Ihre eigene Regie- 
rungsmannschaft endlich zum Handeln auf. Festzustel- 
len ist aber: Dieser Antrag kommt zu spät, erst Ende 
2011. Ich frage Sie: Warum nicht früher? Warum nur ein 
Antrag? Warum haben Sie nicht gleich ein viertes und 
ein fünftes Mittelstandsentlastungsgesetz vorgelegt? 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil wir es ma- 
chen, Frau Kollegin Wicklern! Wir machen es 

ja!) 

- Bei insgesamt 24 Forderungen, Herr Hinsken, hätten 
Sie doch genügend Material für einen solchen Entwurf 
parat gehabt. Sie machen es vielleicht irgendwann. Aber 
warum haben Sie es bis jetzt nicht getan? Sie hatten 
lange genug Zeit. Zwei Jahre sind vertan worden. 

(Beifall bei der SPD) 

In der Tat gibt es viel zu tun. Ein Blick in den aktuel- 
len Jahresbericht des Normenkontrollrats reicht. Darin 
sind ernstzunehmende Empfehlungen enthalten. Deshalb 
fordern wir: 

Erstens. Beenden Sie schnellstens den Stillstand beim 
Bürokratieabbau! Bauen Sie das bisher erfolgreiche Re- 
gierungsprogramm besonders für kleine und mittlere 
Unternehmen weiter aus, und erweitern Sie es für die 
Bürgerinnen und Bürger! 

Zweitens. Überprüfen Sie endlich die Bürokratiekos- 
ten von EU-Richtlinien, und entwickeln Sie gemeinsam 



16456 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Andrea Wicklern 

(A) mit anderen EU-Ländern Strategien zum Bürokratieab- 
bau und zu weiteren Vereinfachungen! Wirken Sie mit 
Nachdruck auf die Europäische Kommission ein, und 
bestehen Sie auf einer plausiblen Abschätzung der Büro- 
kratiekosten aller Gesetzesvorschläge! 

Drittens. Bringen Sie neuen Schwung in das E-Govern- 
ment! Achten Sie darauf, dass es zu einem Abbau unnö- 
tiger Bürokratie genutzt wird! ln der Vergangenheit 
führte die mangelhafte Abstimmung zwischen den 
Ministerien teilweise zu mehr statt zu weniger Bürokra- 
tie. Auch die Koordinierung mit den Bundesländern 
muss an dieser Stelle verbessert werden. 

(Beifall bei der SPD) 

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der 
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion, wenn Sie unsere bei- 
den Anträge nebeneinander legen, dann können Sie fest- 
stellen, dass es bei den Forderungen viel Übereinstim- 
mung gibt. Es ist schön, dass Sie dem von uns 
eingeschlagenen Weg folgen wollen. Auch beim Tempo 
und bei der konsequenten Umsetzung sollten Sie sich 
wieder mehr an uns orientieren. Das hat in der Großen 
Koalition ganz gut funktioniert. 

Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, 
legen Sie endlich ein schlüssiges, in die Zukunft gerich- 
tetes Konzept vor! Beschließen Sie verbindliche Ziele 
für die Zeit ab 2012! Setzen Sie Beschlüsse um! Ich bin 
gespannt, ob diese Bundesregierung dazu überhaupt 
noch in der Lage ist. 

^ (Beifall bei der SPD) 

Unser Mittelstand kann sich keine weiteren Verzögerun- 
gen beim Bürokratieabbau leisten. Machen Sie endlich 
Nägel mit Köpfen, 

(Claudia Bögel [FDP]: Machen wir doch!) 

und investieren Sie in den Bürokratieabbau! Der Mittel- 
stand und die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnen 
danken. 

Ganz herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Kai Wegner ist der nächste Redner für die CDU/CSU- 
Fraktion. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Kai Wegner (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dies ist ein 
guter Tag, ein guter Morgen für kleine und mittelständi- 
sche Unternehmen in unserem Land. Wir beraten zur 
besten Zeit hier im Deutschen Bundestag, zur Kernzeit, 
das Thema Bürokratieabbau. 

(Rainer Briiderle [FDP]: Es ist auch richtig 
voll hier!) 


Das zeigt, liebe Frau Wicklern, welchen Stellenwert wir 
diesem Thema in dieser Koalition geben. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP - Ulrich Kelber [SPD]: Symbolpoli- 
tik!) 

Liebe Frau Wicklern, hätten Sie dem Staatssekretär 
Burgbacher gerade zugehört, dann hätten Sie die Rede 
so, wie Sie sie gerade gehalten haben, glaube ich, nicht 
halten können. 

Bürokratie kostet Zeit und Geld. Beides sind entschei- 
dende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit in unserem 
Land. Die christlich-liberale Koalition hat sich zum Ziel 
gesetzt, die Belastungen durch Bürokratie so weit wie 
möglich abzubauen, insbesondere für den deutschen 
Mittelstand. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Wenn wir über Bürokratieabbau in Deutschland spre- 
chen, verwenden wir immer gerne Bilder. Ich vergleiche 
ihn stets mit einem Marathonlauf: Am Start ist man vol- 
ler Energie, und man bewältigt den größten Teil der Stre- 
cke problemlos, bis es anfängt, wehzutun. Dann darf man 
nicht aufgeben. Man muss alle vorhandenen Kraftreser- 
ven nutzen, um die Ziellinie zu erreichen. Liebe Kolle- 
ginnen und Kollegen, wir haben einen großen Teil un- 
serer Strecke geschafft. Wir werden diesen Weg 
konsequent weitergehen. Wir müssen allerdings aufpas- 
sen - diesbezüglich haben Sie recht, Frau Wicklern -, 
dass wir uns durch neue Regulierungen den Weg nicht 
zusätzlich erschweren. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Noch vor fünf Jahren mussten die Unternehmen in 
Deutschland rund 50 Milliarden Euro im Jahr für Büro- 
kratiekosten aufwenden. Inzwischen sparen sie jährlich 
deutlich über 10 Milliarden Euro ein. Wir werden diesen 
Weg weitergehen und über die Informationspflichten hi- 
naus auch den sogenannten Erfüllungsaufwand reduzie- 
ren. Die Zahlen beweisen es: Wir sind auf dem richtigen 
Weg. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei der 
Bundesregierung und beim Bundeswirtschaftsminister 
bedanken. Insbesondere möchte ich mich bei unserem 
Staatsminister Eckart von Klaeden für seine beharrliche 
und erfolgreiche Arbeit bedanken. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Ernst 
Hinsken [CDU/CSU]: Aufstehen!) 

Liebe Frau Wicklein, wenn Sie von dieser erfolgreichen 
Arbeit nichts mitbekommen haben, dann ist das nicht 
das Problem der Koalition, sondern Ihr Problem. Wir 
sind fest davon überzeugt, dass Herr von Klaeden eine 
gute Arbeit leistet, die er fortsetzen wird. 

Einen Dank möchte ich auch den Mitgliedern des Na- 
tionalen Normenkontrollrates aussprechen. Der Nor- 
menkontrollrat ist mit seinen Stellungnahmen und Anre- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16457 


Kai Wegner 

(A) gungen stets ein guter und wichtiger Begleiter bei 
unseren Bemühungen, Bürokratiekosten zu reduzieren. 
Herrn Dr. Ludewig möchte ich an dieser Stelle ganz 
herzlich danken, natürlich auch seinen Mitstreiterinnen 
und Mitstreitern. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN - Christine Scheel 
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem kann 
man schon danken! Sie müssen nur umsetzen, 
was er vorschlägt!) 

Gerade in turbulenten Zeiten von Wirtschafts- und Fi- 
nanzkrisen sind wir verpflichtet, die Bedingungen für 
unternehmerisches Handeln in Deutschland weiter zu 
verbessern. Nur so kann die deutsche Wirtschaft in Eu- 
ropa die Konjunkturlokomotive bleiben. Unternehmerin- 
nen und Unternehmer sollen sich auf ihr eigentliches 
Kemgeschäft konzentrieren können. Sie sollen innovativ 
sein und im wahrsten Sinne des Wortes etwas unterneh- 
men. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in der Lage sind, 
mehr in ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu investieren 
anstatt in häufig überflüssige Bürokratie. Nur ein ausge- 
wogenes Verhältnis von individueller Freiheit und staat- 
lichen Rahmenvorgaben gibt zusätzliche Impulse für 
kleine und mittlere Unternehmen, für das Handwerk und 
den Handel und schafft somit Wachstum und Beschäfti- 
gung. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Der Bürokratieabbau hat den Charme, dass er im Ge- 

(B) gensatz zu manch anderen Maßnahmen nichts kosten 
muss - ein wahres Konjunkturprogramm zum Nulltarif. 
Deshalb ist uns dieses Thema so wichtig. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Dazu soll unser Antrag einen Beitrag leisten. Wir ha- 
ben in diesem Antrag einen umfangreichen Katalog an 
Maßnahmen vorgeschlagen, der weniger Bürokratie und 
weniger Belastung für den Mittelstand bringen soll. 

Mit den ersten beiden Forderungen halten wir die 
Bundesregierung an, ihr Programm „Bürokratieabbau 
und bessere Rechtsetzung“ fortzuschreiben und zu inten- 
sivieren. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch mehr Pa- 
pier!) 

Wir erwarten auch Maßnahmen, damit das Thema Büro- 
kratieabbau nach dem Erreichen des 25-Prozent-Ziels 
seine Dynamik behält. 

Unsere Maßnahmen müssen in der Tat zu spürbaren 
Entlastungen für die Wirtschaft, für die Verwaltung, für 
die Bürgerinnen und Bürger führen. Niemandem ist ge- 
holfen, wenn wir stets vorrechnen, wie stark die Belas- 
tungen bereits gesunken sind, ohne dass die, die davon 
profitieren sollen, diese Entlastungen spüren. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 


Daher fordern wir zum Beispiel, die gesetzlichen (C) 
Aufbewahrungsfristen für Unternehmen und private 
Haushalte im Handels-, Steuer- und Sozialrecht zu ver- 
einheitlichen und endlich zu verkürzen. 

(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU]) 

Zugleich sollen die steuerlichen Betriebsprüfungen zeit- 
lich näher zum Veranlagungsjahr stattfinden, damit das 
mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen harmo- 
niert. 

Diese Maßnahmen werden die Mittelständler, die 
Handwerker, aber auch private Personen spüren und er- 
fahren. Sie können dann getrost den einen oder anderen 
Aktenordner und Papierstapel wegwerfen oder vernich- 
ten. Das schafft Platz im Lager und im Regal, und das 
entlastet die Unternehmen spürbar. Deswegen wollen 
wir da ran. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Unter den vielen weiteren wichtigen Forderungen im 
Antrag zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau 
möchte ich eine Forderung besonders erwähnen. Unter- 
nehmerinnen und Unternehmer aus Berlin haben mir 
mehrfach berichtet, wie zeitraubend es ist, immer und 
immer wieder die gleichen Daten und Informationen 
über das eigene Unternehmen an verschiedene Verwal- 
tungen und unterschiedlichste öffentliche Einrichtungen 
melden zu müssen. Daraus entstand die Idee, in Zusam- 
menarbeit mit dem Statistischen Bundesamt ein Konzept 
zu erarbeiten, welches die öffentlichen Verwaltungen 
verpflichtet, bereits gemeldete Daten zu nutzen, bevor (^) 
Unternehmer erneut aufgefordert werden, öffentlich zu- 
gängliche Angaben gegenüber der Verwaltung zu wieder- 
holen. Mit einem solchen Konzept werden wir erreichen, 
dass Unternehmen zukünftig nur noch einmal ihre Daten 
melden müssen und die Verwaltungen diese Daten im 
Bedarfsfall im Austausch nutzen. Auch damit wäre ein 
großer Schritt in Richtung spürbarer Entlastung - zeitlich 
und finanziell - erreicht. 

Ich möchte natürlich auch kurz auf den Antrag der 
SPD-Fraktion eingehen. Sie bescheinigen uns, dass wir 
beim Bürokratieabbau erfolgreich sind, dass wir unsere 
Ziele bisher erreicht haben und dass das sehr eindrucks- 
voll ist. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Das genaue Gegenteil 
steht dort! Lesen wäre schon angebracht! - 
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nicht mal 
Applaus von den eigenen Leuten!) 

Es freut mich natürlich sehr, dass Sie das in Ihrem An- 
trag so formulieren, liebe Kolleginnen und Kollegen der 
SPD. Was allerdings Ihre Forderungen im Einzelnen be- 
trifft, bin ich schon enttäuscht. 

(Zurufe von der SPD: Oh!) 

Ich muss wieder einmal feststellen, dass Sie dem Regie- 
rungshandeln hinterherlaufen. Sie fordern beispiels- 
weise, in Zukunft beim Bürokratieabbau auch Entlastun- 
gen für Bürgerinnen und Bürger stärker ins Auge zu 
fassen. Das passiert doch bereits, zum Beispiel durch die 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Kai Wegner 

(A) Projekte „Einfacher zum Studierenden-BAfoG“, „Einfa- 
cher zum Wohngeld“ oder „Einfacher zum Elterngeld“. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Erklären Sie 
doch einmal das Betreuungsgeld!) 

Ein weiteres Beispiel: Sie fordern, die Methodik zur 
Berechnung des Erfüllungsaufwandes in das Bürokratie- 
abbauprogramm aufzunehmen. Dies ist mit Inkrafttreten 
des Leitfadens zur Ermittlung und Darstellung des Erfül- 
lungsaufwands in Regelungsvorhaben der Bundesregie- 
rung bereits geschehen. Sie sehen: Wir sind auf dem 
richtigen Weg. 

(Andrea Wicklein [SPD]: Aber nicht umge- 
setzt!) 

Wir bauen Bürokratie ab. 

Ich komme zum Schluss meiner Rede zum Bild des 
Marathonlaufs zurück. Wir sind gut gestartet, haben ei- 
nen Großteil der Strecke bewältigt, sind aber noch nicht 
am Ziel. Deshalb bleibt der Abbau von überflüssiger Bü- 
rokratie auch in den nächsten Jahren eine Daueraufgabe. 
Wir werden insbesondere kleine und mittlere Unterneh- 
men von Belastungen durch Bürokratie, von Einschrän- 
kungen der Handlungsfähigkeit und von unnötigen Kos- 
ten befreien. 

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Das ist nur eine Absichtserklärung!) 

Unser Ziel bleibt es, den Mittelstand zu entfesseln, um 
damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land zu 
schaffen. 

(B) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Nur eine Absichtserklärung! Nichts da- 
hinter!) 

Ich freue mich auf die weitere Debatte und danke für 
Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Marathon- 
mann!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Diether Dehm für 
die Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): 

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und 
Herren! Kleine und mittelständische Unternehmen stellen 
79 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäf- 
tigungsverhältnisse und 82 Prozent der Ausbildungs- 
plätze. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland 
sind kleine und mittlere; sie generieren aber nur 39 Pro- 
zent des Umsatzes. Ein Grund dafür ist, dass Schwarz- 
Gelb zwar sonntags vom Mittelstand redet, aber werktags 
an der Leine der Exportkonzerne trottet. 

Wir brauchen nicht nur pauschal entbürokratisierende 
Maßnahmen - keinesfalls brauchen wir eine unbürokra- 
tische Milliardenhilfe für Banken! Was wir brauchen ist: 
unbürokratischen Einsatz für mehr Binnennachfrage. 

(Beifall bei der LINKEN) 


Das ist das entscheidende Kraftpotenzial, das die kleinen (C) 
und mittleren Unternehmen brauchen. 

Herr Wegner, auch wenn Sie sich hier gerühmt haben: 

Ein weiterer Nachteil bleibt der bürokratiebedingte Auf- 
wand der KMU. Auf Kleinunternehmen mit bis zu neun 
Beschäftigten entfallen pro Beschäftigten und Jahr 
64 Stunden und 4 361 Euro an rein bürokratiebedingtem 
Aufwand. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) 

Das entspricht einer Steigerung um 25 Prozent seit 1994. 

Bürokratismus kommt aber nicht nur von staatlichen 
Behörden wie einem Fiskus, der auch bei unverschuldeter 
Insolvenz immer noch viel zu stur exekutiert, nicht nur 
von der EU mit ihrer idiotischen Dienstleistungsrichtli- 
nie, sondern diese bürokratische bzw. bürokratistische 
Bevormundung liegt auch an der Macht der Konzerne, 
vor allem der Banken und Versicherungskonzerne, ge- 
genüber kleinen Unternehmen. Das fehlt im SPD-Antrag 
genauso wie im Koalitionsantrag. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben ja 
überhaupt keinen Antrag!) 

Schauen Sie sich einmal die verschlüsselten Versiche- 
rungsbedingungen und die unterschiedlichen, fast gegen- 
sätzlichen Einkaufs- und Verkaufsbedingungen von Kon- 
zernen an. Hier geht es nicht nur um unnötig komplizierte 
formale Regelungen. Hier geht es um die Ausübung 
nackter wirtschaftlicher Macht. Hier geht es darum, dass 
ein Teil der Wertschöpfung kleiner Unternehmen mittels 
rechtlicher Vormacht von großen Unternehmen angeeig- (D) 
net wird. Dagegen will die Linke eine demokratische Bü- 
rokratiekontrolle. Ich wiederhole: eine demokratische 
Bürokratiekontrolle. 

(Beifall bei der LINKEN - Christine Scheel 
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Oh! - 
Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wollen Sie wirk- 
lich mit uns über Demokratie reden?) 

Wir wollen die Überwachung und Einschränkung von 
allgemeinen Geschäftsbedingungen, nicht nur zum 
Schutz der Verbraucher, sondern auch zum Schutz der 
3,6 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die 
das Rückgrat unserer Wirtschaft sind. 

Nehmen wir das Supp ly Chain Management in der 
Automobilbranche. Das ist eine reine Abwälzung der 
wesentlichen Produktionsschritte durch den auftragge- 
benden Großkonzern auf den mittelständischen Zuliefe- 
rer, der den Druck seinerseits dann an noch kleinere Zu- 
lieferer weitergibt. Dadurch entsteht ein Preisdruck, der 
an Existenzen nagt. Die Erpressung durch Konzerne, die 
darin zum Ausdruck kommt, dass Zulieferer Innovatio- 
nen in großem Umfang vorfinanzieren müssen, was ihre 
eigene Finanzierungskraft übersteigt, gehört überwun- 
den. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Michael Fuchs 
[CDU/CSU]: Genau! Alles verstaatlichen!) 

Wenn dann der Auftraggeber die Zahlungen verzögert, 
geht wieder ein Zulieferer pleite. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Diether Dehm 

(A) Welche Bürokratie verlangen BMW und Daimler, be- 
vor sie einen Reparaturbetrieb vor Ort lizenzieren! Die 
Produkte, die die Konzerntore verlassen, ob Pkw oder 
Monitore, sind häufig kurzlebig; ihre Lebensdauer über- 
steigt oft nur knapp die Garantiezeit. Die Linke will da- 
rum eine Reparaturoffensive unbürokratischer Art. Kon- 
zerne müssen gezwungen werden - das ist dann 
notwendige Bürokratie -, wieder reparaturfreundlich zu 
produzieren, damit jeder Handwerker unbürokratisch re- 
parieren kann, 

(Beifall des Abg. Dr. llja Seifert [DIE 
LINKE]) 

weniger Module weggeworfen werden, mehr Stoffe ge- 
spart und mehr Arbeitsplätze, auch in infrastruktur- 
schwachen Regionen, geschaffen werden. Eine Repara- 
turoffensive ist für unser Handwerk das Gebot der 
Stunde. 

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. 

Ulrich Kelber [SPD]) 

Das heißt: mehr Freiheit für Kleinunternehmen und we- 
niger Freiheit für Konzerne und Banken. Das ist die 
Lösung, die die Linke übrigens auch in ihrem Parteipro- 
gramm festgeschrieben hat. Die Linke ist so mittel- 
standsfreundlich wie keine andere Partei und setzt sich 
für kleine und mittlere Unternehmen ein. 

(Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken 
[CDU/CSU]: Was? Sie und Mittelstand? Da 
fallen mir ja die restlichen Haare aus!) 

Es wäre jetzt naheliegend, auf die Banken und ihr 
^ ' Kerngeschäft zu verweisen. Wer einmal einen Kreditan- 
trag bei einer großen privaten Bank ausgefüllt hat, weiß, 
was Bürokratismus ist. Das ist entwürdigend und hat 
nichts mit den Sonntagsreden zu tun, die Sie gelegent- 
lich für KMU halten. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir tun was da- 
für!) 

Sparkassen und öffentliche Banken sind halt bessere 
Partner für das Handwerk und den Mittelstand - auf je- 
den Fall bessere Partner als die Ackermänner und die 
Deutsche Bank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Die Linke verschließt nicht die Augen vor dem Büro- 
kratismus. Hier ist sie die einzige Partei gegen bürokrati- 
sierende Konzerne und Großbanken. Sie schiebt das al- 
les nicht nur auf die öffentliche Hand, auf den Staat. Es 
ist ja teilweise wohlfeil, wie Sie den Staat hier immer auf 
die Anklagebank setzen, als ob der Staat der einzige Pro- 
duzent von Bürokratismus ist, während Sie die Konzerne 
und Großbanken dabei außen vor lassen. 

Die Linke will eine antimonopolistische Deregulie- 
rung. Das ist die Regulierung, die wir brauchen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Eiserne Regeln für die Ackermänner und die Finanz- 
märkte, weniger Druck auf die kleinen und mittleren Un- 
ternehmen, das ist das Gebot der Stunde. Das hat durch- 
aus mit Antikapitalismus zu tun, aber auch mit starken 


kleinen privaten Unternehmern, die wir wollen - libri- (C) 
gens auch im Sozialismus. 

(Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken 
[CDU/CSU]: Donnerwetter: Mittelstand und 
Sozialismus!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Christine 
Scheel, Bündnis 90/Die Grünen. 

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Herr Dr. Dehm, zur Reparaturklausel. 

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Gute 
Idee!) 

Ich glaube, Sie müssen noch einmal darüber nachden- 
ken, 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Warum?) 

wie es funktionieren soll, dass die Arbeitsplätze im 
Handwerk dann auch erhalten bleiben. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da hat sie sogar 
recht! - Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: 

Wenn mehr repariert wird!) 

- Das haben wir schon verstanden. 

Ich würde ganz gerne einmal etwas aufgreifen, was in 
dem Antrag der CDU/CSU so schön geschrieben steht. 

Ich zitiere das gerade noch einmal: 

Gerade die mittelständische Wirtschaft als unver- 
zichtbarer Wachstums- und Beschäftigungsfaktor 
und Stabilitätsgarant in der globalisierten Welt sieht 
sich überproportionalen bürokratischen Lasten aus- 
gesetzt. 

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Stimmt!) 

Deren Sinnhaftigkeit und Zeitgemäßheit stehen 
vielfach zu Recht in Frage. Statt in die eigene Wett- 
bewerbsfähigkeit müssen die Unternehmen Zeit 
und Geld in häufig überflüssige Bürokratie „inves- 
tieren“. 

Sehr verehrte Damen und Herren von der Union, das ist 
völlig richtig. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen 
Sie in den letzten Jahren daraus gezogen haben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie der Abg. Andrea Wicklein [SPD] - Kai 
Wegner [CDU/CSU]: Eine ganze Menge! 

Über 10 Milliarden Euro!) 

Mit einem bestimmten zeitlichen Abstand legen Sie 
immer wieder einen schönen Antrag vor. Letztens haben 
Sie einen Antrag eingebracht, in dem Sie sich auch mit 
der Bürokratie und dem Mittelstand beschäftigt haben. 
Dieser Antrag enthielt, wenn ich mich recht erinnere, 

15 Punkte. Nur 4 davon sind umgesetzt bzw. beibehalten 
worden. Alles andere, was in dem Antrag stand, haben 
Sie weder gesetzgeberisch noch über Verordnungen auf 
den Weg gebracht. Das heißt, Anspruch und Wirklich- 
keit gehen bei dieser Koalition völlig auseinander. 



16460 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Christine Scheel 

(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Wir sind der Meinung, dass es nicht reicht, im Halb- 
jahresrhythmus eine unnötige Bauchpinselei zu betrei- 
ben, wenn man eine gewissenhafte und seriöse Politik 
für den Mittelstand machen will, sondern der Mittelstand 
hat zu Recht den Anspruch, dass Sie als Regierung etwas 
dafür tun, dass wirklich Bürokratie abgebaut wird. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das machen 
wir!) 

Hier nutzt es auch nichts, wenn man sagt: Wir haben den 
Mittelstand um 1 0 Milliarden Euro entlastet. - Auf dem 
Papier ja, aber in der Realität nein. 

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Warum?) 

Lieber Ernst Hinsken, wir sagen immer wieder: Das 
muss ankommen. Es ist zum großen Teil aber nicht an- 
gekommen, weil von diesem Entlastungsprogramm im 
Umfang von 10 Milliarden Euro ein ganz großer Teil 
noch nicht einmal umgesetzt worden ist; das ist die 
Wahrheit. Man kann deshalb nicht sagen: Das haben wir 
super gemacht. - Angepeilt wurde eine Reduzierung der 
Bürokratiekosten um 25 Prozent, ein großer Teil - die 
Kollegin der SPD hat das auch angesprochen - ist aber 
überhaupt nicht vollzogen. 

Wir fragen uns, wie Sie das bis zum Jahresende schaf- 
fen wollen. Sie haben keinen einzigen Antrag in dieses 
Parlament eingebracht, aus dem ersichtlich würde, dass 
ein Teil dieser Vorgaben, die Sie sich selbst gesetzt ha- 
(ß) ben, noch in dieser Jahresfrist angegangen wird. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Die Verbände - damit meine ich nicht nur die großen 
Verbände, sondern ich rede auch von denen, die vor Ort 
im Handwerksbereich oder im gewerblichen Bereich ak- 
tiv sind - sagen ganz klar, dass die versprochenen Leis- 
tungen dieser Regierung nicht bei ihnen angekommen 
sind. Man kann sich die einzelnen Beispiele anschauen. 

Thema ELENA. Aussagekräftig wird die Zahl von 
10 Milliarden Euro an eingesparten Bürokratiekosten 
erst dann, wenn man einmal das gegenrechnet, Herr 
Burgbacher, was Sie aufgrund des ständigen Hickhacks 
beim ELENA- Verfahren an Belastungen für die Unter- 
nehmen verursacht haben. Laut den Spitzenverbänden 
sind für die Wirtschaft etwa 300 Millionen Euro an Be- 
lastungen entstanden, weil Sie dieses Hickhack verur- 
sacht haben. Ergebnis: Das Verfahren wurde zwar nicht 
umgesetzt, aber die Belastung ist bei der Wirtschaft hän- 
gen geblieben. Solche Belastungen muss man berück- 
sichtigen, wenn man über Bürokratieabbau spricht. Das 
wäre eine ehrliche Aussage, aber das tun Sie leider nicht. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie der Abg. Andrea Wicklern [SPD]) 

Sie haben durch Doppelbelastungen Kosten verursacht. 
Auch das müssen Sie benennen. 

Der Normenkontrollrat - er ist auch aus unserer Sicht 
ein hervorragendes Gremium - sollte mit ein bisschen 


mehr Power in dem Sinne ausgestattet werden, dass er 
mehr Befugnisse bekommt. Der Normenkontrollrat hat 
gesagt: Diese Regierung hat noch keine konsistente 
IT-Strategie vorgelegt. Sie können nicht erwarten, dass 
ein Normenkontrollrat eine IT-Strategie zum Thema Ent- 
bürokratisierung entwickelt, sondern es ist die Pflicht 
und die Aufgabe dieser Koalition, das zu tun, damit der 
Normenkontrollrat prüfen kann, ob Sie das vernünftig 
umgesetzt haben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Bedauerlich ist auch, dass das Thema Forschungsfor- 
derung für den Mittelstand im Zusammenhang mit dem 
Bürokratieabbau überhaupt nicht mehr auftaucht. 

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Oh ja!) 

Dieses Thema hat sehr viel mit Bürokratieabbau zu tun. 
Wir wissen, dass die steuerliche Forschungsförderung 
- das zeigen uns die Beispiele aus anderen europäischen 
Ländern - für die Unternehmen mit Abstand die unbüro- 
kratischste Förderung in den Bereichen „Innovation“ 
und „Förderung von neuen Technologien“ ist. 

Sie haben uns von Anfang an versprochen - das steht 
auch im Koalitionsvertrag -, dass diese Forschungsför- 
derung kommen wird. Aber bis heute ist sie nicht umge- 
setzt. Auch dieses Thema gehört in einen solchen An- 
trag. Aber darum haben Sie sich wieder herumgemogelt. 
Sie reden ja nicht einmal mehr darüber. Hier sehen wir 
ein Manko; denn diese Art von Förderung würde eine 
wirkliche Entlastung bedeuten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Stichwort Bilanzierung. Es wurde auf der europäi- 
schen Ebene lange darüber diskutiert, dass eine Befrei- 
ung von kleinen GmbHs und kleinen Personengesell- 
schaften von der Pflicht zur Bilanzierung, ähnlich wie 
das bei Einzelkaufleuten hinsichtlich der Grenzwerte 
möglich ist, sehr viel helfen würde. Aber nein! Ich ver- 
mute einmal, dass sich der Steuerberaterverband an die- 
ser Stelle wieder durchgesetzt hat. Die Unternehmen, 
auch die ganz kleinen GmbHs mit wenig Umsatz, sind 
also verpflichtet, eine Bilanz vorzulegen, wofür sie im 
Durchschnitt 2 500 Euro zahlen. Dieses Geld würde in 
den kleineren Unternehmen, in GmbHs mit geringen 
Umsätzen, für Wichtigeres als für eine unnötige Bilan- 
zierung gebraucht. 

Wir wünschen uns, dass Sie hier endlich Farbe beken- 
nen. Die EU-Kommission hat geschätzt, dass es hier um 
6,3 Milliarden Euro geht. Das betrifft 5,3 Millionen Un- 
ternehmen auf der europäischen Ebene. Hier könnten Sie 
tätig werden, wenn Sie wollten; denn es ist möglich, 
dass Deutschland hier vorangeht. Wir müssen feststel- 
len, dass hierzu auf der europäischen Ebene zwar Vor- 
schläge gemacht worden sind. Sie aber dafür gesorgt ha- 
ben, dass es in Europa zu einer ganz eigenartigen 
Kompromisslösung gekommen ist, die uns bei diesem 
Problem nicht weiterbringt. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 201 1 


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Christine Scheel 

(A) Auch die Einführung einer Europäischen Privatge- 
sellschaft ist ein wichtiges Thema für den exportieren- 
den deutschen Mittelstand. Auch hierzu fehlt es in Ihrem 
Antrag an Vorschlägen, ganz abgesehen vom Thema 
Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Genehmigungsver- 
fahren, ganz abgesehen von der Frage der Entbürokrati- 
sierung bei Visumverfahren, ganz abgesehen davon, wie 
aus Ihrer Sicht ein wirklicher Bürokratieabbau vonstat- 
tengehen soll. 

Dafür braucht es eine Strategie. Auf diese Strategie 
wartet der Mittelstand zu Recht. Auf diese Strategie war- 
tet auch die Opposition, weil wir uns gerne damit aus- 
einandersetzen würden, was Sie im nächsten Jahr tun. 
Aber dazu braucht es nicht nur wohlfeile Worte, sondern 
eine Vorlage, aus der man das erkennt. 

Danke schön. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD - Volker 
Kauder [CDU/CSU]: Sie sind ja leider nicht 
mehr dabei! - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: 

War das die Abschiedsrede? Dann hätte ich 
mitgeklatscht!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Die Kollegin Claudia Bögel erhält jetzt das Wort für 
die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP) 

Claudia Bögel (FDP): 

(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! 90 Prozent der Weltbevölkerung - davon bin 
ich fest überzeugt - würden gerne mit dem deutschen 
Elend tauschen: Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig 
wie seit 20 Jahren nicht. Die Wirtschaft ist robust, der 
Umsatz stetig. Die Binnennachfrage steigt, den Men- 
schen geht es gut. 

Wir alle wissen: Das liegt an den mittelständischen 
Unternehmen, die mit Fleiß, Erfindergeist und sozialver- 
antwortlichem Handeln wesentlich zu unserem Erfolg 
beitragen. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE 
LINKE]: 15 000 Insolvenzen jedes Jahr!) 

Das liegt aber auch an der Politik, die in den vergange- 
nen Jahren die richtigen Impulse gesetzt hat. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt! Davon 
profitieren wir seit zwei Jahren!) 

Die kleinen und mittleren Unternehmen haben mit Risiko- 
und Leistungsbereitschaft Wachstum, Wohlstand und 
Innovation in Deutschland gesichert. Der Erfolgskurs des 
Mittelstandes muss gefestigt werden. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Wir halten keine Sonntagsreden; 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber ja! Sie 
haben 15 000 Insolvenzen!) 


wir handeln. Wir müssen die Unternehmen weiterhin (C) 
deutlich von Bürokratie entlasten. Stichworte dazu sind 
zum Beispiel Steuervereinfachung, Beschleunigung von 
Planungs- und Genehmigungsverfahren, Frühwarnsys- 
teme für EU-Regulierung und anwenderfreundliche 
elektronische Behördendienste. 

Die vordringlichste Aufgabe dabei ist, die Rahmenbe- 
dingungen für unsere mittelständische Wirtschaft konti- 
nuierlich zu verbessern und den Fokus auf die Entfaltung 
von Wettbewerb zu legen, weg von bürokratischen Hin- 
dernissen, weg von ökologischer Diktatur 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist 
denn eine ökologische Diktatur? - Kerstin 
Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das 
würde mich auch interessieren, was eine öko- 
logische Diktatur ist!) 

und weg von sozialistischer Zwangsregulierung hin zum 
Dialog mit der Politik, zum Handeln und Mitarbeiten zu- 
gunsten weniger Bürokratie. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Wie besang es schon Reinhard Mey vor vielen Jahren 
so schön: 

Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars, 
zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschrift- 
exemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Be- 
zugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim 
zuständigen Erteilungsamt. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Singen! - (D) 

Ulrich Kelber [SPD]: Zu dem Zeitpunkt hat 
die FDP regiert!) 

Gottlob, davon sind wir nun um einige Längen entfernt. 

Wir sind aber noch lange nicht am Ziel. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Frau Kollegin Bögel, der Kollege Dehm würde gerne 
der Sache mit dem Antragsformular nachgehen. 

Claudia Bögel (FDP): 

Nein. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Die Vorlesung darf 
nicht unterbrochen werden!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Naja, dann eben nicht. 

Claudia Bögel (FDP): 

Ein Weg dorthin ist die freiwillige Betriebsprüfung mit 
nur einem Abschlussbericht - das spart Zeit und Geld - 
oder der Abbau von Hindernissen für die elektronische 
Kommunikation mit der Verwaltung. Das gesetzlich vor- 
gesehene Ungetüm mit dem Namen „Schriftformerforder- 
nis“ ist sicherlich kein Erfordernis, sondern eher ein Hin- 
dernis. Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen für 



16462 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Claudia Bögel 

(A) Unternehmen und private Haushalte können wir vereinfa- 
chen, indem wir das Handels-, Steuer- und Sozialrecht 
vereinheitlichen und verkürzen. 

Die Entlastung durch Bürokratieabbau in Wirtschaft, 
Verwaltung und bei den Bürgerinnen und Bürgern be- 
läuft sich schon jetzt nachweislich auf 10 Milliarden 
Euro jährlich, nicht zuletzt durch die Stärkung des Nor- 
menkontrollrates und durch bessere Rechtsetzung. Das 
Ziel lautet: Reduktion der Bürokratiekosten für die Wirt- 
schaft um 25 Prozent. 

Jedes Verfassungsorgan kann seit Beschluss der Ko- 
alition seine Initiativen dem Nationalen Normenkon- 
trollrat zuleiten. Diese Initiative wird dazu führen, dass 
es demnächst zum guten Ton gehört, sich bei der Ein- 
bringung von Gesetzesinitiativen erst der Expertise des 
NKR zu bedienen. 

Dies sind nur einige Beispiele, bei denen Bürokratie 
abgebaut und Geld gespart werden kann. Das ist Geld, 
das der Mittelstand besser zu investieren weiß. Zahlrei- 
che Maßnahmen des Programms „Bürokratieabbau und 
bessere Rechtsetzung“ wurden bereits umgesetzt. Der 
Mittelstand braucht von der Politik ein klares Bekenntnis 
zur sozialen Marktwirtschaft, weg von sozialistischen 
Zwangsregulierungen. Der Mittelstand braucht von der 
Politik klare Vorgaben und nicht noch mehr Papierbögen 
und Durchschläge. Der Mittelstand braucht von der Poli- 
tik ein klares Bekenntnis zu einem gesunden Verhältnis 
von staatlichen Rahmenvorgaben und individueller Frei- 
heit. 

(B) 

Gesellschaftliche Verantwortung ist, auch wirtschaft- 
lich gesehen, ein Erfolgsfaktor für den Mittelstand und 
wird durchaus gezielt eingesetzt, um die Wettbewerbsfä- 
higkeit zu stärken. Dies muss in jedem Fall auf dem 
Prinzip der Freiwilligkeit basieren. 

Diese Koalition wird auch weiterhin neue Freiräume 
schaffen und Chancen für Investition und Beschäftigung 
eröffnen. Ein Zentralkomitee, das dem Mittelstand die 
Vorgaben diktiert, das wollen wir nicht. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE 
LINKE]: Oh, klasse!) 

Der Mittelstand ist unser Garant für Leistung, Innova- 
tion und Fortschritt. Wir werden unseren Erfolgskurs so- 
mit fortsetzen und die Unternehmen durch weiteren Bü- 
rokratieabbau in ihrer Leistungskraft stärken, für noch 
mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze, für noch mehr 
Innovationen und für noch mehr Fortschritt und Wachs- 
tum. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dehm 
das Wort. 


Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): 

Ich hätte Ihnen lieber eine Zwischenfrage gestellt; 
aber Sie wollten das ja nicht zulassen. 

Sie haben am Anfang Ihrer Rede sinngemäß gesagt: 
Viele Mittelständler anderer Kontinente würden gerne in 
dem Elend bei uns leben. Dann sprachen Sie von der 
Überwindung der ökologischen Diktatur. Beides veran- 
lasst mich dazu, Sie, erstens, zu bitten, über die Gefahr 
der Inflationierung des Wortes Diktatur nachzudenken, 

(Emst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie ja 
auch gesagt!) 

und, zweitens, dem Hohen Hause zu erklären, was Sie 
mit „ökologischer Diktatur“ meinten und damit, dass es 
sehr viele Menschen auf anderen Kontinenten gebe, die 
gerne in diesem - in Anführungszeichen - „Elend“ bei 
uns leben würden. 

(Beifall bei der LINKEN - Ernst Hinsken 
[CDU/CSU]: Recht intelligent war die Frage 
ja nicht!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Bitte, zur Erwiderung. 

Claudia Bögel (FDP): 

Herr Dehm, ich habe nicht davon gesprochen, dass 
der europäische Mittelstand oder wer auch immer hier in 
unserem Elend leben möchte. Ich habe nur gesagt: Ich 
bin der festen Überzeugung, dass 90 Prozent der Ange- 
hörigen der Staaten in unserer Welt mit unserem deut- 
schen Elend - das habe ich ironisch gemeint; ich sage 
das, damit es Ihnen verständlich wird - zufrieden wären. 
Es wundert mich immer wieder, wenn die Opposition 
hier behauptet, in welchem Elend wir hier angeblich le- 
ben; denn das kann ich absolut nicht feststellen. 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt kommt 
die ökologische Diktatur!) 

- Ökologische Diktatur, das ist ein Aufzwingen anderer 
Lebensweisen auf jeden Menschen in dieser Republik, 
und das möchte ich nicht. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Dr. Diether Dehm [DIE 
LINKE]: Das ist Diktatur! Da klatschen sie 
auch noch! - Gegenruf des Abg. Ernst 
Hinsken [CDU/CSU]: Das haben Sie davon, 
dass Sie so dumm gefragt haben!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Schwarzeliihr- 
Sutter für die SPD-Fraktion. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Stichwort 
Ökodiktatur: Sie haben wohl noch nie etwas von Mese- 
berger Beschlüssen, Klimawandel und ökologischer 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Rita Schwarzelühr-Sutter 

(A) Wende - was hat Ihre Regierung erst in diesem Frühjahr 
beschlossen? - gehört. Mir gefällt jedoch das Schlag- 
wort von der antimonopolistischen Deregulierung. Ich 
verweise auch auf das von Herrn Burgbacher angespro- 
chene Laisser-faire. 

Nach Max Weber ist eine moderne Bürokratie ein ef- 
fizientes Mittel, um das Zusammenleben einer Vielzahl 
von Menschen zu organisieren. Transparenz schützt vor 
Willkür. Sie verhindert Korruption und Günstlingswirt- 
schaft. Beamte halten sich natürlich an fixierte Regeln. - 
So weit die Theorie. Bürokratie als funktionierende Ver- 
waltung ist in einem Staatswesen somit sinnvoll und not- 
wendig. 

(Beifall bei der SPD) 

Bürokratismus dagegen belastet Bürgerinnen und 
Bürger und vor allem Unternehmen. Jedem von uns, der 
an die Steuererklärung denkt, treibt es die Schweißtrop- 
fen auf die Stirn. Für Unternehmen ist Bürokratie nicht 
nur Aufwand, sondern bedeutet auch erhebliche Kosten. 
Darüber hinaus bringen übermäßige Regelungen und 
Vorschriften für deutsche Unternehmen Nachteile im in- 
ternationalen Wettbewerb. Der Mittelstand, besonders 
das Handwerk, kämpft mit der überbordenden Bürokra- 
tie. Die Betriebe wollen sich auf ihre produzierende Tä- 
tigkeit konzentrieren und sich nicht mit unproduktiven 
Lasten herumschlagen. 

Die knappen Personalressourcen müssen da einge- 
setzt werden, wo sie produktiv sind, nicht für unproduk- 
tive Bürokratie. Manchmal braucht man sogar Fach- 
(ß) kräfte, um die Bürokratie zu bewältigen. Neben 
Personalkosten entstehen auch Sachkosten, die nicht un- 
erheblich sind. Zehntausende von Nachweis-, Dokumen- 
tations- oder Berichtspflichten müssen Unternehmen er- 
füllen. Bürokratismus bedroht die Rentabilität und 
Innovationskraft von kleinen und mittleren Unterneh- 
men und besonders von Handwerksbetrieben. 

Auch wenn man bedenkt, dass der Aufwand für unnö- 
tige und überflüssige Bürokratie von 2006 bis jetzt um 
ungefähr 10 Milliarden Euro abgebaut werden konnte, 
sollten Sie das nicht schönreden. Es fehlen immer noch 
einige Milliarden Euro, bis das 25-Prozent-Ziel dieser 
Regierung erreicht ist. Die anfänglich beim Bürokratie- 
abbau spürbare Dynamik hat zuletzt erkennbar nachge- 
lassen. Typisch für diese Koalition: Sie ist kraft- und 
saftlos. Ich will als ein Beispiel die E-Bilanz nennen. 
Man geht in der Zwischenzeit davon aus, dass eine 
Mehrbelastung von insgesamt 3,15 Milliarden Euro auf 
den Mittelstand zukommt. Gut gemeint ist nicht gut ge- 
macht. 

(Beifall bei der SPD) 

Eine Onlineumfrage des Baden-Württembergischen 
Handwerkstages von Anfang dieses Jahres hat im Übri- 
gen ein interessantes Ergebnis hervorgebracht. Nur 
27 Prozent der Handwerker, die sich an der Umfrage be- 
teiligt haben, haben das Gefühl, dass sie tatsächlich ent- 
lastet werden. 

Ich möchte auf ein aktuelles und besonders ärgerli- 
ches Exempel von grenzüberschreitendem Bürokratis- 


mus eingehen. Herr Burgbacher, ich schaue einmal in (C) 
Ihre Richtung. Sie kennen es; die Schweiz liegt nicht 
weit von Ihrem Wahlkreis entfernt. In der Schweiz müs- 
sen deutsche Handwerker eine Kaution von 5 000 bis 
10 000 Franken hinterlegen. 

(Birgit Homburger [FDP]: Das haben die 
Schweizer entschieden!) 

- Das hat die Schweiz entschieden, und die Bundesre- 
gierung wollte das - Herr Briiderle hat das versichert - 
bilateral klären. Sie hat aber leider nichts zustande ge- 
bracht. 

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Versagt!) 

Viel versprochen, wenig realisiert. 

(Beifall bei der SPD) 

Hier geht es den Handwerkern tatsächlich an den Kra- 
gen. Sie müssen nämlich zum einen eine Kaution hinter- 
legen -jetzt gibt es auch eine Bürgschaft; die muss man 
natürlich bezahlen - und zum anderen bei einer Lohndif- 
ferenz von zum Beispiel nur 35 Franken, die vielleicht 
anfällt, eine Strafe von 1 500 Franken bezahlen. Für 
kleine und mittlere Handwerksunternehmen ist das eine 
Katastrophe. 

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Bun- 
desregierung guckt zu! - Ulrich Kelber [SPD]: 

Das will Herr Brüderle nicht hören!) 

Sie feiern heute Ihre vermeintlichen Erfolge, gleichzeitig 
wird an anderen Stellen ein Bürokratiemonster aufge- 
baut. Da hilft der Satz: „Wir lassen die Unternehmen at- (D) 
men“ wenig. Nein, die Unternehmen brauchen Unter- 
stützung und müssen wirklich entlastet werden. 

(Beifall bei der SPD) 

Wir wollen keine Markteintrittsbarrieren, und wir 
brauchen auch auf europäischer Ebene eine Entlastung. 

Ein bloßes Bekenntnis, sich auch bei europäischen 
Rechtsetzungsverfahren für ein geringes Maß an Büro- 
kratie einzusetzen, ist zu wenig. Unternehmen wollen 
sich auf eine einfache und qualitativ hochwertige Recht- 
setzung verlassen können. Deshalb brauchen wir einen 
europäischen Normenkontrollrat. Die Grundprinzipien 
einer guten Gesetzgebung sind Transparenz, Verantwort- 
lichkeit, Verhältnismäßigkeit, Konsistenz und Zielerrei- 
chung. Mit der Zielerreichung hapert es bei Ihnen. 
Würde sich nämlich die Bundesregierung an diese Prin- 
zipien halten, würden nicht immer neue Bürokratien ent- 
stehen. 

Die schwarz-gelbe Regierung muss nun endlich mit 
dem Emst machen, was sie hier ankündigt, um in den 
verbliebenen zwei Jahren tatsächlich noch zu dem Ziel 
zu kommen, das sie uns versprochen hat. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Das Wort erhält nun der Kollege Andreas Lämmel für 
die CDU/CSU-Fraktion. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Präsident Dr. Norbert Lammert 

(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 

der FDP) 

Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 
ren! Der berühmte deutsche Raketentechniker Wernher 
von Braun wurde einmal auf die Auswüchse der Büro- 
kratie auf seiner Arbeitsstelle in der NASA angespro- 
chen, und er sagte den folgenden Spruch: Wir können 
die Schwerkraft mit unserer Technologie überwinden, 
aber der Papierkram erdrückt uns. 

Das ist das Gefühl, das auch sehr viele Unternehmer 
und Bürger mit dem Thema Bürokratie verbinden. Büro- 
kratie ist ein sehr emotional diskutiertes Thema, und in 
den letzten Jahren - hierbei schaue ich in die Reihen der 
Grünen; Frau Scheel hat sich vorhin so ereifert - und 
insbesondere zu rot-grünen Zeiten eierte man beim 
Thema Bürokratieabbau hin und her und brachte nichts 
zustande. Die Grundlagen, die wir mit dem Nationalen 
Normenkontrollrat gelegt haben, hatte man damals noch 
nicht. Man konnte die Bürokratiekosten gar nicht richtig 
beziffern. Deswegen muss man doch festhalten - und 
das wird seitens der Opposition durchaus gewürdigt 
dass wir beim Abbau der Bürokratie in Deutschland seit 
2006 einen riesigen Sprung gemacht haben. 

Den Bürokratieabbau an sich kann man durch Gesetz 
befehlen, aber letztendlich muss ein Bewusstseinswan- 
del eintreten. Jeder muss sich immer wieder klarmachen, 
dass zusätzliche Bürokratie die Wirtschaft und die Bür- 

(B) ger belastet. Deswegen muss jeder, der über Gesetzes- 
texte oder Verordnungen nachdenkt, auch das Thema 
Bürokratieabbau im Hinterkopf haben. Ein solcher Be- 
wusstseinswechsel ist jedoch nicht innerhalb eines Jah- 
res erreichbar, sondern ein mittel- und langfristiger Pro- 
zess. 

Blicken wir doch einmal kurz zurück. Als wir 2006 in 
der Großen Koalition mit dem Bürokratieabbau Ernst 
machten, waren andere Länder schon weiter. 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hedge- 
fonds!) 

Zum Beispiel hatten die Holländer schon viele Erfahrun- 
gen mit dem Bürokratieabbau gesammelt, und auch in 
Schweden und Großbritannien war man schon viel wei- 
ter. Aber jetzt, nach der Arbeit der letzten fünf Jahre, ist 
Deutschland eindeutiger Spitzenreiter, und zwar erstens 
hinsichtlich der theoretischen Grundlagen des Bürokra- 
tieabbaus und zweitens hinsichtlich dessen, was wir bis- 
her wirklich geschafft haben. Das bescheinigt uns auch 
der Nationale Normenkontrollrat in seinem fünften Jah- 
resbericht, den er im September vorgelegt hat. Insofern 
können Sie dies nicht einfach ignorieren. 

10 Milliarden Euro an Bürokratiekosten sind der 
deutschen Wirtschaft nachweisbar erspart worden. Es 
sind zwar immer noch 40 Milliarden Euro, die auf der 
Wirtschaft lasten, aber 10 Milliarden Euro Einsparungen 
sind ein erstes Pfand, das wir in der Hand haben, um auf 
diesem Wege weiterzugehen. 


Die Europäische Union hat noch lange nicht den (C) 
Stand erreicht, den wir in Deutschland erreichen konn- 
ten. Wir haben mehrere Mittelstandsentlastungsgesetze 
gemacht und damit die deutsche Wirtschaft entlastet. 

(Andrea Wicklein [SPD]: In der Großen Koali- 
tion!) 

Wenn man sich den Bericht anschaut, findet man sehr 
interessante Zahlen: Trotz eines Abbaus von 10 Milliar- 
den Euro an Bürokosten, sind 1 500 neue Informations- 
pflichten über Gesetze eingeführt worden. Jetzt muss 
man natürlich den Saldo berechnen; das ist ganz klar. 

Der Nationale Normenkontrollrat beziffert die Entlas- 
tung auf 8,5 Milliarden Euro und die Mehrbelastung auf 
1 Milliarde Euro. Somit kommt er zu ungefähr 7,5 Mil- 
liarden Euro an direkter Entlastung. 

Man hat in den letzten fünf Jahren auch ziemliche 
Ausschläge im Gesetzgebungsprozess erlebt. Wir haben 
zum einen das Steuervereinfachungsgesetz 2011, das aus 
Sicht des Nationalen Normenkontrollrats zu 4,05 Mil- 
liarden Euro Entlastung geführt hat. Zum anderen hat 
beispielsweise das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz 
eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro gebracht. Im 
Gegenzug - und das ist hoch kritisch - hat das Gesetz 
zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie eine ein- 
zige Branche mit Bürokratiekosten in Höhe von einer 
halben Milliarde Euro belastet. 

Man muss also immer genau hingucken, wenn man 
über das Thema spricht: Was steht auf der positiven 
Seite? Was steht auf der negativen Seite? 

Auf der wirklich positiven Seite der letzten fünf Jahre (^) 
steht die Aussage des Nationalen Normenkontrollrats, 
dass sich die Qualität der ausgearbeiteten Gesetzent- 
würfe deutlich verbessert hat. Meine Damen und Herren, 
es ist doch schon ein Wert an sich, wenn sich die Recht- 
setzung auch mithilfe der Arbeit des Nationalen Nor- 
menkontrollrats verbessert hat. 

Natürlich gibt es noch Baustellen; das ist doch ganz 
klar. Schließlich befinden wir uns mitten im Prozess. 

Erstens. Ein Beispiel ist die Spürbarkeit des Abbaus. 

Das ist ständig Thema, und wenn wir mit unseren aus- 
ländischen Freunden reden, sagen uns diese, dass es bei 
ihnen nicht anders ist. Es ist nun einmal so: Wenn eine 
Informationspflicht wegfällt, merkt das Unternehmen 
dies nicht unbedingt. Denn das Unternehmen wartet 
nicht darauf, dass das Statistikamt oder sonst irgendje- 
mand einen Fragebogen schickt, den es auszufüllen hat, 
um seiner Informationspflicht nachzukommen. Aber die 
Spürbarkeit des Abbaus - das stellt der Nationale Nor- 
menkontrollrat ganz klar fest - muss noch verbessert 
werden. Einige diesbezügliche Vorhaben stehen ja auch 
in unserem Antrag. Wenn wir diese Vorhaben umsetzen, 
dann wird auch die Spürbarkeit deutlich stärker werden. 

Zweitens. Die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger 
ist eine weitere Baustelle, die im Rahmen des Bürokra- 
tieabbaus jetzt auch in Angriff genommen werden muss. 

Wir müssen hier für weitere Beschleunigung sorgen. Das 
ist gar keine Frage. Aber die letzten 20 Prozent, wenn 
man schon 80 Prozent der Themen abgeräumt hat - das 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16465 


Andreas G. Lämmel 

wissen auch Sie genau zu verwirklichen, stellt einen 
wirklich großen Schritt dar. 

Drittens. Wir müssen erfassen, wie der Stand der Er- 
füllung der Vorhaben ist. 

Fassen wir einmal alles zusammen. Aus dem Bericht 
des Nationalen Normenkontrollrates geht ganz klar her- 
vor: Das System funktioniert. Die Rechtsetzung ist bes- 
ser geworden. Der Bürokratieabbau ist im Fluss. Wir ha- 
ben mit dem Normenkontrollrat ein hochmodernes 
Instrument geschaffen, um das uns manche andere Parla- 
mente und Regierungen beneiden. 

Wir wollen deswegen auf diesem Wege weitergehen. 
Ich bitte Sie ganz einfach, unseren vorliegenden Antrag 
zu unterstützen. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächste Rednerin ist die Kollegin Johanna Voß für 
die Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Johanna Voß (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Meine Damen und Herren von der Koalition, einen schö- 
nen Titel haben Sie gewählt: „Weniger ... Belastungen 
für den Mittelstand“. Wunderbar! 

(Kai Wegner [CDU/CSU]: Danke schön!) 

Dafür sind wir auch; doch die Wirklichkeit sieht ganz 
anders aus. Der Mittelstand und insbesondere Handwer- 
kerinnen und Handwerker wollen, dass ihre Probleme 
ernst genommen und sie tatsächlich entlastet werden. 
Leider weigern Sie sich, die Probleme überhaupt zu se- 
hen. Das ergibt sich ganz klar aus den Antworten auf die 
Kleine Anfrage, die Kolleginnen und Kollegen von mir 
und ich zu den Handwerkskammern gestellt haben. 

Der Beweis: In der Antwort auf unsere Kleine An- 
frage schreiben Sie: 

Die Bundesregierung sieht bei den Handwerkskam- 
mern keine Missstände. 

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Selbstverwal- 
tung der Kammern ist ein hohes Gut. Das heißt aber 
nicht, dass man keine Kritik üben darf. Ohne Kritik 
keine Verbesserungen. Verbesserungsbedarf gibt es 
zweifellos. 

Ein Beispiel sind die Regelungen zu den Handwerks- 
kammerbeiträgen: Hier herrscht ein richtiger Paragra- 
fendschungel. Da steht: Nur Personen, die eine gewerbli- 
che Tätigkeit nach § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 der 
Handwerksordnung ausüben und unter § 90 Abs. 3 fal- 
len, müssen gemäß § 113 Abs. 2 Satz 4 bis 5 200 Euro 
Jahresgewinn keinen Beitrag zahlen, wenn laut § 90 
Abs. 4 - folgen Sie mir noch? - die Tätigkeit erstmals 
nach dem 31. Dezember 2003 angemeldet wurde. - Al- 
les verstanden? 


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] : Kann 
man gar nicht! - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: 

Ja, aber dafür können die Kammern nichts! 

Das haben wir gemacht! - Gegenruf des Abg. 

Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja 
das, was sie gerade sagte!) 

- Das ist es ja. - Ich mache es einmal einfach: De facto 
sieht die Handwerksordnung nämlich keine Beitragsbe- 
freiung vor, egal ob Betriebe kaum Gewinne oder gar 
Verluste machen. Ganz paradox ist, dass häufig ein Be- 
trieb, der keinen Gewinn macht, denselben Beitrag be- 
zahlen muss wie ein Betrieb, der 20 000 Euro Jahresge- 
winn ausweist; denn der Grundbeitrag ist in vielen 
Handwerkskammern einheitlich, während die Freigren- 
zen für Zusatzbeiträge meist zwischen 10 000 und 
20 000 Euro liegen. Das ist ungerecht. Das geht an der 
Wirklichkeit vorbei. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wir brauchen gerechtere Beitragsordnungen, kleine und 
Kleinstbetriebe müssen entlastet werden. Der Beitrag 
muss an die Leistungsfähigkeit angepasst werden. Das 
wäre das Minimum, was hier zu leisten wäre. 

Ich komme zu einem zweiten Punkt: die Wahlord- 
nung. Sie antworten auf unsere Anfrage: 

Als Regelfall geht die ... Wahlordnung aber von 
der Zulassung von mehreren Wahlvorschlägen und 
der Durchführung einer Briefwahl aus. 

So weit, so gut. Seit 1953 - da trat die Handwerksord- 
nung erstmals in Kraft - wird nun alle fünf Jahre in jeder 
der 53 Handwerkskammern die Vollversammlung ge- 
wählt. Wissen Sie, wie oft tatsächlich mehrere Wahlvor- 
schläge zugelassen wurden, das heißt, wie oft wirklich 
eine Briefwahl stattgefunden hat? Ich kann es Ihnen sa- 
gen: im Ganzen dreimal. 

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was? So häu- 
fig?) 

Auch Sie könnten merken, dass die Handwerksordnung 
in diesem Punkt den Praxistest nicht bestanden hat. Da 
muss etwas geändert werden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wir wollen selbstverständlich Handwerkskammern, 
die gut funktionieren, Kammern, die die Handwerkerin- 
nen und Handwerker entlasten und nicht belasten. Dazu 
braucht man Wahlen, bei denen jede und jeder eine 
Chance hat, zu kandidieren. Bisher ist es nicht so. Bisher 
müssen komplette Listen eingereicht werden, die noch 
dazu einen bestimmten Proporz für die Gewerke und den 
genauen Proporz für die Regionen einhalten müssen. 
Das ist so aufwendig, dass nur die bestvernetzten Be- 
triebe die Listenaufstellung überhaupt drucken können. 
Die anderen bleiben außen vor. Sorgen Sie dafür, dass 
sich hier etwas bessert! 

Wie ernst die Lage für viele Handwerkerinnen und 
Handwerker ist, zeigen zahlreiche Briefe, die meine 
Fraktion bekommen hat. Zum Beispiel heißt es in einem 
Newsletter von friseur-intern im September dieses Jah- 
res: Im Gegensatz zu CDU/CSU und FDP, die sich stets 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Johanna Voß 

(A) als Sprachrohr für das Handwerk sehen, greift die Links- 
fraktion den Unmut vieler Handwerksbetriebe auf. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ich empfehle Ihnen: Öffnen Sie die Augen für diese 
Probleme! Sie sind es doch, die in jeder Sonntagsrede 
das Hohelied auf das Handwerk singen. Geben Sie But- 
ter bei die Fische! Tun Sie etwas! Nicht die Bürokratie 
insgesamt soll abgebaut werden, sondern der Bürokratis- 
mus. Wir brauchen eine Handwerksordnung. Wir brau- 
chen eine Regelung für den Beitrag, aber bitte eine ver- 
nünftige und verständliche. 

Ich danke Ihnen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächste Rednerin ist die Kollegin Lena Strothmann 
für die CDU/CSU-Fraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Lena Strothmann (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe 
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Voß, ich will 
meine Redezeit nicht dafür verwenden. Ihnen zu antwor- 
ten. Aber als Handwerkerin will ich Ihnen gerne einmal 
in einer stillen Stunde erklären, wie wir Handwerker die 
Vorzüge der Selbstverwaltung des Handwerks sehen. 

(Rainer Briiderle [FDP]: Das kennen die nicht 
von der Produktionsgenossenschaft! - Gegen- 

(B) ruf der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE]: Das 
war sehr praktisch!) 

Ein Handwerksbetrieb hat im Durchschnitt acht Mit- 
arbeiter: den Meister, die Gesellen und die Auszubilden- 
den. ln der Regel übernimmt die Ehefrau die Buchfüh- 
rung, und eine Personal- und Rechtsabteilung gibt es in 
unseren Betrieben nicht. Statistische Erhebungen, Mel- 
depflichten und die vielen zusätzlichen Dinge werden 
also von Mitarbeitern mit erledigt, die ansonsten Kosten- 
voranschläge bearbeiten oder Löhne berechnen. Jede zu- 
sätzliche Informations- und Dokumentationspflicht wird 
als echte Belastung empfunden. 

Nur um diese unnötigen Pflichten geht es bei dieser 
Bürokratiedebatte. Viele Regelungen sind im Sinne der 
sozialen Marktwirtschaft sogar notwendig. Nur geord- 
nete Strukturen ermöglichen erfolgreiches unternehmeri- 
sches Denken und sozialen Zusammenhalt. Aber unnö- 
tige Bürokratie kostet Zeit und Geld. 

Viele Rechtsgebiete sind durch ständige Veränderun- 
gen und politische Kompromisse unüberschaubar ge- 
worden. Unternehmer können Steuerrecht, Tarifrecht 
und Hygieneverordnungen ohne externen Rat oft über- 
haupt nicht mehr überblicken. 

Wir alle sind für Bürokratieabbau. Jeder beklagt sich. 
Aber leider übersteigt oft - das ist meine Wahrnehmung - 
die Angst vor Veränderung das Interesse an Erneuerung 
in unserem Land. Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit 
zu leisten. Denn leider ist die öffentliche Wahrnehmung, 
was die Abschaffung von Bürokratie angeht, sehr gering. 


Es gibt viele Pflichten, die für die Unternehmen keinen (C) 
Mehrwert haben. Insgesamt übernehmen die deutschen 
Unternehmen 651 Tätigkeiten, für deren Kosten sie al- 
lein aufkommen. Die Rahmenbedingungen für erfolgrei- 
ches Unternehmertum orientieren sich aber an Auftrags- 
lage, Fachkräften, Investitionen usw. 

Die Wirtschaftslage in unserem Land ist im Augen- 
blick gut, auch im Handwerk. Aber möglicherweise 
kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Deshalb ist die 
Entlastung unserer Betriebe so wichtig, vor allem bei 
den Dingen, die den Staat nichts kosten. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten hier 
aktiv auf zwei Ebenen: zum einen Abbau von Bürokratie 
bei bestehenden Gesetzen und zum anderen die Vermei- 
dung von Bürokratie bei neuen Gesetzen. Hier kommt 
dem Nationalen Normenkontrollrat eine wichtige Auf- 
gabe zu. Seine Einsetzung und die Behandlung des The- 
mas auf höchster Ebene, nämlich direkt im Kanzleramt, 
gehören meiner Meinung nach zu den Meilensteinen der 
politischen Entscheidungen in den letzten Jahren. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Über das Abbauziel von 25 Prozent haben wir vor 
fünf, sechs Jahren lange diskutiert. Uns war klar, dass 
diese Marke sehr anspruchsvoll ist. In den vergangenen 
Jahren haben wir viele Gesetze überprüft. Es gibt viele 
Erfolgsnachrichten - einige sind hier schon genannt 
worden -, auch für das Handwerk. 

Ich will Ihnen Beispiele nennen. Im MEG III haben 
wir damals die Grundlage für die Handwerkszählung ge- 
ändert. Mindestens 460 000 der 1 Million Handwerksbe- 
triebe haben davon profitiert. Das heißt, wir greifen nicht 
mehr auf direkte Erhebungen in den Betrieben zurück, 
sondern nutzen bereits vorliegende Verwaltungsdaten. 

Die erste Handwerkszählung fand im Sommer statt, und 
sie ist gut verlaufen. 

Ein zweites Beispiel. Auch die Entfristung bei der Ist- 
besteuerung ist ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Wir 
haben dauerhaft und deutschlandweit die Umsatzgrenze 
für die Istbesteuerung auf 500 000 Euro festgelegt. Das 
schafft Rechtssicherheit für die Unternehmen und Fi- 
nanzverwaltungen. 

Die Forderungen in unserem Antrag umfassen auch 
die Aufbewahrungsfristen. Aufbewahrt werden müssen 
Handelsbücher, Inventarlisten, Jahresabschlüsse, Lage- 
berichte, Zollanmeldungen usw. Das alles müssen Origi- 
nale sein; sie müssen feuer- und wasserfest gelagert wer- 
den, und das bis zu zehn Jahren. Die zusätzliche 
Lagerfläche ist mit Kosten verbunden. Die jährliche An- 
passung ist aufwendig. Im Grundsatz muss alles jeder- 
zeit den Behörden zur Verfügung stehen. Hier sehen wir 
großen Handlungsbedarf. 

Auch die Befreiung der Kleinstuntemehmer von der 
Bilanzierung ist unser Anliegen und einer der Kernvor- 
schläge auf EU-Ebene. Die EU will mit einem eigenen 
Bürokratieabbauprogramm die Verwaltungskosten bis 
2012 deutlich verringern. Auch hier ist das Ziel 25 Pro- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Lena Strothmann 

(A) zent; das entspricht 150 Milliarden Euro. Denn gerade 
die Bedeutung der kleinen und mittleren Betriebe ist in 
Europa angekommen. Think small first: Auch hier geht 
der KMU-Test auf europäischer Ebene in die richtige 
Richtung. Das betonen wir in unserem Antrag. Brüssel 
wird immer noch als Quelle überbordender Bürokratie 
wahrgenommen. Hier müssen wir sichtbarer vorankom- 
men, um die Akzeptanz der EU in diesem Bereich zu 
verbessern. 

Aber auch die Wirtschaft selbst ist gefragt. Im Be- 
reich der Normung funktioniert das bereits sehr gut. 
Normen ermöglichen den Betrieben, sich schnell und 
umfassend über Abläufe zu informieren. Der Austausch 
von Waren und Dienstleistungen erfordert europaweit 
einheitliche Vorschriften. Hier werden unzählige Einzel- 
bestimmungen vermieden. Die Weiterentwicklung im 
Bereich der Normung ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. 

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir haben viel 
zu tun, um Wirtschaft, Handwerk und Mittelstand von 
Bürokratie zu entlasten. Dazu braucht es viel Überzeu- 
gungskraft und Mut zu Entscheidungen. Ich lade Sie ein, 
daran mitzuwirken. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der 
Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. 

( B ) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ernst Hinsken (CDU/CSU): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen 
und Kollegen! Zunächst möchte ich einen Dank ausspre- 
chen, einen Dank an Staatsminister von Klaeden, aber 
auch an Sie, Herr Briiderle, weil Sie als Bundeswirt- 
schaftsminister dem Bürokratieabbau einen neuen Schub 
gegeben haben. Sie beide zusammen haben die notwen- 
digen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir schon 
heute positive Ergebnisse vorzeigen können. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mit welchem 
Gesetz? Mit der Hotelsteuer oder was?) 

Etwas anderes fällt Ihnen gar nicht ein. Sehen Sie, so 
arm sind Sie an Geist. 

Meine Damen und Herren, wenn Sie Mittelständler 
fragen, was ihnen am meisten helfen würde, dann ant- 
worten 11 Prozent: Förderprogramme, 18 Prozent: Steu- 
ersenkungen, 20 Prozent: einfachere Kreditvergabe und 
41 Prozent: Abbau von Bürokratie. - Das sagt doch al- 
les. Die Bürokratie ist die Geißel des Mittelstandes, die 
vom Staat auferlegt worden ist. Diese gilt es zurückzu- 
nehmen und so dem Problem Rechnung zu tragen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Auf dem Sektor Bürokratie sind wir das, was wir bei 
der Fußballweltmeisterschaft nicht geworden sind, näm- 
lich Weltmeister. 


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Dr. Diether Dehm [DIE 
LINKE]: Wie meinen Sie das?) 

Das kann nicht von der Hand gewiesen werden. In der 
Bundesrepublik Deutschland gab es im Jahre 2005 6 588 
Gesetze und Verordnungen. Hier haben wir angesetzt. 
Heute gibt es „nur“ noch 5 991 Gesetze. Das ist immer- 
hin ein Abbau von fast 600 Gesetzen. 

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] : Also, wenn 
alle weg sind, ist das der größte Erfolg!) 

Damit sind wir auf einem guten und vernünftigen 
Weg, der sich durchaus sehen lassen kann. Das kann sich 
vor allem deshalb sehen lassen, weil wir so dem Mittel- 
stand weiterhelfen können, für den die Bürokratie eine 
besondere Belastung ist. Ein Kleinunternehmen braucht 
für die Bewältigung der Bürokratie pro Jahr durch- 
schnittlich 60 Stunden pro Mitarbeiter, ein Großunter- 
nehmen hingegen nur 5,5 Stunden. Das muss man sich 
vor Augen halten. 

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot- 
Grün, ich darf daran erinnern, dass von Ihnen 1999 mit 
der Initiative zum Abbau von Bürokratie viel heiße Luft 
erzeugt wurde. Es kam aber wenig Konkretes dabei he- 
raus. Sie sollten sich ein Beispiel daran nehmen, was wir 
in den letzten beiden Jahren an Großartigem geleistet ha- 
ben. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Wir geben dem Mittelstand endlich die Luft zum At- 
men, die er braucht. Wir setzen den Rotstift an und strei- 
chen die Vorschriften, Regelungen, Ausführungsbestim- 
mungen, Verordnungen, Gesetze und was es sonst noch 
gibt, rigoros zusammen. Gerade kleine und mittlere Un- 
ternehmen erwarten das dringend. Wir wollen die 
Wachstumsfesseln durch Bürokratieabbau lösen. Die 
unionsgeführte Bundesregierung hat den Bürokratieab- 
bau beschleunigt und sich das Ziel gesetzt, bis Ende 
2011 25 Prozent der Kosten für die Informationspflich- 
ten abzubauen. 

Ein Blick zurück zeigt: Vor fünf Jahren mussten deut- 
sche Unternehmen jährlich rund 50 Milliarden Euro für 
amtliche Statistiken, Antragsformulare, Rechnungsle- 
gung etc. aufbringen. Inzwischen sind diese Kosten für 
die Unternehmen bereits um 10,5 Milliarden Euro ge- 
sunken und sind damit 21 Prozent niedriger als im Jahr 
2006. Das kann sich sehen lassen. Wir sind auf dem rich- 
tigen Weg. Diesen Weg müssen wir weiter gehen, und 
das werden wir auch tun. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Zum ersten Mal ist es gelungen, die Belastungen der 
Wirtschaft durch die Bürokratie nachzuweisen und zu 
senken. Auch dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Die 
größte Entlastung ergibt sich aus der Vereinfachung der 
elektronischen Rechnungsstellung. Die Herabsetzung der 
Anforderungen an elektronisch übermittelte Rechnungen 
und die Anerkennung von Rechnungen per E-Mail durch 
das Finanzamt führen in der Wirtschaft bereits zu Entlas- 
tungen in Höhe von 4,1 Milliarden Euro im Jahr. Durch 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ernst Hinsken 

(A) die Änderung der Vergabeordnung sparen die Unterneh- 
men künftig über 265 Millionen Euro jährlich. Herr 
Fraktionsvorsitzender Kauder, darauf sind wir stolz. Das 
haben wir auf den Weg gebracht. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Die bisher geforderten Nachweise zur Eignung der 
Bieter - also Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuver- 
lässigkeit - können künftig in etwa 80 Prozent der betref- 
fenden Ausschreibungen durch entsprechende Eigener- 
klärungen der Bieter ersetzt werden. Weitere Entlastungen 
für Unternehmen sind im Steuervereinfachungsgesetz 
2011 - im Umfang von 4,1 Milliarden Euro - sowie im 
Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz - im Umfang von 
2,5 Milliarden Euro - enthalten. Meine Damen und Her- 
ren, wir müssen das auch sagen und es nicht nur zur 
Kenntnis nehmen. Denn es ist Fakt und es lässt sich Gott 
sei Dank hier vermelden, dass wir das durch vernünftige 
Politik, insbesondere was den Bürokratieabbau beim 
Mittelstand anbelangt, erreicht haben. 

Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verwei- 
sen, dass sich die EU auf dem richtigen Weg befindet. 
Die Kommission mit Altministerpräsident Stoiber an der 
Spitze - er war im Wirtschaftsausschuss und in verschie- 
denen anderen Ausschüssen - leistet hier hervorragende 
Arbeit. So wurden bis Juli 2011 auf EU-Ebene mehrere 
Maßnahmen verabschiedet. Dort wurden die Bürokratie- 
kosten um 22 Prozent gesenkt; bis 2012 ist ein Abbau 
um insgesamt 25 Prozent avisiert. Damit werden Unter- 
nehmen um circa 27 Milliarden Euro entlastet. Was die 
Kommission ansonsten Positives bewirkt hat, steht in 
' ' meinem Redemanuskript; aber ich kann das nicht vortra- 
gen, weil es den zeitlichen Rahmen sprengen würde. 

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Schade! 

Redezeitverlängerung ! ) 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Bürokratie- 
abbau - das sollten wir alle uns voll zu Herzen nehmen - 
ist ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Bürokratie- 
abbau stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland, macht 
ihn zukunftsfähig und muss mit Nachdruck fortgesetzt 
werden. Die Vermeidung und der Abbau überflüssiger 
Bürokratie sind insbesondere im Mittelstand von ähnlich 
fundamentaler Bedeutung für den wirtschaftlichen Er- 
folg wie Innovation, Fachkräfte, Unternehmensnachfol- 
gen und -griindungen, Marktchancen im Ausland, Finan- 
zierung, Rohstoffe sowie Energie- und Materialeffizienz. 
Dem wollen wir Rechnung tragen. 

Lassen Sie mich zum Abschluss dem Nationalen Nor- 
menkontrollrat ein großes Kompliment aussprechen: 
Unter Leitung von Dr. Ludewig wurde hier Hervorra- 
gendes geleistet. Machen wir uns nichts vor: Wir werden 
in dem Fall schon ein bisschen kontrolliert, denn jedes 
Gesetz, das wir beschließen, muss zunächst die Zustim- 
mung des Nationalen Normenkontrollrates erfahren; 
sonst kann es nicht in Kraft treten. 

Das sind vernünftige Ansätze; das ist der richtige 
Weg. Wir gehen diesen Weg. Wir reden nicht nur, son- 
dern handeln, weil die Bürokratie für den Mittelstand so 
belastend ist. 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Herr Kollege. 

Ernst Hinsken (CDU/CSU): 

Wir werden dem auch in Zukunft Rechnung tragen. 

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen 
auf den Drucksachen 17/7636 und 17/7610 an die in der 
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - 
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind 
die Überweisungen so beschlossen. 

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b 
auf: 

a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- 

neten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf 
Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion 
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts 

-Drucksache 17/773 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- 
schusses (4. Ausschuss) 

-Drucksache 17/7675 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) 

Rüdiger Veit 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Sevim Dagdelen 
Memet Kilic 

- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- 
neten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Kai 
Gehring, weiteren Abgeordneten und der Frak- 
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten 
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des 
Staatsangehörigkeitsrechts 

- Drucksache 17/3411 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- 
schusses (4. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7675 - 
B erichterstattung : 

Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) 

Rüdiger Veit 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Sevim Dagdelen 
Memet Kilic 

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem 
Antrag der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Jan 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Präsident Dr. Norbert Lammert 

(A) Körte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion DIE LINKE 

Ausgrenzung beenden - Einbürgerungen umfas- 
send erleichtern 

-Drucksachen 17/2351, 17/7675 - 
Berichterstattung: 

Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting) 

Rüdiger Veit 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Sevim Dagdelen 
Memet Kilic 

Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf der Frak- 
tion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Staatsan- 
gehörigkeitsrechts auf der Drucksache 17/3411 in seine 
Beschlussempfehlung einbezogen. Über diese Vorlage 
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Darf 
ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist 
der Fall. 

Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD wer- 
den wir später namentlich abstimmen. 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für 
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich 
höre keinen Widerspruch. Das heißt, wir werden die na- 
mentliche Abstimmung vermutlich irgendwann kurz vor 
12 Uhr erwarten können. 

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem 
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Oie Schröder das 

Wort. 

(B) 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Dr. Oie Schröder, Pari. Staatssekretär beim Bundes- 
minister des Innern: 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Man muss es deutlich sagen: Das, was SPD, 
Grüne und Linke hier in ihren Gesetzentwürfen und im 
Antrag Vorschlägen, ist ein Paradigmenwechsel im 
Staatsangehörigkeitsrecht. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der 
Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE]) 

Bisher ist es so, dass die Einbürgerung den Abschluss ei- 
nes gelungenen Integrationsprozesses darstellt. Sie mei- 
nen offensichtlich, dass sich jemand allein dadurch inte- 
griert, dass Sie ihm die Staatsbürgerschaft geben. 

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) 

Ihr Ziel ist eine erhebliche Absenkung der Einbürge- 
rungsvoraussetzungen. So schlägt die SPD zum Beispiel 
vor, die erforderlichen Aufenthaltszeiten auf nur noch 
sieben Jahre zu verkürzen. Die Grünen wollen sogar nur 
sechs Jahre. 

Auf diese Frist sollen dann auch noch Zeiten ange- 
rechnet werden, in denen jemand lediglich geduldet 
wurde, also keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel in 
Deutschland hatte. Ebenso wollen Sie Zeiten im Asyl- 
verfahren berücksichtigen, selbst wenn das Asylverfah- 
ren am Ende erfolglos bleibt. 


Die Grünen - das ist der eindeutigste Beweis dafür, (C) 
dass es Ihnen gar nicht mehr um Integration geht - wol- 
len darüber hinaus den Einbürgerungstest abschaffen. 

Auch den Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaa- 
tigkeit geben Sie auf. Sie wollen die doppelte Staatsbür- 
gerschaft sowohl beim Erwerb nach dem Geburtsorts- 
prinzip als auch bei der Einbürgerung auf Dauer 
hinnehmen. 

Wir haben hierzu eine dezidiert andere Meinung. Für 
uns ist die Einbürgerung Ausdruck gelungener Integra- 
tion. Sie steht nicht am Anfang, sondern sie setzt bereits 
eine Reihe von Integrationsleistungen voraus. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Hierzu gehören angemessene Aufenthaltszeiten, ausrei- 
chende Kenntnisse der deutschen Sprache und ein Ver- 
ständnis für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung. 

Eine ganz wesentliche Voraussetzung für uns ist, dass 
der Einbürgerungsbewerber und derjenige, der seine 
Staatsangehörigkeit dadurch erwirbt, dass er in Deutsch- 
land geboren wurde, 

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was er- 
warten Sie von der Regierung?) 

seine frühere Staatsangehörigkeit aufgibt und sich ohne 
Vorbehalte zu seinem neuen Staat bekennt, meine Da- 
men und Herren. 

Gerade in diesem letzten Punkt hatte es 1999 bei der 
Einführung des Geburtsortsprinzips noch einen Kompro- 
miss gegeben, der nun von Ihnen aufgekündigt wird. (D) 
Damals waren Sie bereit, mit der Entscheidung für die 
Optionspflicht noch an der Vermeidung von Mehrstaa- 
tigkeit festzuhalten. 

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Um das Paket zu retten, haben wir 
dem zugestimmt!) 

Nun sind die ersten Kinder aus der Übergangsrege- 
lung in das optionspflichtige Alter gekommen. Sie von 
Rot und Grün wollen nun vom zweiten Teil des Kompro- 
misses, nämlich dass sich jeder für eine Staatsangehörig- 
keit entscheiden muss, nichts mehr wissen. 

(Zuruf von der SPD) 

Sie wollen die Regelung bereits abschaffen, obwohl 
noch kein einziges Kind aus der lus-soli-Regelung das 
Ende der Optionsfrist erreicht hat. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Wir wollen die Gesetze evaluieren, wenn sich 
die Wirklichkeit ändert!) 

Woher nehmen Sie eigentlich die Erkenntnis, dass das 
damals von Ihnen beschlossene Optionsverfahren ge- 
scheitert ist? 

(Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD]: Roland 
Koch! - Aydan Özoguz [SPD]: Auch von Ih- 
nen!) 

Die Koalition hat in ihrer Koalitionsvereinbarung das 
Thema ernst genommen. Wir haben uns darauf verstän- 



16470 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Pari. Staatssekretär Dr. Oie Schröder 

(A) digt, die Erfahrung mit den ersten Optionsjahrgängen 
auf möglichen Verbesserungsbedarf hin zu überprüfen. 
Zugleich werden wir das Einbürgerungsrecht insgesamt 
auf unverhältnismäßige Hemmnisse überprüfen. 

(Zuruf von der SPD) 

Die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migra- 
tion und Flüchtlinge - das wissen Sie - führt derzeit eine 
umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Op- 
tionsregelung und zum Einbürgerungsverhalten insge- 
samt durch. 

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: So kann 
man Dinge auch verschieben, wenn man sie 
verschieben will!) 

Die Evaluierungsergebnisse werden in der ersten 
Hälfte des nächsten Jahres vorliegen. Ich meine, dass wir 
diese abwarten sollten. Denn eine sachliche Diskussion 
ist nur möglich, wenn wir die Fakten kennen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN]: Wie lange noch? - 
Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Herr Kol- 
lege, wir kennen die Fakten! Auch Sie kennen 
die Fakten!) 

An dieser Stelle ist es mir wichtig, noch einmal die 
Bedeutung der Vermeidung von Mehrstaatigkeit hervor- 
zuheben. Sie ist letztlich der Ausdruck der Funktion von 
Staatsangehörigkeit überhaupt, nämlich einen einheitli- 
chen Staat zu bilden. Doppelte Staatsangehörigkeit kann 

zu Loyalitätskonflikten führen. 

(B) 

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Was ist mit Herrn McAllister? Er 
hat auch zwei Staatsangehörigkeiten!) 

Die Gefahr besteht immer dann, wenn der jeweils an- 
dere Staat versucht, die Betroffenen für seine politischen 
Ziele zu instrumentalisieren. Ein anschauliches Beispiel 
hierfür hatten wir beim Auftritt des türkischen Minister- 
präsidenten Erdogan 2008 in der Kölnarena sowie jüngst 
bei seinen Äußerungen anlässlich seines Besuchs in 
Deutschland. 

Hierbei gilt es, sich klar zu entscheiden und klar abzu- 
grenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Mehrstaatigkeit kann zu erheblichen Rechtsunsicher- 
heiten führen. Im Familien- und Erbrecht und im Be- 
reich der konsularischen Betreuung 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Oh, wie schrecklich!) 

bestehen dann konkurrierende Regelungen, die sich 
überlagern, und Ansprüche, die nicht klar sind. Mit der 
Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit verlangen wir 
nichts Unzumutbares. Sie bedeutet in keiner Weise den 
Abbruch der sozialen und kulturellen Bindung zum frü- 
heren Heimatland. Die Staatsangehörigkeit soll demjeni- 
gen, der dauerhaft in einem Land lebt, die Teilnahme an 
der Willensbildung und die Mitwirkung an der Aus- 
übung der Staatsgewalt ermöglichen. 


Liegt der Lebensmittelpunkt in einem neuen Land, so 
verlieren die staatsbürgerlichen Rechte im alten Heimat- 
land natürlich an Gewicht. Bundespräsident Wulff hat in 
seiner Rede anlässlich der Einbürgerungsfeier im 
Schloss Bellevue im September 2011 festgestellt, dass 
die Einbürgerung für die Einwanderer nicht die Abkehr 
von ihrer Familiengeschichte und Herkunft bedeutet. 
Vielmehr legen sie ein Bekenntnis zu ihrer Zukunft in 
Deutschland ab. 

Es stellt sich die Frage, ob die Fixierung der Opposi- 
tion auf den Aspekt der doppelten Staatsangehörigkeit 
weniger der Sache als vielmehr der politischen Zuspit- 
zung dient. Der Komplexität der einbürgerungsrechtli- 
chen Problematik wird sie in keinem Fall gerecht; denn 
sie vernachlässigt weitere wichtige Aspekte, die sich auf 
das Einbürgerungsverhalten auswirken. 

Betrachtet man die Zahlen, die belegen, wie sich die 
Einbürgerung in den letzten Jahren entwickelt hat, dann 
stellt man von Bundesland zu Bundesland sehr unter- 
schiedliche Entwicklungen fest. Während in Hamburg 
die Zahl der Einbürgerungen um über 40 Prozent gestie- 
gen ist, ist sie in Berlin unter Rot-Rot um über 12 Pro- 
zent gesunken. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Sag ich ja: Die können es auch nicht!) 

Bereits 2009 war die Zahl in Berlin entgegen dem Bun- 
destrend um 8,1 Prozent zurückgegangen. 

An Maßnahmen der Bundesregierung kann das wirk- 
lich nicht gelegen haben. Selbstverständlich liegt es an 
Maßnahmen, die in dem jeweiligen Bundesland getrof- 
fen wurden. Es liegt daran, dass Hamburg erhebliche 
Anstrengungen unternommen hat: ln den Einbürge- 
rungsbehörden ist Personal eingestellt worden, man hat 
Werbung für die Einbürgerung gemacht, in einigen Be- 
reichen wurden Informationsoffensiven gestartet. Das 
zeigt: Einbürgerung wird nicht allein durch die gesetzli- 
chen Regelungen, sondern ganz wesentlich durch die 
konkrete Umsetzung und Handhabung in den jeweiligen 
Verwaltungen beeinflusst. Informationen und Werbung 
für die deutsche Staatsangehörigkeit bringen insofern 
mehr für die Einbürgerung als wohlfeile politische For- 
derungen. Im Interesse der bei uns lebenden Ausländer 
sollten Sie für die Einbürgerung in Deutschland werben. 
Rühren Sie nicht immer nur die große Trommel der dop- 
pelten Staatsangehörigkeit. 

Lassen Sie uns die Ergebnisse der Evaluierung abwar- 
ten. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Wie lange noch?) 

Dann können wir auf gesicherter Grundlage darüber 
sprechen, wo es Hemmnisse gibt und was der Grund da- 
für ist, dass sich viele eben nicht einbürgern lassen wol- 
len. Interessanterweise ist es so, dass sich gerade aus der 
Gruppe, für die wir eine doppelte Staatsangehörigkeit 
zulassen, nämlich für diejenigen, die aus EU-Mitglied- 
staaten kommen, besonders wenig Menschen einbürgern 
lassen. Da stellt sich die Frage, woran das liegt. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16471 


Pari. Staatssekretär Dr. Oie Schröder 

( A) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] : 

An der Rechtsunsicherheit! Zum Beispiel im 
Aufenthaltsrecht oder im Arbeitsrecht!) 

Es hängt damit zusammen, dass der Rechtsrahmen mehr 
oder weniger der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie 
sich in Deutschland lediglich aufhalten oder ob sie deut- 
sche Staatsbürger sind. Das sollten wir berücksichtigen. 

Wir glauben, dass es richtig ist, weiterhin daran fest- 
zuhalten, dass die Staatsangehörigkeit nur eine einzige 
sein kann. Das hat mit Loyalität zu tun. Das ist Ausdruck 
von gelungener Integration. Ich frage mich, warum Sie 
daran nicht festhalten wollen. Ist es nicht vielleicht Aus- 
druck dessen, dass es Ihnen nicht um Integration geht, da 
Sie es zulassen wollen, dass hier Menschen leben, die 
sich überhaupt nicht um Integration bemühen? Das soll- 
ten Sie eindeutig zum Ausdruck bringen und nicht über 
den Umweg des Staatsangehörigkeitsrechts. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Das ist ein Schuss nach hinten, Herr 
Schröder!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächste Rednerin ist die Kollegin Özoguz für die 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Aydan Özoguz (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 

(B) Kollegen! Herr Staatssekretär, man könnte Ihnen mit ei- 
nem Satz antworten: Wir halten die Optionspflicht 
schlicht für falsch und unzeitgemäß, und wir wollen das 
ändern. Ich werde das jetzt aber natürlich noch ein biss- 
chen ausführen. 

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das wird 
auch nötig sein!) 

Wir Sozialdemokraten haben es gemeinsam mit den 
Grünen 1999 geschafft, das Staatsangehörigkeitsrecht 
von 1913 weitgehend den Realitäten unseres Landes an- 
zupassen. Über einen unzureichend gelösten Punkt spre- 
chen wir heute. Man sollte auch erwähnen: Es ist uns 
2005 gemeinsam mit der Union gelungen - die Zustim- 
mung der Grünen war gegeben endlich ein Zuwande- 
rungsrecht zu verabschieden, in dem unter anderem die 
Integrations- und Sprachkurse eine ganz wesentliche 
Rolle spielen. Die Verabschiedung dieses Gesetzent- 
wurfs war nicht leicht. Manch einer wird sich vielleicht 
an das Schauspiel im Bundesrat erinnern. Es ist trotzdem 
gelungen. Das Interessante ist: Es gibt kaum eine Partei, 
die sich dafür bei allen Gelegenheiten so sehr selbst fei- 
ert, wie die damals so zögerliche Union. Meine Damen 
und Herren von der Union, wir Sozialdemokratinnen 
und Sozialdemokraten geben Ihnen mit unserem Gesetz- 
entwurf heute erneut die Gelegenheit, als letzte Fraktion 
hier im Hause die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich 
in den nächsten Jahren für die Abschaffung des Options- 
modells und für das Bekenntnis zu einer modernen und 
gleichzeitig solidarischen Gesellschaft mit uns allen ge- 
meinsam feiern zu lassen. 


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Es ist damals gelungen. Sie davon zu überzeugen, 
dass es absurd ist, Kinder der zweiten, dritten oder vier- 
ten Generation immer weiter als Ausländer in Deutsch- 
land zu betrachten, obwohl sie hier geboren und soziali- 
siert wurden. Es ist auch gelungen, dafür zu sorgen, dass 
Kindern mit einem ausländischen Elternteil, die in 
Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraus- 
setzungen die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt 
verliehen wird. Herr Staatssekretär, ich weiß nicht, wann 
für Sie der Integrationsprozess beginnt. Nach Ihren 
Maßstäben muss er bereits im Mutterbauch beginnen. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Er sieht nichts!) 

Leider war damals nur die Optionspflicht, also der 
Zwang, sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr 
für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, als Kom- 
promiss möglich. Mit unserem Gesetzentwurf wollen 
wir dieses Optionsmodell, also den Zwang zur Aufgabe 
einer Staatsbürgerschaft, abschaffen. Wir wollen ein 
konsequentes Bekenntnis zur doppelten Staatsbürger- 
schaft hier geborener Kinder ausländischer Eltern. Auch 
bei Einbürgerung soll die doppelte Staatsangehörigkeit 
möglich sein. In diesem Zusammenhang - Sie haben es 
zu Recht erwähnt - fordern wir in unserem Gesetzent- 
wurf auch eine moderate Absenkung der Vöraufenthalts- 
zeiten. 

Es gibt ja Hoffnung auf Einsicht, auch bei Ihnen. In 
der vergangenen Sitzungswoche haben wir hier eine sehr 
sachliche und angenehme Debatte über das Thema 
„50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei“ geführt. 
Sie selbst haben von der teils mangelnden Attraktivität 
Deutschlands für hier geborene, gut ausgebildete Men- 
schen gesprochen. Sie haben auch davon gesprochen, 
dass viele von ihnen unser Land verlassen, dass wir se- 
henden Auges auf einen Fachkräftemangel zusteuern 
und dass wir das alles billigend in Kauf nehmen. 

Ihre Pressemitteilung, Herr Wolff - das muss an die- 
ser Stelle erwähnt werden -, in der steht, wir würden das 
Abstammungsrecht abschaffen wollen, muss Ihrer Ver- 
zweiflung geschuldet sein, dass Sie gar nicht wissen, wie 
Sie sich dazu verhalten wollen. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Ich kann das nicht nachvollziehen. Niemand möchte das 
Abstammungsrecht abschaffen. Ein Kind deutscher El- 
tern, ob es an der Elfenbeinküste oder sonst wo geboren 
wird, wird weiterhin Deutscher sein. 

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] : Ich er- 
zähle es Ihnen gleich!) 

Das müssten Sie uns wirklich einmal genauer erläutern. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Nein!) 

Wir wollen ein integrationspolitisches Signal setzen. 
Die Betroffenen werden als Deutsche mit Rechten und 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Aydan Özoguz 

(A) Pflichten, einschließlich des Wahlrechts, in die Gesell- 
schaft aufgenommen, aber eben ohne dass ihnen abver- 
langt wird, dass sie die für sie so wichtige und symbol- 
trächtige alte Staatsbürgerschaft aufgeben, was meist 
sehr belastend ist. Weil der Optionszwang einfach nicht 
in unsere Zeit und zu den realen Lebensumständen der 
Menschen passt, haben von SPD und Grünen geführte 
Länder im Bundesrat am 23. September dieses Jahres ei- 
nen Gesetzesantrag zur Aufhebung des Optionszwangs 
eingebracht. Interessant ist, dass Innenminister 
Schiinemann von der CDU im Bundesrat zu Protokoll 
gab, dass der Optionsregelung vorgeworfen werde, sie 
sei ein bürokratisches „Verwaltungsmonstrum“, und er 
dem zustimme. Recht hat er. 

Das Optionsmodell wirft tatsächlich integrationspoli- 
tische und verwaltungspraktische Probleme auf. Integra- 
tionspolitisch entbehrt es jeglicher Logik; das habe ich 
schon ausgeführt. Ich verstehe nicht, warum wir junge 
Menschen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen 
und hier zur Schule gegangen sind, die hier verwurzelt 
sind und bis zur Volljährigkeit mit zwei Staatsangehörig- 
keiten gelebt haben, nun plötzlich zwingen wollen, sich 
für eine zu entscheiden. 

Verwaltungspraktisch ist es noch interessanter. Es be- 
steht schon heute Handlungsbedarf, nicht erst in einigen 
Jahren. Es gibt schon heute die seit 2008 optionspflichti- 
gen Jugendlichen nach § 40 b Staatsangehörigkeitsge- 
setz. Bisher haben gut 15 000 Jugendliche - in diesem 
Jahr sind es rund 4 160 - Post von der Behörde bekom- 
men. Im 8. Bericht der Beauftragten der Bundesregie- 
^ rung für Migration heißt es zu diesem Bürokratiemon- 
strum Optionsmodell treffend: 

Der Aufwand für die Durchführung eines Options- 
verfahrens bei den Staatsangehörigkeitsbehörden 
ist nach den bisherigen Erfahrungen in der Praxis 
mindestens so groß wie der Aufwand für ein voll- 
ständiges Einbürgerungsverfahren. ... Schon bei 
der heutigen Situation mit Fallzahlen von etwa 
3.000 bis 4.000 Optionskindern pro Jahr bundes- 
weit wurde von größeren (vor allem personellen) 
Schwierigkeiten bei der Umsetzung berichtet. Ver- 
bunden wurden diese oft mit den Befürchtungen für 
die Zeit ab 2018, wenn jährlich rund 40.000 Ju- 
gendliche bundesweit optionspflichtig werden. 

Nun schreibt Professor Thränhardt von der Universi- 
tät Münster in seinem Gutachten für das Land Nord- 
rhein-Westfalen: Geschieht nichts, so würde die Op- 
tionsregelung die Einbürgerungsbehörden lahmlegen, 
falls nicht in großem Ausmaß neues Personal eingestellt 
würde. Mit diesem Aufwand werden die Länder bzw. die 
Kommunen belastet. - Das wollen Sie zulassen. Das ist 
ein bürokratischer Wahnsinn, auf den unser Land zusteu- 
ert, und Sie wissen das. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Sie haben doch gerade in der vorangegangenen Debatte 
über Bürokratieabbau gesprochen. Herr Hinsken hat 
eben noch hier am Pult gestanden und gesagt: Bürokra- 


tieabbau stärkt den Standort Deutschland. - Ja, dann ma- 
chen Sie das auch, und verabschieden Sie sich endlich 
von dieser Optionspflicht. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Die zentralen Argumente gegen die Hinnahme mehr- 
facher Staatsangehörigkeiten sind längst überholt, so wie 
etwa - dieses Argument haben wir eben wieder gehört - 
der Verweis auf Loyalitätskonflikte. Staatssekretär Oie 
Schröder war sich noch in der Debatte am 28. Oktober 
letzten Jahres nicht zu schade, zu argumentieren, dass 
das im Zusammenhang mit der Wehrpflicht ein Problem 
sein könnte. 

(Dr. Oie Schröder, Pari. Staatssekretär: Immer 
noch!) 

Dass Sie so etwas gesagt haben, während gleichzeitig 
nebenan im Verteidigungsministerium darüber nachge- 
dacht wurde, wie die Wehrpflicht abgeschafft werden 
kann, das ist nun wirklich bezeichnend für die Rückstän- 
digkeit dieser Bundesregierung in Sachen Staatsbürger- 
recht. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Eines muss ich Herrn Kollegen Hartfrid Wolff noch 
mitgeben. Er hat damals an die Grünen die Aussage ge- 
richtet, sie würden „die deutsche Staatsangehörigkeit auf 
dem Multikultibasar verramschen“. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Pfui!) 

Ich gebe Ihnen eine kleine Denkhilfe aus Ihrem eigenen 
Parteiprogramm: 

Die Integration kann jedoch auch durch doppelte 
Staatsbürgerschaft gefördert werden, wie die vielen 
Fälle von gut integrierten Mitbürgern mit Doppel- 
staatsbürgerschaft zeigen. 

(Zurufe von der SPD: Oh!) 

Also, wenn eine Partei ihre Programmatik komplett auf 
dem Koalitionsbasar verramscht hat, dann, würde ich sa- 
gen, ist es die FDP. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Ein letzter Punkt. Die Realität hat Sie im Grunde 
längst eingeholt. Die vielen Abweichungen vom Prinzip 
„Eine Person - ein Pass“, die es heute schon gibt, führen 
dazu, dass laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2010 
bei 53 Prozent der Einbürgerungen Mehrstaatigkeit hin- 
genommen wurde. Staatssekretär Schröder sprach von 
einer Minderheit; da sollten Sie sich noch einmal 
schlaumachen. Viel deutlicher kann eine statistische Ent- 
wicklung nicht ausfallen. 

Ich hoffe, dass Sie den warmen Worten, die Sie in der 
letzten Debatte von diesem Pult aus gesagt haben, Taten 
folgen lassen. Es geht an der Lebensrealität der jungen 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16473 


Aydan Özoguz 

(A) Menschen bei uns in Deutschland vollkommen vorbei, 
sie vor eine derart absurde Wahl zu stellen. Stimmen Sie 
mit uns heute für unseren Gesetzentwurf, und lassen Sie 
sich dann in den nächsten Jahren mit dafür feiern. 

Danke. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Das Wort erhält nun der Kollege Hartfrid Wolff für 
die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt bitte eine li- 
berale Rede, Herr Kollege!) 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): 

Die SPD fordert wieder einmal die Abschaffung des 
Optionsmodells, das sie selbst vor zehn Jahren einge- 
führt hat. Es ist schon spannend, zu hören, wie Sie die 
Bürokratie geißeln, Frau Kollegin. 

(Manuel Höferlin [FDP]: Ja! In der Opposi- 
tion!) 

Hätten Sie das mal früher gedacht! 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das habe ich damals 
schon gesagt!) 

(B) Das ist bei der SPD aber nichts Neues. Erst schaffen Sie 
Bürokratie, und an anderer Stelle geißeln Sie sie. Das ist 
keine stringente Linie der SPD. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vor zehn Tagen wurden wir von der SPD überrascht. 
Es hieß, es gebe neue Forderungen für die Hinnahme 
von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Heute beraten wir 
einen Gesetzentwurf der SPD vom Februar 2010. Es ent- 
steht der Eindruck: Dieser Opposition fällt nichts wirk- 
lich Neues ein. Ich muss ganz ehrlich sagen: Eine so 
schwache Opposition haben wir als Regierung nicht ver- 
dient. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der 
CDU/CSU - Zurufe von der SPD) 

Da nützt es auch nichts, dass der Fraktionsvorsitzende 
nachher kurz vor dem SPD-Parteitag selbst das Wort er- 
greift. Sie sollten sich einmal neue Gedanken machen 
und nicht immer wieder Ihre alten Ideen aufwärmen. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - 
Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD], zur CDU/ 

CSU gewandt: Ihr nächster Parteitag ist näher, 
wenn ich richtig informiert bin!) 

Dass sich die SPD von den Ergebnissen ihrer eigenen 
Regierungszeit distanziert, haben wir schon ein paar Mal 
erlebt. 

(Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD]: Das 
kommt bei Ihnen ja nicht vor!) 


Inzwischen erleben wir aber immer häufiger, dass die (C) 
deutsche Sozialdemokratie sogar ihren Kompass ver- 
liert. 

(Lachen des Abg. Dr. Frank- Walter Steinmeier 
[SPD]) 

Sachlich bleibt ohnehin klar: Die Abschaffung des 
Optionsmodells zu fordern, ist aus meiner Sicht völlig 
absurd; hier hat der Staatssekretär recht. Die Initiative ist 
bei weitem nicht die erste. Alle Oppositionsparteien ha- 
ben das schon gefordert, auch im Bundesrat. Auch da 
gibt es also nicht Neues. Angesichts der Konkurrenz im 
linken Lager - von Piraten, Grünen und Linken - wirkt 
dieser Versuch der SPD, ein Thema zu besetzen, eher 
hilflos, wie eine Art Überbietungswettbewerb. 

Wir Liberale haben das Optionsmodell seinerzeit vor- 
geschlagen, um den Weg zu einer Öffnung des deutschen 
Staatsangehörigkeitsrechts in Richtung auf das Jus Soli 
zu ermöglichen. Es macht nach wie vor keinen Sinn, ein 
Gesetz zu ändern, für dessen Wirkung es praktisch noch 
keine verwertbaren Daten gibt. 

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] : Natürlich 
gibt es die!) 

Es ist einfach sinnvoll, erst einmal Erfahrungsberichte 
abzuwarten - bleiben Sie ein bisschen seriös, Kollegin -, 

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ich bin 
seriös!) 

um beurteilen zu können, wie sich diese Regelung tat- 
sächlich auswirkt, 

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Was? Die (D) 

gibt es doch!) 

und danach die rechtlichen Anpassungsmöglichkeiten zu 
prüfen. So ist es auch im Koalitionsvertrag vorgesehen. 

Alles andere ist wohlfeiler sozialdemokratischer Aktio- 
nismus, der kein Problem löst, sondern - im Gegenteil - 
eher neue Probleme schaffen könnte. 

Für in Deutschland aufgewachsene junge Menschen 
ist es nach Auffassung von Rot-Rot-Grün unzumutbar, 
sich bei Volljährigkeit für die deutsche Staatsangehörig- 
keit zu entscheiden. Linke Parteien tun sich mit der 
Wahlfreiheit, der Kompetenz des Individuums, sich ent- 
scheiden zu dürfen, ja generell etwas schwerer. 

Anders als Kinder deutscher Eltern sollen die Betref- 
fenden durch Mehrfachstaatsangehörigkeit privilegiert 
werden. Ausdrücklich besagt der SPD-Gesetzentwurf, 

(Aydan Özoguz [SPD]: Was sagt denn die 
FDP?) 

es solle fürderhin ein konsequentes Bekenntnis zur dop- 
pelten oder mehrfachen Staatsbürgerschaft geben. Viel- 
leicht hofft die SPD auf Unterstützung durch den Wahl- 
kämpfer Erdogan, der die Erhaltung des Türkentums in 
Deutschland beschwört. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Oh, ist das schlecht!) 

Meine Damen und Herren, die SPD frohlockte einst 
über die Abschaffung des Abstammungsprinzips bei der 
Staatsangehörigkeit. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Unterirdisch!) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

- Hören Sie mir zu; denn Sie haben mich vorhin 
gefragt. - Sie wollten das Abstammungsprinzip abschaf- 
fen. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Nein! Das haben wir 
noch nie gefordert!) 

Aber für Migranten wollen Sie es jetzt beibehalten. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das ist doch Quatsch!) 

Wer die doppelte Staatsangehörigkeit fordert, stoppt die 
Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Wer wollte denn das 
Abstammungsprinzip abschaffen? Wann 
denn? Erklären Sie das mal!) 

Galt Linken, Grünen und SPD das Abstammungs- 
recht bei deutschen Aussiedlem noch als reaktionäres 
Rechtsprinzip, 

(Aydan Özoguz [SPD]: Ach! Das ist doch 
Blödsinn!) 

ist es für die doppelte Staatsangehörigkeit, etwa für Ara- 
ber, plötzlich wieder erwünscht. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Sie haben das Gesetz 
nicht verstanden!) 

Es ist in der Tat absurd, in dem Land, in man geboren ist 
und dauerhaft leben will, Ausländer zu sein. Allerdings: 
Niemand in diesem Haus will Menschen, die sich ein- 
deutig für Deutschland entscheiden, die die deutsche 
Sprache beherrschen und sich auf unsere Grundwerte 
verpflichten, daran hindern, deutsche Staatsangehörige 
zu werden. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Nicht die Optionsmöglichkeit, sondern die desinte- 
grative Haltung von bestimmten Verbänden, die eine Art 
von Herkunftsnationalismus beschwören, geht an der 
Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen vorbei. 
Dass sich die Oppositionsparteien vor diesen reaktionä- 
ren Karren spannen lassen, ist aus meiner Sicht ein Ar- 
mutszeugnis. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Lachen bei Abgeordneten der 
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- 
NEN - Aydan Özoguz [SPD]: Ich glaube, Sie 
müssen erst einmal begreifen, worum es über- 
haupt geht!) 

Fortschrittlich wäre es dagegen, das Jus Soli weiterzu- 
entwickeln. 

Integration in die deutsche Gesellschaft kann nur ge- 
lingen, wenn man sich mit den gleichen Rechten und 
Pflichten wie die anderen Staatsbürger in die deutsche 
Gesellschaft integriert. 

(Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD]: Darum 
geht es, genau!) 

Mit einer doppelten Staatsangehörigkeit wird die Inte- 
gration erschwert, wenn Migranten mit Doppelstaatsan- 
gehörigkeit dem Irrtum verfallen, man könne gleichzei- 


tig zwei Staaten angehören. Durch Migrantenschicksale (C) 
zeigt sich oft, dass genau dies eben nicht möglich ist. 

Wer weder ganz hier noch ganz dort bleiben will, ist nir- 
gendwo als gleichberechtigter Mitbürger akzeptiert - 
ganz unabhängig vom formalrechtlichen Status. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] : Das 
müssen Sie den Menschen überlassen!) 


Rot-Rot-Grün tut so, als ob Migration allein eine geo- 
grafische Standortveränderung wäre, und damit basta. 

Das ist gefährlicher Unfug. Jeder, der sich mit Migranten 
auseinandergesetzt hat, weiß, dass Zuwanderung nicht 
einfach durch eine Änderung des Territoriums, sondern 
durch den Umzug in ein Land mit anderen Menschen, 
anderer Tradition, Sprache und Kultur erfolgt. Wer das 
verschweigt oder kleinreden will und das Ganze allein 
geografisch sieht, der zerstört die Zukunftschancen ge- 
rade der Migranten hier in Deutschland. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Aydan Özoguz [SPD]: Wer 
verschweigt das denn?) 

Mit einer Einbürgerungsregelung, die von weiten Tei- 
len der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, wird die Ak- 
zeptanz von Migranten keinesfalls gestärkt. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Aha!) 

Wer die Zukunft einer deutschen Nation erstrebt, in der 
nicht Hautfarbe oder Abstammung, sondern allein der 
Wille und die freiwillige Verpflichtung, dazuzugehören, 
entscheidend für die Zugehörigkeit sind, der muss ver- (D) 
hindern, dass Abstammungsfragen in Deutschland wie- 
der salonfähig werden, wie das durch das Instrument der 
mehrfachen Staatsangehörigkeit geschieht. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Das tun Sie ja gerade!) 

Die Koalition aus Union und FDP hat beeindruckende 
Weichenstellungen in der Abkehr von rot-rot-grüner 
Multikultiideologie vorgenommen. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Die FDP wird die freie Entscheidung der Individuen 
und die Integrationsleistungen jedes Einzelnen weiterhin 
höher schätzen als die Beschwörung von Herkunft und 
ethnischen Milieus. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das ist ja warmher- 
zig!) 

So gestalten wir den überfälligen Neuanfang in der Inte- 
grationspolitik auf dem Weg zu einer Kultur des Will- 
kommens auf der Basis von Gleichberechtigung, gegen- 
seitiger staatsbürgerlicher Loyalität und fairem Mitei- 
nander. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Josef Philip Winkler [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist das Willkom- 
men?) 


- Herr Kollege, unabhängig davon. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16475 


(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Dr. Gesine 
Lötzsch für die Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): 

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten 
Damen und Herren! Die Linke will Ausgrenzung been- 
den und Einbürgerungen umfassend erleichtern. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wir sagen den Menschen, die hier leben und bleiben 
wollen: Willkommen, ihr gehört zu uns. 

Immer weniger Menschen werden in Deutschland 
eingebürgert. Warum ist das so, und warum ist die Situa- 
tion zum Beispiel in Schweden, Portugal oder Polen 
ganz anders? 

In europäischen Ländern mit einer hohen Einbürge- 
rungsquote ist es folgendermaßen: Einbürgerungen sind 
auch dann möglich, wenn die Menschen weniger als fünf 
Jahre in diesem Land leben, ein eigenständiges Einkom- 
men muss nicht nachgewiesen werden, in diesen Län- 
dern ist Mehrstaatigkeit generell erlaubt, und auf Einbür- 
gerungstests wird verzichtet. Das ist eine sehr 
vernünftige Regelung. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Herr Kollege Schröder, Sie haben gesagt: Wir wissen 

(B) noch gar nichts. - Das stimmt nicht. Das Gesetz ist nun 
zwölf Jahre alt, die Analysen liegen auf dem Tisch. Im 
Jahr 1999 haben SPD, Grüne und FDP ein Gesetz be- 
schlossen, das sich in einem ganz wesentlichen Punkt 
zum Einbürgerungsverhinderungsgesetz entwickelt hat. 
Das muss heute dringend korrigiert werden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ich finde, wir müssen uns jetzt für die Menschen ent- 
scheiden, die seit Jahren in unserem Land leben. SPD 
und Grüne haben sich mit ihren Gesetzentwürfen ebenso 
wie die Linke mit ihrem Antrag eindeutig für die Einbür- 
gerung von Menschen entschieden, die gern in unserem 
Land leben und den Wunsch haben, an der Gestaltung 
der Gesellschaft demokratisch mitzuwirken. Ich bin der 
festen Überzeugung: Das kann für uns alle nur gut sein! 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wenn CDU/CSU und FDP die Vorlagen ablehnen, 
dann schaffen sie in unserem Land neue Mauern zwi- 
schen den Menschen, 

(Zuruf von der FDP: Von Mauern verstehen 
Sie ja was!) 

verhindern die demokratische Teilhabe von Millionen 
von Menschen und befördern Rassismus und Fremden- 
feindlichkeit in unserem Land. Das ist verantwortungs- 
los. 

(Beifall bei der LINKEN) 


Der europäische Vergleich zeigt doch, dass es anders (C) 
geht. Die Bundesregierung muss einfach nur über den ei- 
genen Tellerrand schauen. Wir können von unseren eu- 
ropäischen Partnern wirklich viel lernen. Aber im Au- 
genblick vermittelt die Bundesregierung den Eindruck, 
dass alle anderen EU-Länder „deutscher“ werden müs- 
sen. Wer wirklich ein gemeinsames Europa will, der 
wählt damit einen sehr schlechten Ansatz, einen Ansatz, 
der scheitern muss. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ich sage Ihnen: Wir können von Schweden, von Portugal 
und von Polen lernen. 

Wir haben versucht, mit unserem Antrag die europäi- 
schen Erfahrungen aufzunehmen, und gehen damit wei- 
ter als SPD und Grüne. Beide Fraktionen haben unseren 
Anträgen leider nicht zugestimmt. Das finden wir 
schade. Aber trotzdem werden wir den Gesetzentwürfen 
von SPD und Grünen zustimmen. Ich hoffe, wir fördern 
damit die Bereitschaft dieser beiden Fraktionen, in der 
Frage der Einbürgerung noch europäischer zu denken. 

Ich glaube, das ist nötig. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich 
möchte mich jetzt besonders an Sie wenden und etwas 
von Kollegen aus Ihrer Partei anführen. Ich zitiere mit 
Erlaubnis des Präsidenten: 

Der Umstand, dass ... eine ganze Generation junger 
Türken gezwungen ist, sich zu entscheiden zwi- 
schen dem Land ihrer Eltern und dem Land ihrer (D) 
Lebenswirklichkeit, muss endlich beendet werden. 

An anderer Stelle heißt es: 

Entscheidend ist, wo Menschen ihren Lebensmittel- 
punkt haben. Pässe sollten zweitrangig sein. 

Dieses Zitat stammt aus einem Papier der FDP-Fraktion 
im Niedersächsischen Landtag. Offensichtlich sind Ihre 
Kollegen in Niedersachsen schon weiter als Sie hier in 
Berlin. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Orientieren Sie 
sich in dieser Frage an Ihren Kollegen aus Niedersach- 
sen! 

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. 

Aydan Özoguz [SPD]) 

Die Bundesregierung spricht gerne über Integration, 
baut aber immer höhere Mauern gegen die Integration 
auf. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in Deutschland bei der 
Einbürgerung endlich europäische Normalität und nicht 
deutsche Sonderwege. Wenn wir Menschen in unserem 
Land willkommen heißen, dann ist das für uns alle bes- 
ser. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man 
die Reden von Herrn Staatssekretär Schröder und von 
Herrn Wolff hört, dann kann das schon zu Irritationen 
führen. Bei Herrn Schröder denke ich: Immer wenn von 
der Regierungsbank Daten des Statistischen Bundesam- 
tes vorzulesen sind, wird Herr Schröder geschickt. Das 
kommt mir so vor, als wäre heute der nationale Vorlese- 
tag. Das ist er aber gar nicht, Herr Schröder. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Bei Herrn Wolff denke ich: Jetzt gibt es gleich einen 
Vortrag über die Mendel’sche Abstammungslehre. Aber 
auch das ist nicht das Thema. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Ein Thema ist hier und heute, dass wir 50 Jahre nach 
dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen überlegen 
müssen: Wo sind wir angekommen? 

(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das steht 
nicht auf der Tagesordnung!) 

Es reicht an dieser Stelle nicht, zu feiern und sich Filme 
anzuschauen, in denen gezeigt wird, woher die damali- 
gen sogenannten Gastarbeiter kommen. Vielmehr geht 
es auch darum, zu reflektieren: Was ist in den 50 Jahren 
passiert? Max Frisch hat gesagt: Es wurden Arbeits- 
kräfte eingeladen, aber es sind Menschen gekommen. - 
Wie gehen wir denn mit diesen Menschen um? Ihre Kri- 
terien sind für die Frage des Umgangs miteinander defi- 
nitiv unbrauchbar. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Schauen Sie sich einmal Folgendes an: Heute leben 
fast 8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in 
Deutschland, die mehr als 8 Jahre hier sind. Der Punkt 
ist: Sie erfüllen die wichtigsten Einbürgerungsvorausset- 
zungen. In anderen europäischen Ländern - das zeigt der 
Vergleich - wären sie alle schon eingebürgert. Was ist 
bei uns passiert? Bei uns werden die Kinder der Einwan- 
derer zu Auswanderern. Wir sind ein Auswandererland, 
weil gut gebildete Migranten, zum Beispiel junge Tür- 
kinnen und Türken, in Brüssel oder Istanbul ihre beruf- 
liche Karriere besser weiterverfolgen können. 

Ich sage Ihnen ganz klar: Sie können es nicht. Es geht 
nicht um die Gnade der Einbürgerung, sondern es geht, 
wie in der Europapolitik und in der Außenpolitik, auch 
knallhart um deutsche Interessen, und die werden nicht 
von der schwarz-gelben Koalition vertreten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Es ist doch fatal: Wir erleben einen Fachkräfteman- 
gel, und Ihnen fällt dazu nichts anderes ein, als die Ver- 
dienstgrenze beim Zuzug von Fachkräften auf 48 000 
Euro zu reduzieren. Dabei kriegen Leute mit Hochschul- 
abschluss keinen Job, mit dem sie 48 000 Euro verdie- 
nen. Also kommen sie auch nicht. 


In der Frage der Auswanderung von jungen Men- (C) 
sehen, die schon lange hier leben, bieten Sie ihnen nichts 
als einen Optionszwang, statt zu sagen: Ja, wir wollen, 
dass sie hier bleiben. - Es ist unter dem Niveau dieses 
Hauses, dass der gelernte Rechtsanwalt Herr Schröder 
uns im Rahmen seines persönlichen Vorlesetages erzählt, 
es gebe Interessenkonflikte. Herr Schröder, mit zwei ju- 
ristischen Staatsexamen 

(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Examina!) 

können Sie hier nicht sagen, es gäbe später konsulari- 
sche Konflikte bei der Erbschaft. Unter uns Anwältinnen 
und Anwälten: So etwas lässt sich doch lösen, nicht 
wahr? 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Sie können mir auch nicht erzählen, dass es bei der 
Verteidigung des Landes Komplikationen gäbe. Wie soll 
es denn bei jemandem, der zum Beispiel die deutsche 
und die türkische Staatsangehörigkeit hat, Komplikatio- 
nen bei der Verteidigung des Landes oder bei Auslands- 
einsätzen geben, wenn es um zwei NATO-Länder geht? 

Dann müssten Sie an der Stelle sagen, dass auch 
McAllister einen Interessenskonflikt hat. Aber er kann 
britisch und deutsch und Ministerpräsident sein. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Genau das wollen wir für die jungen türkischen Men- 
schen, die hier aufgewachsen sind: dass auch sie einmal 
Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident werden kön- ^p) 
nen. 

Es geht nicht darum, dass diese Personen einen Inte- 
ressenkonflikt hätten. Vielmehr entspricht es deutschen 
Interessen, bestehende Konflikte endlich aufzulösen: mit 
einer doppelten Staatsbürgerschaft. 

Was wir wollen, ist eine Art zweite deutsche Einheit. 
Dabei geht es nicht um zwei Teile, sondern um alle 
Schichten und Teile dieser Gesellschaft. Lassen Sie uns, 
wie Prantl schreibt, eine zweite deutsche Einheit versu- 
chen. Das heißt im Übrigen: Wir haben gemeinsame In- 
teressen, und dann muss man logischerweise zur doppel- 
ten Staatsbürgerschaft kommen. Dann können wir alle 
Probleme in einem anderen Sprachduktus miteinander 
lösen. 

Wir bitten um Ihre Zustimmung. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSU- 
Fraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! 

Sehr geehrte Kollegen! Es ist nichts Neues, dass die Op- 
position in regelmäßigen Abständen mit Gesetzentwiir- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16477 


Stephan Mayer (Altötting) 

(A) fen und Anträgen um die Ecke kommt, die die Änderung 
unseres Staatsangehörigkeitsrechts zum Gegenstand ha- 
ben. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Was heißt denn „um 
die Ecke kommen“?) 

Aber ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, 
meine werten Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- 
sition, dass der eigentliche Grund der heutigen Debatte 
ein anderer ist. 

Der SPD-Parteitag naht. Sehr geehrte Frau Kollegin 
Özoguz, ich gönne es Ihnen wirklich, dass Sie desi- 
gnierte stellvertretende Parteivorsitzende sind. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Was hätten Sie erzählt, wenn wir die 
Debatte in drei Wochen hätten?) 

Der eigentliche Grund der heutigen Debatte war unter 
anderem, Ihnen die Plattform zu bieten, eine Bewer- 
bungsrede für Ihre Kandidatur zur stellvertretenden Par- 
teivorsitzenden zu halten. 

(Thomas Oppermann [SPD]: Was wäre daran 
schlimm?) 

Ich sage Ihnen aber ganz offen, meine verehrten Kolle- 
gen von der SPD: Unser deutsches Staatsangehörigkeits- 
recht ist zu kostbar, als es nur als Profilierungsplattform 
dafür zu nutzen, dass Sie, Frau Özoguz, stellvertretende 
Parteivorsitzende werden. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 

(B) der FDP - Zuruf von der SPD: So etwas 
Schwaches! - Aydan Özoguz [SPD]: Wenn Sie 
sonst kein Argument haben!) 

Meine werte Kollegin Künast, ich kann mich auch 
nicht des Eindrucks erwehren, dass Sie insbesondere 
deshalb heute in dieser Debatte sprechen, weil Sie nach 
Ihrem schwachen Abschneiden bei der Berliner Land- 
tagswahl in enormen innerparteilichen Schwierigkeiten 
stecken. Sie sind eben nicht Regierende Bürgermeisterin 
von Berlin geworden. Jetzt gibt es deutlichen Druck in 
der eigenen Partei. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Aber das Thema ist nicht neu!) 

Ich glaube, dass auch dies ein Grund ist, warum Sie 
heute so aufgekratzt und emotional argumentiert haben. 

(Manuel Höferlin [FDP]: Getroffene Hunde! - 
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Dass Sie behaupten, dass ich emotional 
bin, ist schon eine Menge wert!) 

Gleiches gilt für die Kollegin Lötzsch, die, wie man 
den Medien entnehmen kann, auch unter enormem 
Rechtfertigungsdruck in der eigenen Partei steht. Hier 
gilt aber das Gleiche: Unser deutsches Staatsangehörig- 
keitsrecht ist zu kostbar, als es für eine bloße und sehr 
durchsichtige parteipolitische Profilierung zu nutzen. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP - Aydan Özoguz [SPD]: Haben Sie 
auch was Inhaltliches beizutragen?) 


Frau Özoguz, Sie haben behauptet, das jetzige Op- (C) 
tionsmodell sei ein bürokratischer Wahnsinn. Frau 
Özoguz, Sie haben es mitbeschlossen: Rot-Grün hat es 
beschlossen. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das haben wir gar nicht 
beschlossen! Stimmt doch gar nicht!) 

Also sollten Sie jetzt keine Rede halten, in der Sie dieses 
Modell als schwach und als bürokratischen Wahnsinn 
diffamieren. Sie selbst haben die Verantwortung dafür zu 
tragen. 

Deutschland ist gut mit dem Grundprinzip in seinem 
Staatsangehörigkeitsrecht gefahren, dass man Mehrstaat- 
lichkeit vermeidet. Einbürgerung kann nur am Ende ei- 
nes erfolgreich abgeschlossenen Integrationsprozesses 
stehen und kann und darf nie am Anfang des Integra- 
tionsprozesses stehen. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Bei der Optionspflicht 
wird man damit geboren, Herr Mayer!) 

Durch die Staatsangehörigkeit wird ein Loyalitäts- 
band zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem 
Staatsangehörigen auf der anderen Seite geknüpft. Die- 
ses Loyalitätsband kann und darf nie eine Einbahnstraße 
sein; dieses Loyalitätsband eröffnet Rechte und Pflichten 
für beide Seiten. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Ach? Das ist ja was 
ganz Neues!) 

Deswegen muss es weiterhin ein fester Grundsatz des (D) 
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sein, dass eine 
doppelte Staatsangehörigkeit nach Möglichkeit abzuleh- 
nen und zu vermeiden ist, weil sie erhebliche rechtliche 
Schwierigkeiten aufwirft: Auf der einen Seite eröffnet 
sie gewisse Privilegierungstatbestände für die Doppel- 
staatler, zum Beispiel was das Wahlrecht anbelangt. Es 
besteht die akute Gefahr der Rosinenpickerei: Man greift 
sich je nachdem, was einem gerade in den Sinn kommt, 
das günstigere Recht, zum Beispiel das Wahlrecht, he- 
raus. Auf der anderen Seite gibt es offenkundig rechtli- 
che Nachteile. Die Juristerei spricht von sogenannten 
hinkenden Rechtsverhältnissen, zum Beispiel im Ehe- 
und Familienrecht und auch im Namensrecht. 

(Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD]: Nicht al- 
les, was hinkt, ist ein Vergleich!) 

Es ist sehr wohl der Fall, dass man sich von der doppel- 
ten Staatsangehörigkeit fälschlicherweise etwas ver- 
spricht, was in der Praxis nicht zu halten ist. 

Frau Künast, es gibt ganz konkrete Fälle. Ich selbst 
war in der letzten Legislaturperiode Mitglied des BND- 
Untersuchungsausschusses. Wir hatten unter anderem 
den Fall Mohammed Haydar Zammar zu behandeln. Er 
ist Doppelstaatler - er ist Deutscher und Syrer -, war in 
syrischer Haft in einem berüchtigten Gefängnis in Da- 
maskus. Ganz ehrlich: Die deutsche Staatsangehörigkeit 
hat ihm persönlich überhaupt nichts gebracht. Konsulari- 
scher Schutz wurde ihm nämlich von der syrischen Seite 
strengstens verwehrt, 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Stephan Mayer (Altötting) 

(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das liegt ja an Syrien und nicht an den 
internationalen konsularischen Regeln!) 

weil die Syrer die deutsche Staatsangehörigkeit nicht an- 
erkannt haben. Also hat er keine Möglichkeit gehabt, auf 
konsularischen Schutz zurückzugreifen. Ganz im Ge- 
genteil, er wurde von den Syrern nur als Syrer angese- 
hen. 

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Wollen Sie denn sagen, ein deutscher 
Pass ist nichts wert? Sie als Bundestagsabge- 
ordneter!) 

Man macht sich manche Vorstellungen und knüpft Er- 
wartungen an die doppelte Staatsangehörigkeit, die sich 
dann in der Praxis als falsch herausstellen. 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, 
wir sind gut damit gefahren, dass wir das Staatsangehö- 
rigkeitsrecht 2007 novelliert haben, dass wir darin deut- 
liche Verbesserungen aufgenommen haben, zum Bei- 
spiel was den Nachweis ausreichender deutscher 
Sprachkenntnisse und die Sicherung des Lebensunter- 
halts für Personen unter 23 Jahren anbelangt. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das tut schon ein biss- 
chen weh!) 

Insbesondere die Einführung des Einbürgerungstests 
war ein Meilenstein in der Veränderung des deutschen 
Staatsangehörigkeitsrechts. 

(Aydan Özoguz [SPD] : Das spielt bei der Op- 
tionspflicht ja überhaupt keine Rolle!) 

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Kanada, in 
den USA oder auch in den Niederlanden ist es der Fall, 
dass derjenige, der Staatsbürger in dem betreffenden 
Land werden will, mit einem Einbürgerungstest natürlich 
auch dokumentieren muss, dass er sich - in dem Fall - zu 
Deutschland, zur deutschen Sprache, zur deutschen Kul- 
tur und auch zur deutschen Verfassung bekennt. Ich 
glaube, das ist nicht zu viel verlangt. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 
Kollegen Pronold? 

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): 

Sehr gerne. 

Florian Pronold (SPD): 

Herr Kollege Mayer, Sie erinnern sich ja sicher, dass 
die CSU im Europaparlament durch Otto von Habsburg 
vertreten war. Er hatte meines Wissens drei Staatsbürger- 
schaften. Wie konnte er diese Konflikte trotzdem zum 
Wohle Bayerns aushalten? 

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der 
SPD und der LINKEN - Ingo Wellenreuther 
[CDU/CSU]: Ein Lebenskünstler!) 


Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (C) 

Herr Kollege Pronold, der hochmögende ehemalige 
Europaabgeordnete Otto von Habsburg hat diese Kon- 
flikte nicht nur zum Wohle Bayerns ausgehalten, son- 
dern zum Wohle Deutschlands. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Na, also!) 

Man sollte an dieser Stelle noch einmal sehr respektvoll 
erwähnen, welche großen Leistungen sich Otto von 
Habsburg um Deutschland, um die Wiedervereinigung, 
um die Integration Europas und auch um die Vereini- 
gung Europas erworben hat. 

(Dr. Frank- Walter Steinmeier [SPD]: Also, es 
geht doch! Jawohl!) 

Natürlich gibt es Mehrstaatler in Deutschland; das ist 
gar keine Frage. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Sogar ganz viele!) 

Ich bitte schon, zu berücksichtigen, dass Otto von Habs- 
burg die deutsche Staatsangehörigkeit genauso wie die 
österreichische hatte; aber daraus erwachsen keine un- 
mittelbaren Konfliktfelder. 

(Lachen bei der SPD) 

Das zu übersehen, ist der große Trugschluss, dem Sie 
unterliegen. Die doppelte Staatsangehörigkeit in den 
Fällen, in denen sie in Deutschland meistens vorhanden 
ist, bezieht sich auf zwei oder drei europäische Länder, 
und es entstehen aufgrund der Ähnlichkeit der Rechts- 
ordnungen dieser Länder keine Konfliktfelder. 

Ich sage Ihnen ganz offen: Natürlich bestehen größere (D) 
Konfliktfelder, wenn eine Person neben der deutschen 
auch die türkische Staatsangehörigkeit hat. Das muss 
man in aller Deutlichkeit sagen. Weil Sie Otto von Habs- 
burg angesprochen haben, möchte ich sehr lobend und 
sehr respektvoll erwähnen, dass in Deutschland immer- 
hin 1 Million Bürger lebt, die türkischer Abstammung 
sind und mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit 
haben. Ich ziehe den Hut vor diesen Menschen. 

(Abg. Florian Pronold [SPD] nimmt Platz) 

- Bitte, Herr Pronold, das gehört noch zur Beantwortung 
der Frage, die Otto von Habsburg betrifft. 

(Abg. Florian Pronold [SPD] erhebt sich wie- 
der von seinem Platz) 

Otto von Habsburg war ein großer Befürworter der Ver- 
ständigung zwischen Deutschland und der Türkei. Ge- 
rade die 1 Million Türkischstämmigen, die mittlerweile 
die deutsche Staatsangehörigkeit haben, haben sich ganz 
bewusst für die deutsche Staatsangehörigkeit entschie- 
den und ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben. 

Ich glaube, gerade dieser Personenkreis zeigt, wie mo- 
dern und erfolgreich das deutsche Staatsangehörigkeits- 
recht ist. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Danke, dass Sie sich 
vor uns verneigen!) 

Gleichwohl bietet unser Staatsangehörigkeitsrecht 
ausreichende Möglichkeiten, Härtefällen zu begegnen. 

§12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bietet die Mög- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16479 


Stephan Mayer (Altötting) 

(A) lichkeit, wenn besondere Härten entstehen und die Auf- 
gabe der eigenen Staatsangehörigkeit eine besondere 
Schwierigkeit in vermögensrechtlicher oder anderweiti- 
ger Hinsicht darstellt, die deutsche Staatsangehörigkeit 
zusätzlich zu der ursprünglichen auszureichen. Das wie- 
derum zeigt, dass wir ein modernes und flexibles Staats- 
angehörigkeitsrecht haben, das durchaus allen unter- 
schiedlichen Bedürfnissen in ausreichender Weise 
gerecht wird. 

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Das ist eine Selbsttäuschung! Was 
ist daran modern?) 

Es laufen derzeit zwei Studien, die von der For- 
schungsgruppe am Bundesamt für Migration und Flücht- 
linge durchgeführt werden und in denen die ersten Ergeb- 
nisse des Optionsmodells evaluiert werden. Die Ergeb- 
nisse werden aller Voraussicht nach im ersten Halbjahr 
des kommenden Jahres vorliegen. Ich bitte Sie, meine 
lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: 
Lassen Sie uns erst einmal diese Ergebnisse abwarten. 
Die ersten Personen, die die Optionsmöglichkeit wahr- 
nehmen können, gibt es seit dem Jahr 2008; es ist schon 
erwähnt worden. Jedes Jahr kommen zwischen 3 000 und 
5 000 neue Personen hinzu. Die ersten Personen, die op- 
tieren müssen, haben dafür immerhin bis Ende 2013 Zeit. 

(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Sie sind seit 2008 mit diesem Problem kon- 
frontiert!) 

Es ist momentan viel zu früh, zu sagen, ob sich das Op- 
tionsmodell bewährt hat oder nicht, ob rechtliche 
Schwierigkeiten auftauchen oder nicht. Wir sollten uns 
wirklich die Zeit nehmen, die Ergebnisse der Evaluie- 
rung abzuwarten, und zu gegebener Zeit auch in diesem 
Hause darüber debattieren, wie wir darauf reagieren. 

Ich glaube, dass wir gerade bei dieser gesellschafts- 
politisch relevanten Debatte deutlich machen müssen, 
dass die Ausreichung der deutschen Staatsangehörigkeit 
mehr ist, als nur einen Personalausweis, ein Legitima- 
tionspapier zu überreichen. Es geht bei der deutschen 
Staatsangehörigkeit wie bei der Staatsangehörigkeit ge- 
nerell auch sehr stark darum, ein Bekenntnis zu einem 
Staat abzugeben. Deswegen ist es mir auch so wichtig, 
daraufhinzuweisen, dass wir die Debatte über eine mög- 
liche Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht 
auf dem Altar von Parteipolitik opfern sollten. Es sollte 
schon Konsens hier in diesem Haus sein, dass die Ver- 
fassungstreue und das Bekenntnis zu unserer freiheit- 
lich-demokratischen Grundordnung ein Grundpfeiler des 
deutschen Staatsangehörigkeitsrechts sind. Ich glaube, 
dass man nicht umhinkann, festzuhalten, dass durchaus 
die Gefahr besteht, dass Loyalitätskonflikte bei Personen 
entstehen, die mehrere Staatsangehörigkeiten haben. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Mein Gott, die anderen 
europäischen Länder sind auch nicht unterge- 
gangen!) 

Vor dem Hintergrund bitte ich Sie herzlich, hier nicht 
falsche Ängste zu schüren. Ich halte es für wirklich uner- 


träglich, dass Sie, Frau Kollegin Lötzsch, uns, der Christ- (C) 
lich-liberalen Koalition, vorwerfen, der Fremdenfeind- 
lichkeit in Deutschland Vorschub zu leisten. 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da hat sie 
aber vollkommen recht!) 

Ich glaube, dass dieser Vorwurf wirklich ungebührlich 
ist und der Seriosität und Ernsthaftigkeit der Debatte in 
keiner Weise gerecht wird. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Das ist eine Debatte, die heute zur Unzeit geführt 
wird. Wir haben noch genügend Zeit, wenn die Ergeb- 
nisse der Evaluierung des Optionsmodells vorliegen, uns 
darüber auszutauschen. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Sie finden doch immer 
eine Ausrede! Immer nur verschieben!) 

In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk- 
samkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Frank-Walter Steinmeier für die 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): 

tDl 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und v ’ 
Herren! Dass sowohl der Herr Minister als auch die Frau 
Staatsministerin heute keine Zeit haben, nehmen wir zur 
Kenntnis. Ich muss Ihnen sagen: Es wundert mich nicht. 

Denn die Woche der Festakte ist schließlich vorbei. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hartfrid Wolff 
[Rems-Murr] [FDP]: Der SPD-Parteitag 
kommt erst noch!) 

- Ich weiß gar nicht, was Sie immer mit Parteitagen ha- 
ben. Ich meine, der CDU-Parteitag ist viel näher als un- 
serer. 

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] : Aber ihr 
habt eine Personalentscheidung!) 

Insofern müssten wir schlechte Gedanken haben, was 
Ihre Tagesordnungspunkte angeht. Herr Wolff, da Sie 
schon dazwischenrufen, lassen Sie mich noch eines sa- 
gen: Ich hätte nicht gedacht, dass Sie in der Lage sind, 
das Diskussionsniveau Ihrer Partei doch so nachhaltig zu 
unterschreiten. Das war wirklich auffällig. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Zu Ihrem Hinweis, dass es Konkurrenz innerhalb der 
Opposition gebe, muss ich Ihnen eines sagen: Das 
schreckt mich nicht wirklich, solange ich weiß, dass Sie 
mit solchen Reden dafür sorgen, dass die FDP - jeden- 
falls in Zukunft - außer Konkurrenz läuft. 



16480 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Frank-Walter Steinmeier 

(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Das ist 
wirklich billig!) 

Ansonsten hätte ich mir gewünscht, dass wir diese 
Debatte mit mehr Ernsthaftigkeit führen. 

(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das machen 
Sie ja gerade vor!) 

Deshalb sage ich zu Anfang: Über die doppelte Staatsan- 
gehörigkeit darf man streiten und muss man streiten - 
vielleicht auch heute. Man sollte jedoch vielleicht damit 
beginnen, dass es ein paar Gemeinsamkeiten in diesem 
Hohen Hause gibt. Ich habe das jedenfalls gespürt, als 
wir in der letzten Woche unterwegs waren und die vielen 
Veranstaltungen zu 50 Jahre deutsch-türkisches Anwer- 
beabkommen besucht haben. 

Viele auch Ihrer Redner haben darauf hingewiesen, 
wie sehr diejenigen, die von weit hergekommen sind, 
dieses Land bereichert haben. Die, die hergekommen 
sind, haben hier - weit weg von zu Hause - gearbeitet, 
ohne die Sprache dieses Landes zu verstehen, haben da 
angepackt, wo die Arbeit am schwersten war, haben die 
Kohle aus der Erde geholt, haben als Stahlkocher Hitze 
und Dreck widerstanden, haben auf dem Bau geschuftet 
und Autos zusammengeschraubt. Sie waren diejenigen, 
die dafür gesorgt haben, dass die wirtschaftliche Aufhol- 
jagd in diesem Lande tatsächlich stattfmden konnte. 

Es muss uns auch in einer solchen Debatte klar sein: 
Das war mit den Feierveranstaltungen der letzten Woche 
nicht abgeschlossen. Auch in einer solchen Debatte 

(B) 

muss uns klar sein, dass das deutsche Wirtschaftswun- 
der, dieses Wachstum von beispielloser Stabilität und die 
Steigerung des Wohlstandes, die hier in Deutschland für 
breite Schichten der Bevölkerung - und das nur zwei 
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - 
möglich waren, eben auch getragen waren von der Ar- 
beit von Zehntausenden, von Hunderttausenden von Mi- 
granten. Deshalb sage ich: Unser Erfolg ist auch deren 
Erfolg, und es war in der letzten Woche Zeit, dafür end- 
lich herzlichen Dank zu sagen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Ich lasse jetzt die Reden beiseite, die hier gehalten 
worden sind. Denn wir müssen uns die Frage stellen 
- das sage ich mit großem Ernst -: Was haben die Veran- 
staltungen in der letzten Woche mit dem Streit heute zu 
tun? 

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP] : Was hat 
das mit der Staatsangehörigkeit zu tun?) 

Ich glaube, folgende Frage bleibt: Haben wir damals ei- 
gentlich gewusst, was Arbeitsmigration in der Größen- 
ordnung, wie wir sie erlebt haben, wirklich bedeutete? 
Haben wir gewusst, was sie in der Gesellschaft, aus der 
die Arbeitsmigranten kamen, und was sie in der Gesell- 
schaft, in die viele Neue kamen, um hier zu arbeiten, 
verändert hat? 

Wir in Deutschland haben doch viel zu lange ge- 
glaubt: Das alles ist ein Provisorium. Das alles ist eine 


Übergangslösung. Auch der Sprachgebrauch war verrä- (C) 
terisch: Der Gastarbeiter war eben Gast. Er blieb fremd 
und war nicht vollberechtigter Teil der Gesellschaft. 

Das, was für uns galt, galt aber auch für diejenigen, 
die gekommen sind. Ich habe in der letzten Woche in öf- 
fentlichen Reden gesagt: Auch die türkischen Arbeits- 
emigranten, die kamen, lebten in demselben Proviso- 
rium. Für sie stand der Rückkehrwunsch immer fest. Nur 
der Zeitpunkt hat sich verschoben - erst um Monate, 
dann um Jahre. Es kam die erste Generation der Kinder, 
die in Deutschland geboren war. Dann kam die zweite, 
und jetzt ist es die dritte. 

Das hat natürlich dazu geführt, dass das Band der Ver- 
bundenheit zu unserem Lande immer enger wurde, und 
deshalb würde ich, Herr Mayer, hier nicht laufend von 
Loyalitätskonflikten sprechen. Ich freue mich darüber, 
dass die Verbundenheit zu unserem Lande größer gewor- 
den ist. Es bestehen Konflikte, die wir nicht durch die 
Verweigerung der Änderung des Staatsangehörigkeits- 
rechts bessern oder heilen können. Vielmehr tragen die 
Menschen diesen Konflikt in ihrer Person in sich. Diesen 
Konflikt kann man nicht aufgrund einer einzigen Geset- 
zesänderung lösen. Man kann ihn aber auch nicht durch 
die Verweigerung von Recht lösen, und deshalb müssen 
wir anders und ernsthaft darüber sprechen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Vielleicht können Sie den Weg mitgehen und gemein- 
sam mit uns überlegen, ob wir die politischen Aufgaben 
bewältigt haben, die sich aus der Arbeitsmigration in den (D) 
60er- und 70er-Jahren ergeben. Vielleicht kommen wir 
dann auch zu einem gemeinsamen Ergebnis und können 
feststellen: Wir haben sie wahrscheinlich nicht oder 
nicht ausreichend bewältigt. Darüber würden wir uns im 
Zweifel noch einig sein. Mit Blick auf all das, was ich in 
der letzten Woche von den Rednern der CDU, der CSU 
und der FDP gehört habe, 

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Gehört, 
aber nicht verstanden!) 

lässt sich jedenfalls festhalten, dass eigentlich fast alle 
gesagt haben: Wir sind in der Integration nicht so weit 
gekommen, wie es nötig gewesen wäre und wie viele 
von uns es eigentlich wollten. 

Deshalb muss ich nicht in erster Linie das Hohe Haus 
davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass wir jetzt end- 
lich das nachholen, was wir in der Vergangenheit schul- 
dig geblieben sind. Das sind wir eben nicht nur denjeni- 
gen schuldig, die zugewandert sind, und den hier 
geborenen Kindern und Kindeskindern der Zugewander- 
ten, sondern wir sind es auch uns selbst schuldig. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Wer es nämlich zulässt - das fällt in unsere Verantwort- 
lichkeit als Politiker -, dass in diesem Lande zu viele 
Menschen zu wenige Chancen und nicht gleiche Rechte 
haben, wer das in Kauf nimmt, der setzt den inneren Zu- 
sammenhalt dieser Gesellschaft aufs Spiel. Hier geht es 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 201 1 


16481 


Dr. Frank-Walter Steinmeier 

(A) aber um unsere Zukunft. Die dürfen wir nicht aufs Spiel 
setzen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN - Hartfrid Wolff [Rems-Murr] 
[FDP]: Was hat das mit der Staatsangehörig- 
keit zu tun?) 

Wenn wir über Staatsangehörigkeit als ein Element 
von Integration reden, reden wir also nicht nur über Zu- 
gewanderte und deren Kinder, sondern auch über die Zu- 
kunft dieses Landes. Deshalb sage ich Ihnen: Wer Inte- 
gration wirklich ernst nimmt, der muss auch bereit sein, 
über Staatsangehörigkeit zu reden. Angesichts der Re- 
den, die wir hier vonseiten der Koalitionsfraktionen ge- 
hört haben, und mit Blick auf das, was die Regierung tut 
und insbesondere nicht tut, befürchte ich: Wir tun das 
genaue Gegenteil, 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

indem wir jungen Menschen eine Entscheidung abzwin- 
gen, die sie ganz offenbar nicht in der Lage sind zu tref- 
fen. 


(Serkan Toren [FDP]: Das wissen wir doch 
noch gar nicht!) 

Jetzt sage ich Ihnen eines: Ja, wir haben diese Op- 
tionsregelung mitgetragen. Jetzt, nach zehn, elf Jahren, 
stelle ich mich auch hierher und sage mit Blick auf das, 
was hinter uns liegt: Sie können doch nicht, wo uns sonst 
überall abverlangt wird, gelegentlich einmal zu kontrol- 
lieren, ob wir mit unserer Gesetzgebung erfolgreich ge- 
wesen sind, beim Staatsangehörigkeitsrecht sagen: Da 
dürft ihr euch, bitte, nicht korrigieren. 

(Zuruf des Pari. Staatssekretärs Dr. Oie 
Schröder) 

Nein, umgekehrt verhält es sich! Ich sage mit Blick auf 
die zehn, elf Jahre, die jetzt hinter uns liegen: Wir haben 
damals gemeinsam einen Versuch gemacht. Wir haben 
ein Angebot unterbreitet. Aber wir müssen auch zur 
Kenntnis nehmen, dass dieses Angebot ausgeschlagen 
wird; diese Optionsregelung funktioniert nicht. Deshalb 
können wir sie nicht einfach weiter mit uns herum- 
schleppen. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 
Kollegen Wolff? 

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): 

Selbstverständlich. 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): 

Herr Kollege Steinmeier, Sie haben gerade gesagt, 
dass Sie Ihre Position ändern. Aber es ist doch Tatsache, 
dass die Regelungen, die von Ihnen selbst eingeführt 
wurden, erst seit Anfang dieses Jahres gelten. 


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] : (C) 

Seit 2008!) 

Sie sind aber schnell dabei, Ihre Position zu ändern. Wie 
stehen Sie denn dazu? 


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): 

Herr Wolff, Sie sind offenbar nicht so ganz in der 
Sache drin. Das habe ich an dem Vortrag, den Sie eben 
gehalten haben, auch schon gesehen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Jeder, der sich mit Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts 
wirklich befasst, kann in jedem Jahr mindestens fünf 
große Konferenzen und Tagungen besuchen, bei denen 
regelmäßig alles erreichbare statistische Material vorge- 
legt wird. In diesem Rahmen könnten Sie zur Kenntnis 
nehmen, ob die Bereitschaft jüngerer Zuwanderungsge- 
nerationen besteht, von dieser Option Gebrauch zu ma- 
chen, ja oder nein. Wenn Sie das nicht tun und hier lieber 
so tun, als ob wir über ein Phantom reden würden, zu 
dem noch kein belastbares Material vorliege, liegt das 
wahrlich nicht in der Verantwortung der SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Frau Merkel hat beim Festakt zum Jahrestag des An- 
werbeabkommens gegenüber der türkischstämmigen 
Mitbevölkerung gesagt: 


Sie sind ein Teil von Deutschland. Sie gehören 
dazu. 


(D) 


Das ist richtig; aber das ist natürlich zunächst einmal 
leicht gesagt. Was heißt das eigentlich genau? Das ent- 
scheidende Element von Zugehörigkeit zu einem Ge- 
meinwesen ist doch ganz ohne Zweifel die politische 
Teilhabe, das heißt die Teilhabe als Staatsbürgerin und 
Staatsbürger dieses Landes. Deshalb sage ich: Wenn das, 
was Frau Merkel hier richtigerweise gesagt hat, mehr 
sein soll als ein Lippenbekenntnis, dann kommen wir 
nicht umhin, allen dauerhaft hier lebenden Menschen die 
faire Chance zu geben, Bürgerin oder Bürger dieses Lan- 
des zu werden - mit allen Rechten und Pflichten; das ge- 
hört dazu. Aber wir müssen es machen. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Natürlich haben Sie recht, Herr Mayer, wenn Sie da- 
raufhinweisen, dass viele bei uns lebende Menschen aus 
Einwandererfamilien eingebürgert sind. Ja, das gibt es. 
Natürlich ist es auch richtig, dass allen Eingewanderten 
diese Option prinzipiell offensteht. Die Frage ist jedoch, 
zu welchem Preis. Darum geht es doch, wenn wir uns 
fragen, warum das Angebot der deutschen Staatsangehö- 
rigkeit ausgeschlagen wird. Wir verlangen die Aufgabe 
der bisherigen Staatsangehörigkeit. Offenbar ist es mit 
der Identität aber nicht ganz so einfach, wie wir uns das 
vor zwölf Jahren bei unseren politischen Entscheidungen 
vorgestellt haben. Schwarz oder weiß, Inländer oder 
Ausländer, das ist für diese Generation eben nicht mehr 
die Frage; denn sie fühlt beides. Die Begründung mit 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Frank-Walter Steinmeier 

(A) dem Loyalitätskonflikt ist der falsche Ansatz. Wir müs- 
sen uns der Realität stellen. Es sind Menschen, die die- 
sen Identitätskonflikt in sich spüren. Aber das ist kein 
Grund, ihnen die Staatsangehörigkeit zu verweigern. 
Das ist die Verweigerung von Politik. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. 

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): 

Ich muss zum Ende kommen. Deshalb verweise ich 
auf unseren Gesetzentwurf, den wir hier unterbreitet ha- 
ben. Wir bitten Sie - jenseits der Reden, die dazu in der 
Vergangenheit und auch heute im Parlament gehalten 
worden sind diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. 

Lassen Sie mich abschließend den Herrn Bundesprä- 
sidenten zitieren, der kürzlich in einer Rede zum 20. Jah- 
restag der deutschen Einheit gesagt hat: Der Satz „Wir 
sind ein Volk“ sollte heute mehr denn je auch als Einla- 
dung an alle, die hier leben, verstanden werden, ob ein- 
gewandert oder nicht. - Lassen Sie uns Ernst machen da- 
mit! 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

(B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Serkan Toren für die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Serkan Toren (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Herr Steinmeier, ich habe mich offenbar im Gegensatz 
zu Ihnen mit Ihrem Gesetzentwurf beschäftigt. Sie haben 
im Zusammenhang mit der doppelten Staatsangehörig- 
keit gesagt, man müsse in diesem Rahmen nicht über 
Loyalitätskonflikte sprechen. Ich zitiere aus Ihrem Ge- 
setzentwurf: 

Zum anderen finden sich viele der betroffenen Ju- 
gendlichen in einem Loyalitätskonflikt wieder. 

Insofern sollten Sie sich vielleicht mit Ihrem Gesetzent- 
wurf beschäftigen, bevor Sie hier in Ihrer Rede nur all- 
gemeinpolitische Ausführungen zur Integration ma- 
chen, ohne auf die Sache zu kommen. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der 
CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Lesen Sie 
mal das Protokoll!) 

Zudem habe ich mich sehr über den Zeitpunkt gewun- 
dert. Sie haben das vor 50 Jahren geschlossene Anwerbe- 
abkommen zwischen Deutschland und der Türkei ange- 
führt. Die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit 
soll in Ihren Augen eine Art Belohnung sein. Wenn Ih- 
nen wirklich etwas an einer Belohnung liegt - oder las- 


sen Sie mich besser sagen: an einer Anerkennung und (C) 
Wertschätzung dann hätten Sie heute beispielsweise 
über das Anerkennungsgesetz sprechen können, das die 
christlich-liberale Koalition beschlossen hat. Denn künf- 
tig hat die türkische Krankenpflegerin endlich ein Recht 
auf Prüfung ihrer Qualifikationen. Künftig darf sich die 
jordanische Ärztin endlich auch als solche in Deutsch- 
land niederlassen. Das, was wir als christlich-liberale 
Koalition damit leisten, 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Aydan Özoguz [SPD]: Das 
habt ihr euch doch nicht ausgedacht!) 

ist viel mehr an Integration als das, was Sie in Ihrer Re- 
gierungszeit vorgelegt haben oder jetzt Vorschlägen. 

Heute geht es um gleiche Chancen. Es muss um die 
Möglichkeit gehen, sein Leben in Deutschland selbst in 
die Hand zu nehmen. Das ist Respekt und Wertschät- 
zung. Die doppelte Staatsangehörigkeit hier als Beloh- 
nung anzuführen, 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das macht ihr doch 
selber!) 

ist doch völlig absurd und zeigt einmal mehr: Sie sind im 
Oktober 1961 stehengeblieben, mit einem patriarchali- 
schen und gönnerhaften Blick auf Migranten. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Das macht die Union!) 

Unser Ziel ist es, aus Migranten Bürger dieses Landes 
zu machen, Bürger, die sich verantwortlich fühlen, parti- 
zipieren und Deutschland mitgestalten. Genau das 
wollen auch die meisten Migranten. Wir tun doch nie- 
mandem einen Gefallen, wenn wir die doppelte Staats- 
angehörigkeit großzügig und karitativ als Bonus ver- 
teilen, am besten noch ohne irgendwelche Voraus- 
setzungen. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Wer tut denn das?) 

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht: Das Staats- 
angehörigkeitsrecht ist gut, wie es ist, und wir müssen 
uns keine Gedanken um dessen Modernisierung machen. 

Ganz im Gegenteil! Das sage ich hier ganz klar. Aber 
wir müssen erst einmal die Evaluation des Optionsmo- 
dells abwarten. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Die FDP duckt sich 
weg! Das ist die Tatsache!) 

Ich sage Ihnen auch, weshalb. Entgegen Ihren Ausfüh- 
rungen höre ich nämlich sehr Unterschiedliches von den 
Einbürgerungsbehörden. Viele vermelden erfreulicher- 
weise eine sehr klare Tendenz bei den jungen Migranten 
für die deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig variie- 
ren die Rückmeldungsquoten sehr stark. Einige Behör- 
den haben hohe Rückmeldungsquoten, andere kaum 
welche. Einer der Gründe hierfür liegt in der sehr unter- 
schiedlichen Leistungsfähigkeit und dem Dienstleis- 
tungscharakter der einzelnen Behörden. Aber das ist ein 
anderes Thema. Wer also bereits jetzt für ganz Deutsch- 
land ein klares Fazit zieht und die Optionspflicht als ge- 
scheitert abtut, arbeitet nicht seriös. Deshalb sage ich: 
Lassen Sie uns die Evaluation abwarten! 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16483 


Serkan Toren 

(A) Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Thema Einbürge- 
rung ist in Deutschland kein Selbstläufer. Hier haben 
Einwanderer mit einer Niederlassungserlaubnis bereits 
sehr weitgehende Rechte. Politische Partizipation in 
Form von Wahlen hat derzeit leider keine Hochkonjunk- 
tur. Wirkliche Anreize insbesondere für gut integrierte 
Einwanderer fehlen. Zudem haben einige Debatten in 
vergangener Zeit nicht zur viel zitierten Willkommens- 
kultur bzw. Anerkennungskultur beigetragen. Deshalb 
gilt: Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit 
werben, ich meine nicht: für eine Urkunde, sondern für 
unser wunderbares Land und unsere Gesellschaft als sol- 
che. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Machen wir uns nichts vor: Ein Einbürgerungstest oder 
ein Stück Papier macht noch keinen loyalen, partizipie- 
renden Bürger aus. Das gilt für alle Deutschen - ob mit 
Zuwanderungsgeschichte oder ohne. 

Wir werden diese Debatte verstärkt und engagiert 
führen, die Evaluation des Optionsmodells abwarten und 
Ihre Ablenkungsmanöver nicht mitmachen. 

Zum Schluss eine kurze Bemerkung zu meiner Per- 
son. Ich war bis vor einigen Jahren Doppelstaatler, habe 
mich dann aber entschieden, die türkische Staatsbürger- 
schaft abzugeben. Der Grund dafür war, dass Deutsch- 
land meine Heimat geworden ist, dass ich zu dieser Ge- 
sellschaft gehöre und ein Teil davon bin. 

(Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch gut! 

(B) Das ist okay!) 

Eine praktische Erwägung war, dass ich keinen Militär- 
dienst ableisten musste. Diese Frage wird auf viele zu- 
kommen. Ich bin mit meiner Entscheidung sehr glück- 
lich. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Aydan Özoguz [SPD] : Aber müssen es deshalb 
alle machen? Das ist doch eine Option!) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Sevim Dagdelen für die Fraktion 
Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist zu 
begrüßen, dass der 50. Jahrestag des deutsch-türkischen 
Anwerbeabkommens Anlass bietet, im Deutschen Bun- 
destag über das Thema Einbürgerungserleichterungen 
und über das Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt zu de- 
battieren. Aber ich muss auch sagen, Herr Steinmeier: Ihr 
Dankeschön an die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, 
die vor 50 Jahren nach Deutschland gekommen sind und 
ihre Familien nachgeholt haben - so war es beispiels- 
weise auch in meiner Familie der Fall -, lässt zu wün- 
schen übrig. Auf Ihr Dankeschön in Form von Hartz IV, 
Leiharbeit, 


(Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie noch 
etwas anderes drauf? - Weitere Zurufe von der 
SPD) 

Zerstörung der gesetzlichen Rente und einer Praxisge- 
bühr hätten diese Millionen von Menschen verzichten 
können. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Schauen Sie sich einmal die Zahlen an, die zeigen, wie 
es den Menschen geht, die von Altersarmut, von einer 
doppelt so hohen Arbeitslosigkeit und von einer über- 
proportional hohen Beschäftigungsquote im Niedrig- 
lohnbereich betroffen sind. Wenn Sie diesen Menschen 
auch angesichts der Tatsache, dass Sie ihnen in der Ver- 
gangenheit etwas schuldig geblieben sind, wirklich 
Danke sagen wollen, dann sollten Sie erst einmal die 
Fehler beseitigen, die Sie während der elf Jahre Ihrer Re- 
gierungszeit gemacht haben. Dann werden die Men- 
schen Ihr Dankeschön ernst nehmen. 

(Beifall bei der LINKEN - Thomas 
Oppermann [SPD]: Wir wollen uns nicht mit 
Hartz IV bedanken, sondern mit Arbeitsplät- 
zen!) 

Auch bei den Einbürgerungszahlen kann die Linke 
das Eigenlob - ich sage nur, dass Eigenlob stinkt - von 
SPD und Grünen nicht nachvollziehen. Die Einbürge- 
rungszahlen des letzten Jahres, also 2010, sind mit rund 
100 000 immer noch niedriger als vor zehn Jahren, als 
das antiquierte deutsche Reichs- und Staatsangehörig- 
keitsgesetz aus dem Jahre 1913 galt. 

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Die Rede passt nicht zum Abstim- 
mungsverhalten!) 

Warum ist das so? Sie von der SPD haben während Ihrer 
Regierungszeit, ob es in der rot-grünen Koalition oder in 
der Großen Koalition war, durchweg für Verschlechte- 
rungen gesorgt. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung 
der Anforderungen an Sprachkenntnisse von Al auf Bl. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Warum ist das für die Linke ein Problem, und warum 
verlangt die Linke umfassende Erleichterungen bei der 
Einbürgerung? Das Bundesverfassungsgericht spricht 
von einem Demokratiedefizit in Deutschland, das darin 
liegt, dass Millionen von Menschen die politische Mit- 
bestimmung durch Wahlen versagt bleibt, obwohl sie im 
Durchschnitt seit fast 20 Jahren in Deutschland leben. 
Wir von der Linken wollen nicht, dass immer mehr Men- 
schen über einen längeren Zeitraum in Deutschland le- 
ben, ohne die gleichen Rechte zu haben, ohne ihren Be- 
ruf frei wählen zu können oder nach 20 Jahren festem 
Aufenthalt nicht vor Ausweisung sicher zu sein. Deshalb 
brauchen wir keine Sprechblasen über Willkommenskul- 
tur, sondern endlich gleiche Rechte. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wenn Sie von der Regierungskoalition immer mit Ih- 
rem anachronistischen Popanz von vermeintlichen Loya- 
litätskonflikten bei Menschen mit mehr als einem Pass 
kommen, dann muss ich sagen: In der Praxis ist die 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Sevim Dagdelen 

(A) Mehrstaatigkeit doch längst Realität. Die Mehrzahl der 
Einbürgerungen in Deutschland geschieht unter Beibe- 
haltung der alten Staatsangehörigkeit. Mehr als 57 Pro- 
zent aller Eingebürgerten sind Doppelstaatler, das sind 
mehr als 4,5 Millionen Menschen. Es wird überhaupt 
nicht darüber diskutiert, ob diese Menschen Loyalitäts- 
konflikte haben. Ebenso wenig wird darüber diskutiert, 
dass in elf EU-Staaten die Situation ähnlich ist. Wenn es 
nicht Ausdruck eines wirklichen Ausgrenzungswillens 
wäre, wäre das Ganze zum Lachen, Herr Kollege Mayer. 

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 

Wer heute noch dem Prinzip der Einstaatigkeit anhängt, 
folgt eher dem Prinzip der Einfältigkeit. Das ist bei Ih- 
nen aber nichts Neues. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ich bin dankbar für die neue Ehrlichkeit in der CDU/ 
CSU-Fraktion. Im Innenausschuss gab es gestern eine 
bemerkenswerte Klarstellung des Kollegen Mayer von 
der CDU/CSU -Fraktion. Er bekannte unmissverständ- 
lich, dass Mehrfachstaatsangehörigkeiten bei EU- Ange- 
hörigen ja kein Problem seien. Zum Problem würden sie 
aber, wenn es um türkische Staatsangehörigkeiten gehe. 
Ich kann nur sagen: Wir haben verstanden. Sie halten 
Menschen, die entweder aus der Türkei eingewandert 
oder die hier geboren und aufgewachsen sind und zufäl- 
lig die türkische Staatsangehörigkeit haben, für eine be- 
sondere Bedrohung und potenzielle Gefahr. Wenn das 
nicht rassistisch und fremdenfeindlich ist, was ist es 

(B) da “ ? 

(Beifall bei der LINKEN - Ingo Wellenreuther 
[CDU/CSU]: Langsam! Langsam!) 

Zum Schluss möchte ich vorwegnehmen - meine 
Kollegin Frau Lötzsch hat es schon gesagt Die Linke 
wird den Gesetzentwürfen von der SPD und den Grünen 
zustimmen, und das, obwohl sie unglaubwürdig sind. 
Das gilt insbesondere für den Antrag der SPD. Sie waren 
elf Jahre lang pausenlos in der Regierung und haben die 
Einbürgerungszahlen, die in den letzten Jahren katastro- 
phal niedrig sind, mit zu verantworten. Aber nicht nur 
das. Sie haben vor noch nicht allzu langer Zeit hier im 
Bundestag unsere Verbesserungsvorschläge zum Staats- 
angehörigkeitsgesetz und zu anderen Themen wie dem 
kommunalen Wahlrecht für Drittstaater genauso abge- 
lehnt, wie Sie es gestern im Innenausschuss getan haben. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE): 

Ich komme zum Schluss. - Glaubwürdig sind Sie aber 
erst dann, wenn Sie unseren Verbesserungsvorschlägen 
zustimmen und solcherlei Anträge nicht nur vorlegen, 
wenn Sie in der Opposition sind, - 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. 


Sevim Dagdelen (DIE LINKE): 

- sondern auch als Regierungspartei. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle- 
gen Christian Ströbele. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Frau Kollegin, Sie haben uns Eigenlob vorgeworfen. 
Ich sage Ihnen: Wir haben Lob verdient, obwohl wir 
1999 ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, das die be- 
sagte Optionsregelung enthält, von der wir schon damals 
wussten, dass sie ein Fehler war. 

Ich habe dieser Regelung damals zugestimmt, und 
zwar deshalb, weil nach der Hessen- Wahl im Jahr 1999 
mehr einfach nicht drin war. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Ich stand vor der Frage: Soll ich diesem Gesetz nicht zu- 
stimmen und damit Hunderttausenden in Deutschland 
geborenen Kindern von Migranten die deutsche Staats- 
bürgerschaft verweigern, oder soll ich diesem Gesetz in 
Kenntnis dessen zustimmen, dass es Hunderttausenden 
zugutekommen wird, die damit automatisch die deutsche 
Staatsbürgerschaft erwerben? Bereits damals habe ich 
gesagt: Diese Regelung ist im Grunde falsch; wir müs- 
sen sie aufheben, wenn es zum Schwur kommt, also 
etwa zehn Jahre später. Ich halte es nach wie vor für 
richtig, dass wir damals diese Entscheidung getroffen 
haben. Zwingend notwendig ist aber, dass diese Rege- 
lung jetzt korrigiert wird. 

Lob haben wir verdient, weil wir damit Zehntausen- 
den von jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ermög- 
licht haben, durch ihre Geburt in Deutschland die deut- 
sche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und wir damit das 
Dogma gebrochen haben, dass die Staatsbürgerschaft 
nur über die Blutsverwandtschaft vermittelt werden 
kann. Die Entscheidung damals war richtig und gut; sie 
war notwendig. Heute ist es richtig, es endgültig so zu 
regeln, dass es für diese Leute keinerlei Zumutungen 
gibt. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile 
ich Kollegen Stephan Mayer. 

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): 

Frau Kollegin Dagdelen, Sie haben meine Äußerungen 
in der gestrigen Sitzung des Innenausschusses erwähnt. 
Ich möchte Sie darauf hinweisen und darf Sie bitten, zur 
Kenntnis zu nehmen, dass ich türkische Staatsangehörige 
nicht als „Problem“, schon gar nicht als „Bedrohung“ be- 
zeichnet habe. Ich habe auf folgenden Umstand hinge- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16485 


Stephan Mayer (Altötting) 

wiesen - ich tue das auch hier in aller Deutlichkeit Die 
doppelte Staatsangehörigkeit von EU- Staatsangehörigen 
innerhalb der Europäischen Union ist deshalb kein Pro- 
blem, weil es schon aufgrund des EU-Rechts heute so ist, 
dass EU-Staatsangehörige in Deutschland auch dann, 
wenn keine doppelte Staatsangehörigkeit besteht, fast 
alle Rechte haben, die auch Deutschen zustehen. Deshalb 
ist die Ausreichung der doppelten Staatsangehörigkeit 
auch ohne das Gegenseitigkeitsprinzip kein Problem. 

Ich habe aber mitnichten behauptet, dass türkische 
Staatsangehörige eine „Bedrohung“ für unsere Gesell- 
schaft darstellen. Ich muss mich deshalb wirklich in aller 
Entschiedenheit auch insoweit gegen Ihre Äußerungen 
wenden, dass Sie mir „rassistische“ Erwägungen unter- 
stellt haben. Das muss ich in aller Deutlichkeit von mir 
weisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen: 
Ich bin dankbar und froh, wenn sich türkische Staatsan- 
gehörige in Deutschland so verwurzelt fühlen, dass sie 
sich um die deutsche Staatsangehörigkeit bemühen und 
darum bewerben. Mittlerweile gibt es immerhin schon 
über 1 Million türkischstämmige Bürger in Deutschland. 
Ich möchte betonen: Ich bin froh um jeden türkischen 
Staatsangehörigen, der sich in Deutschland integriert hat 
und am Ende des erfolgreichen Integrationsprozesses die 
deutsche Staatsangehörigkeit annimmt. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Kollegin Dagdelen, bitte schön. 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE): 

Zunächst wende ich mich an den Kollegen Ströbele. 
Herr Ströbele, es kann sein, dass Sie wieder einmal einen 
Abwägungsprozess hatten, wie es bei der Griinen-Frak- 
tion in den letzten Jahren - auch bei den Themen Krieg 
und Frieden - oftmals der Fall war, 

(Zuruf von der SPD: Das habt ihr auch gar 
nicht nötig! - Britta Haßelmann [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr stimmt doch 
gleich zu! Macht doch nicht so eine Welle!) 

und Sie sich vielleicht gezwungen sahen, zwischen ei- 
nem größeren und einem kleineren Übel zu entscheiden. 

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Was Sie da reden, passt doch nicht!) 

Das Problem ist doch Folgendes: Die Migrantinnenorga- 
nisation, in deren Geschäftsführung ich damals war und 
noch heute bin, hat diese Entscheidung damals, wie viele 
andere Organisationen auch, als einen faulen Kompro- 
miss bezeichnet; aber Sie wenden nur Lob und keinerlei 
Selbstkritik an. Sie haben mit Ihrem Gesetz dafür ge- 
sorgt, dass Zehntausende Menschen die deutsche Staats- 
angehörigkeit verloren haben. 

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 

Sie haben mit dafür gesorgt, dass sich junge Menschen 
für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. 


Die Zahlen sprechen doch eine klare Sprache: In Zei- (C) 
ten des alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 
hatten wir über 140 000 Einbürgerungen im Jahr; mit Ih- 
rem Gesetz haben Sie für einen stetigen Rückgang ge- 
sorgt. Wir haben jetzt nur noch rund 100 000 Einbürge- 
rungen im Jahr. Sie müssen doch auch diese Realitäten 
anerkennen. Sie dürfen sich nicht nur loben, sondern 
müssen auch einmal Selbstkritik anwenden und sagen: 

Wir haben auch Fehler gemacht. - 

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 

Diese Fehler muss man aber irgendwann auch einmal 
korrigieren. Wenn Sie diesen Weg gehen würden, wären 
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um einiges glaub- 
würdiger. 

Zu Herrn Mayer muss ich sagen: Herr Mayer, jetzt 
können Sie natürlich behaupten, Sie hätten es so nicht 
gesagt. Aber Sie haben es eigentlich mit Ihren Aussagen 
gestern im Innenausschuss so deutlich gemacht. Sie ha- 
ben gesagt, dass bei den EU-Mitgliedstaatsangehörigen 
die doppelte Staatsangehörigkeit sowieso erlaubt ist und 
Sie da kein Problem sehen, es aber ein Problem wäre, 
wenn man jetzt so vielen türkischen Staatsangehörigen 
auf einmal die deutsche Staatsangehörigkeit unter Hin- 
nahme einer mehrfachen Staatsangehörigkeit geben 
würde. Insoweit lässt das natürlich die Vermutung zu, 
dass Sie bei denen eine Bedrohung sehen - Ihr Popanz 
von vermeintlichen Loyalitätskonflikten -, aber bei de- 
nen, die aus den EU -Mitgliedstaaten kommen, nicht. 

Die Zahlen aus Ihrem Bundesland Bayern machen es 
eigentlich deutlich. Ich habe mir vom Statistischen Bun- 
desamt die Einbürgerungsquoten türkischer Staatsange- 
höriger, differenziert nach Bundesländern, geben lassen: 
Während sie im Jahr 2010 im Bundesdurchschnitt bei 
1,6 lag, betrug sie in Bayern gerade einmal 1,0. Was aber 
noch viel krasser ist: Während im Bundesdurchschnitt 
27,7 Prozent der türkischen Staatsangehörigen ihre alte 
Staatsangehörigkeit nach der Einbürgerung behalten 
konnten, waren es in Bayern lächerliche 3,7 Prozent, 
also 78 Personen. Das heißt, Bayern hat eine rigide Pra- 
xis bei der Frage, was es heißt, wenn Menschen ihre alte 
Staatsangehörigkeit behalten wollen - besonders bei tür- 
kischen Staatsangehörigen. 

Ihre Ausführungen gestern im Innenausschuss bestä- 
tigen wieder einmal mehr, dass Sie ein Problem bei den 
Türkinnen und Türken sehen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Memet Kilic für die Fraktion Bünd- 
nis 90/Die Grünen. 

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin 
meinem Kollegen Hans-Christian Ströbele dankbar, dass 
er einiges richtiggestellt hat. 

Liebe Frau Dagdelen, Sie haben gesagt, dass Sie un- 
seren Gesetzentwürfen zustimmen werden, obwohl diese 
unglaubwürdig seien. Das wundert mich bei Ihrer Partei 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Memet Kilic 


(A) nicht. Eine Partei, die einfache Utopien zum Parteipro- 
gramm erklärt, kann auch Unglaubwürdigem zustim- 
men; das ist kein Widerspruch für Sie, Frau Dagdelen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Mich wundert aber, dass die Regierungsfraktionen die 
Frage gestellt haben, warum wir unsere Gesetzentwürfe 
zur Erleichterung der Einbürgerung ausgerechnet jetzt 
ins Plenum einbringen. Warum nicht? Das größte Einbür- 
gerungspotenzial liegt bei den türkeistämmigen Einwan- 
derern. Wir haben gerade vor einer Woche das 50-jährige 
Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei 
und Deutschland gewürdigt. Auch die Regierungspar- 
teien haben sich für die Verdienste dieser Menschen, ins- 
besondere derjenigen der ersten Generation, bedankt. 
Meine Oma pflegte immer zu sagen: Was nützt mir eine 
trockene Danksagung? Wenn wir uns bedanken, muss 
wenigstens ein bisschen Saft dabei sein. - Meine Oma 
hatte recht, meine Damen und Herren. 

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
SPD) 

Herr Kauder, zur Aktualität Ihrer Inhalte beim Staats- 
angehörigkeitsrecht: Diese sind etwas älter als meine 
Oma. 

(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) 

Deshalb sollten Sie überdenken, ob Sie Ihre Inhalte nicht 

(B) ändern wollen. Gerade Einwanderer der ersten Genera- 
tion besitzen bekanntermaßen lückenhafte Sprachkennt- 
nisse, und ihre Rente reicht trotz jahrzehntelanger Arbeit 
oftmals nicht ganz aus. Ausgerechnet diese Menschen 
faktisch von der Einbürgerung auszuschließen, ist keine 
Danksagung, sondern eher eine Verhöhnung dieser Ge- 
neration. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Daher wollen wir mit unserem Gesetzentwurf die Ein- 
bürgerung insbesondere für Rentnerinnen und Rentner 
sowie für ältere Menschen erleichtern, indem wir uns 
mit Kenntnissen der gesprochenen Sprache begnügen 
und die Inanspruchnahme von Grundsicherung im Alter 
für unschädlich erklären. 

Wenn wir die Großmütter und Großväter aufgrund feh- 
lender deutscher Sprachkenntnisse oder fehlender finan- 
zieller Kraft von der Einbürgerung ausschließen, bürgern 
wir auch die Enkelkinder emotional aus. Das ist nicht gut 
für unser Land. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Wir müssen den Enkelkindern die Möglichkeit geben, 
dass auch sie sagen können, ihre Großeltern seien eben- 
falls deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewe- 
sen. Das ist gut für unser Land, liebe Freundinnen und 
Freunde. Das müssen wir tun. 


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Die FDP hat gefragt, warum wir jetzt die Abschaf- 
fung des Optionszwangs fordern, obwohl für die jungen 
Menschen die gesetzlichen Regelungen gerade erst rele- 
vant werden. 50 000 junge Menschen mit Ausbürgerung 
zu konfrontieren und dann erst über den Sinn dieser Re- 
gelung zu entscheiden, ist keine fürsorgliche liberale 
Position, liebe FDP. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD - Zuruf von der FDP: Herr 
Schröder hat es gerade erklärt!) 

Wir wollen nicht, dass sich viele junge Menschen zwi- 
schen den beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden 
müssen, mit denen sie groß geworden sind. Herr Stephan 
Mayer von der CSU und Herr Schröder haben im Innen- 
ausschuss angebliche Loyalitätskonflikte von Doppel- 
staatlem als Gegenargument vorgeschoben und meinten, 
dass ein Mensch nicht Diener zweier Herren sein könne. 
Dies zeugt von einem veralteten Staatsverständnis. Indi- 
viduen sind keine Untertanen der Staaten, sondern ste- 
hen als freie Bürger in einem Rechtsverhältnis zu dem 
Souverän - mit allen Rechten und Pflichten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Unionsbürger können Doppelstaatler sein. Sie müssen 
also erklären, warum Menschen Diener von 27 Staaten 
sein können, aber nicht von zwei. Diese Erklärung sind 
Sie uns schuldig. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 
DIE GRÜNEN) 

Ich habe gestern im Innenausschuss vorsichtig davor 
gewarnt, diese Argumentation auch angesichts der zahl- 
reichen binationalen Ehen nicht zu verwenden. Mit die- 
ser Argumentation diskreditieren sie die binationalen 
Ehen und unterstellen den daraus hervorgegangenen 
Kindern, dass sie gegenüber Deutschland illoyal wären. 
Das ist hirnrissig und ideologisch gesehen verheerend 
separatistisch. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Mehrstaatigkeit ist weder eine Ausnahme noch ein 
Tabu, sie ist vielmehr eine Lebenswirklichkeit im Ein- 
wanderungsland Deutschland. Lassen Sie uns die Ein- 
wanderinnen und Einwanderer nicht ausschließen, son- 
dern sie als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger 
gewinnen. 

Vielen herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kolle- 
gen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile 
ich Kollegen Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU das 
Wort. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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(A) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Zur Debatte stehen heute Gesetzentwürfe von 
SPD und Grünen sowie ein Antrag der Linken über eine 
Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts. Um es gleich 
vorweg zu sagen und damit dem Kollegen Mayer recht 
zu geben: Sie kommen mit Ihren Anträgen wieder ein- 
mal zur Unzeit; denn wir haben im Koalitionsvertrag be- 
schlossen, das Optionsmodell bzw. das Staatsangehörig- 
keitsrecht generell grundlegend zu überprüfen. Das 
nehmen wir ernst. Wir lassen derzeit umfassende wis- 
senschaftliche Untersuchungen dazu durchführen, deren 
Ergebnisse im ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu 
erwarten sind. Damit ist klar: Sie wollen heute mit dem 
Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ den Bundestag 
wieder einmal zur Bühne für eine Schauveranstaltung 
machen. Das machen wir nicht mit. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Den Gesetzentwürfen der SPD und der Grünen ist un- 
ter anderem gemeinsam, dass nicht nur das sogenannte 
Optionsmodell abgeschafft werden soll, sondern auch 
das Prinzip, mehrfache Staatsangehörigkeit zu vermei- 
den, aufgegeben werden soll. Auf beide Punkte werde 
ich gleich eingehen. 

Zuvor noch einige Worte zu dem noch viel weiterge- 
henden Antrag der Linken: Die Linken wollen Einbürge- 
rungen umfassend erleichtern und haben vor, die Staats- 
angehörigkeit geradezu mit der Gießkanne zu verteilen. 
Auf ausreichende Deutschkenntnisse oder Kenntnisse 
über unseren Staatsaufbau, unsere Rechts- und Gesell- 
schaftsordnung, unsere Werte oder unsere Geschichte 
will die Linke verzichten und eine Einbürgerung nicht 
mehr davon abhängig machen. Wesentliche Grundbedin- 
gungen, um ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen zu las- 
sen, fehlen somit. Selbst nicht unerheblich straffälligen 
Ausländern oder Ausländern, die sich jahrelang unrecht- 
mäßig in Deutschland aufgehalten haben, soll der deut- 
sche Pass verliehen werden. Das Einzige, was die Linke 
damit befördert, sind Parallelgesellschaften. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Insgesamt ist das unseres Erachtens ein integrationspoli- 
tischer Blindflug. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat für 
die Linke ganz offensichtlich weder einen rechtlichen 
noch einen emotionalen Wert. Ihre Forderungen offenba- 
ren nur eines: Die Linke hat ein gestörtes Verhältnis zur 
nationalen Identifikation. Eine darüber hinausgehende 
Auseinandersetzung mit Ihrem Antrag können Sie daher 
von uns nicht erwarten. 

Ich möchte zunächst Ausführungen zur Optionspflicht 
machen. 1999 wurde das Staatsangehörigkeitsrecht geän- 
dert. Seitdem kann man die deutsche Staatsangehörigkeit 
nicht nur durch Abstammung oder Einbürgerung, son- 
dern auch durch Geburt erwerben. Die damals einge- 
führte Optionspflicht beinhaltet, dass sich ein Kind mit 
Eintritt der Volljährigkeit bis zum 23. Lebensjahr ent- 
scheiden muss, ob es die deutsche Staatsangehörigkeit 
oder aber die ausländische Staatsbürgerschaft eines sei- 
ner Eltemteile, die es durch Abstammung erworben hat. 


behalten will. Falls es sich in diesen fünf Jahren zwi- 
schen dem vollendeten 18. und 23. Lebensjahr nicht ent- 
scheidet, geht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, 
und zwar automatisch. Kein Mensch verlangt dabei, per- 
sönliche Verbindungen zu anderen Ländern oder famili- 
äre Wurzeln zu kappen. Vielmehr geht es bei der Op- 
tionspflicht um die Entscheidung, welchem Land man 
mit all seinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten 
zugehörig sein will. 

Im Zuge des Optionsmodells konnten durch eine 
Übergangsregelung auch Kinder, die am 1. Januar 2000 
das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, auf 
Antrag eingebürgert werden. 50 000 haben davon Ge- 
brauch gemacht. Die ersten dieser Kinder wurden somit 
im Jahr 2008 18 Jahre alt und müssen sich deshalb bis 
spätestens 2013 entscheiden. In den kommenden Jahren 
bis 2017 erreichen jährlich lediglich zwischen rund 
4 000 und 6 500 Jugendliche aus der Übergangsregelung 
das Optionsalter. Ab dem Jahr 2018 werden es circa 
40 000 Jugendliche pro Jahr sein. 

Im Koalitionsvertrag unserer christlich-liberalen Ko- 
alition haben wir festgehalten, dass wir eine nennens- 
werte Anzahl der ersten Optionsfälle auswerten und die 
Ergebnisse anschließend sowohl in verfahrenstechni- 
scher als auch in materieller Hinsicht auf möglichen Ver- 
besserungsbedarf hin überprüfen wollen. Dazu brauchen 
wir über die tatsächlichen Fälle Informationen, die von 
den Ländern bis zum 31. Januar 2012 erbeten wurden. 
Außerdem ist uns wichtig, zu erfahren, wie die Betroffe- 
nen selbst die Sache sehen und welche Entscheidung sie 
im Rahmen der Optionspflicht treffen. Genau dies unter- 
sucht die Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migra- 
tion und Flüchtlinge in umfassenden Studien. Die Ergeb- 
nisse der Evaluierungen und Studien werden erst in der 
ersten Hälfte des Jahres 2012 vorliegen. Schon allein 
deshalb sind die vorliegenden Gesetzentwürfe heute ab- 
zulehnen. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der 
Kollegin Özoguz? 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): 

Nein, in Anbetracht der vorangeschrittenen Zeit 
komme ich zum Ende meiner Rede. 

Parallel dazu überprüfen wir generell das Einbürge- 
rungsrecht und das Einbürgerungsverfahren. Sehr erfreu- 
lich in diesem Zusammenhang ist übrigens, dass die 
Zahl der Einbürgerungen im letzten Jahr um 5,6 Prozent 
im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist, bei einem 
leichten Rückgang des Anteils der Einbürgerungen mit 
fortbestehender Staatsangehörigkeit. 

Wir werben dafür, dass möglichst viele, die die Ein- 
bürgerungsvoraussetzungen erfüllen, unsere Staatsbür- 
gerschaft annehmen - Herr Kollege Mayer hat bereits 
daraufhingewiesen denn dadurch wird die Zugehörig- 
keit zu unserem Land und die wechselseitige Verantwor- 
tung seiner Bürger am stärksten ausgedrückt. Wir wollen 
aber - darauf kommt es auch mir an - gut integrierte 
Ausländer, die Deutschland als ihre Heimat empfinden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ingo Wellenreuther 

(A) und sich einbürgern lassen, weil sie Deutsche werden 
wollen, und nicht, weil sie unter Beibehaltung ihrer 
Staatsbürgerschaft lediglich die Vorteile einer deutschen 
Staatsbürgerschaft zusätzlich in Anspruch nehmen wol- 
len. Das ist ein innerer Prozess, den der Staat fördern 
muss. Das ist nicht einfach. Das ist mühsam. Wir sind 
der Auffassung, dass SPD und Grüne es sich mit der ge- 
nerellen Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft viel 
zu einfach machen. Wir meinen, dass sie integrations- 
politisch damit auf dem Holzweg sind. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

SPD und Grüne wollen mit ihren Entwürfen außer- 
dem das völkerrechtlich anerkannte, im deutschen 
Staatsangehörigkeitsrecht geltende Prinzip der Vermei- 
dung von Mehrstaatigkeit aufheben. Dies passt im Übri- 
gen genau zu dem, was Ministerpräsident Erdogan bei 
seinem Besuch in Deutschland vor wenigen Tagen ge- 
sagt hat. Er hat sich nämlich für die Ausweitung der dop- 
pelten Staatsbürgerschaft ausgesprochen. Dazu sage ich: 
Das ist mit uns, mit der Union, nicht zu machen. Auch 
wenn es in der Praxis zahlreiche Ausnahmen gibt, wol- 
len wir den Grundsatz beibehalten, mehrere Staatsange- 
hörigkeiten zu vermeiden. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Dafür sprechen, wie bereits angesprochen, mehrere 
Gründe, rechtliche, den einzelnen Menschen betreffende 
und politische. 

Der erste Punkt ist: Mehrere Staatsangehörigkeiten 
führen natürlich zu staats- und völkerrechtlichen Proble- 

(B) men. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Wo leben Sie eigent- 
lich?) 

Auch wenn diese zu einem großen Teil durch internatio- 
nale Übereinkommen theoretisch lösbar sind, kann es 
praktisch zu Konflikten kommen, was den diplomati- 
schen Schutz, das Steuerrecht, das Strafrecht, das inter- 
nationale Privatrecht oder die Ausübung politischer 
Rechte angeht. Diese Schwierigkeiten sind bei nur einer 
Staatsangehörigkeit nicht vorhanden. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Sie sind doch Jurist!) 

Weiterhin sprechen Gründe, die in der Person des 
jeweils Betroffenen liegen, gegen eine generelle Zulas- 
sung der Mehrstaatigkeit. Viele Menschen haben ins- 
besondere aus familiären Gründen persönliche Verbin- 
dungen zu unterschiedlichen Ländern. Es geht in keiner 
Weise darum, diese einzuschränken. Es ist aber unbe- 
streitbar, dass die staatsbürgerliche Zugehörigkeit eines 
Menschen zu seinem Land, zu seiner Kultur und Werte- 
ordnung zu einer besonderen emotionalen Bindung 
führt. Zur Vermeidung von Konflikten sollte im Grund- 
satz auf eine solche Bindung zu mehreren Staaten ver- 
zichtet werden. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Sie können sich das 
nur nicht vorstellen! Das ist der Punkt!) 

Schließlich ist es politisch der vollkommen falsche 
Ansatz, mit der Aushändigung eines Passes die Integra- 
tion voranbringen zu wollen; auch das wurde schon ge- 


sagt. Das beabsichtigen die Antragsteller aber. Damit (C) 
würde das Pferd von hinten aufgezäumt; denn die Aus- 
händigung eines Passes muss am Ende und darf nicht am 
Anfang eines Integrationsprozesses stehen. Integration 
entscheidet sich vielmehr im konkreten Zusammenleben 
und nicht formal durch eine doppelte Staatsangehörig- 
keit. Das heißt, Integration kann nicht mit Papieren aus- 
gehändigt werden. Integration ist vielmehr eine Sache 
des Kopfes und des Herzens. 

Worauf kommt es für eine gelungene Integration 
wirklich an? Höchste Priorität muss haben - das vertre- 
ten CDU und CSU -, dass die hier lebenden Ausländer 
die deutsche Sprache lernen und beherrschen. Das ist der 
Schlüssel für eine gute Bildung und für eine gute Ausbil- 
dung. Dies wiederum bildet die Grundlage für berufliche 
und gesellschaftliche Teilhabe. Gerade weil wir erkannt 
haben, dass Sprachförderung an erster Stelle steht, haben 
wir seit dem Jahr 2005 die Integrationskurse, Sprach- 
lehrgänge, Orientierungs- und Alphabetisierungskurse 
für Migranten intensiviert und dafür viel Geld in die 
Hand genommen. 

(Aydan Özoguz [SPD] : Sehen Sie, dafür feiern 
sie sich!) 

Generell hat die CDU/CSU-geführte Bundesregie- 
rung seit 2005 das Thema Integration zur Schlüsselauf- 
gabe erkoren und zahlreiche konkrete Maßnahmen er- 
griffen. Sie alle kennen diese Maßnahmen, aber ich rufe 
sie ganz kurz in Erinnerung. Es sind die Programme für 
Schulverweigerer, die zusätzlichen Ausbildungsplätze 
für Jugendliche mit Migrationshintergrund, eine verbes- 
serte Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, (D) 
die Einführung einer Integrationsbeauftragten im Bun- 
deskanzleramt, die Schaffung eines Integrationsplans 
und die Gründung der Deutschen Islam Konferenz im 
Jahre 2006 durch Minister Schäuble. 

Die vorliegenden Gesetzentwürfe von SPD und Grü- 
nen sowie der Antrag der Linken sind ein großer Rück- 
schritt bei den umfassenden Bemühungen um eine ge- 
lungene Integration. Deshalb lehnen wir sie entschieden 
ab. 

Danke schön. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält Kollege 
Omid Nouripour. 

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Kollege, ich habe mich zu Wort gemeldet, weil 
ich von dem, was Sie beschrieben haben, persönlich be- 
troffen bin. Ich bin so etwas wie ein Kronjuwel der Inte- 
gration. 

(Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] 

[FDP]) 

Ich bin im Deutschen Bundestag im Verteidigungsaus- 
schuss, also für die Verteidigung des Vaterlandes zustän- 
dig. Mein Kind ist blond. Ich habe zwei Pässe. Ich habe 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Omid Nouripour 

(A) den iranischen Pass, den ich gar nicht abgeben kann, und 
ich habe den deutschen Pass. Ich habe keinerlei Schwie- 
rigkeiten, das mit mir zu vereinbaren. Ich habe keinerlei 
Schwierigkeiten, zu diesem Land loyal zu sein. Ich sitze 
im Deutschen Bundestag und vertrete die Menschen in 
Deutschland. Wenn ich zu Hause bin, gibt es Momente, 
in denen ich eine andere Identität habe. 

Ich verstehe schlicht nicht, wie Sie darauf kommen, 
hier eine Loyalitätsparanoia aufzubauen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Sie greifen ein einziges Merkmal von komplexen Per- 
sönlichkeiten auf und reduzieren die Menschen genau 
darauf. Sie werden dem menschlichen Wesen damit 
nicht gerecht. Sie werden dem Dienst, den auch die 
Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten in die- 
sem Land leisten, nicht gerecht. Sie werden vor allem 
der Loyalität von Hunderten, von Tausenden von Men- 
schen, die in diesem Land schuften, Steuern zahlen etc. 
pp. nicht gerecht. Die Menschen haben die gleichen 
Pflichten, sie sollten daher auch die gleichen Rechte ha- 
ben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

(B) Kollege Wellenreuther, wollen Sie reagieren? - Bitte 
schön. 

(Aydan Özoguz [SPD]: Verzicht wäre besser! - 
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Sind Sie auch im Verteidigungsaus- 
schuss?) 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): 

Herr Kollege Nouripour, ich beglückwünsche Sie so- 
wohl zu Ihrer familiären als auch zu Ihrer staatsbürgerli- 
chen Situation. 

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- 
wurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Staatsange- 
hörigkeitsrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter 
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- 
che 17/7675, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD 
auf Drucksache 17/773 abzulehnen. 

Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan- 
gen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die 
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen 
Plätze einzunehmen. - Ist das erfolgt? - Das ist der Fall. 
Ich eröffne die Abstimmung. 


Die obligate Frage: Haben alle Mitglieder des Hauses (C) 
ihre Stimme abgegeben? - Ich höre keinen Protest. Dann 
ist das offensichtlich erfolgt. 

Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die 
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- 
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird 
Ihnen später bekannt gegeben. 1 ) 

Wir sind immer noch bei Tagesordnungspunkt 4. 

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- 
entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ände- 
rung des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Innenausschuss 
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh- 
lung auf Drucksache 17/7675, den Gesetzentwurf der 
Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/3411 abzuleh- 
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustim- 
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- 
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter 
Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die 
Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit 
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- 
tung. 

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c 
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7675 
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf 
Drucksache 17/2351 mit dem Titel „Ausgrenzung been- 
den - Einbürgerungen umfassend erleichtern“. Wer 
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt 
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung 
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge- 
gen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD (D) 
und Grünen angenommen. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- 
ordnungspunkt 34 a bis n sowie den Zusatzpunkt 3 a bis c 
auf: 

34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- 
führung der Internationalen Gesundheitsvor- 
schriften (2005) und zur Änderung weiterer 
Gesetze 

- Drucksache 17/7576 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Gesundheit (f) 

Innenausschuss 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 13. Februar 2007 zwischen der 
Regierung der Bundesrepublik Deutschland 
und der Regierung des Staates Kuwait über 
die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 

- Drucksache 17/7601 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 


9 Ergebnis Seite 16493 D 



16490 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 22. Februar 2009 zwischen der 
Regierung der Bundesrepublik Deutschland 
und der Regierung des Staates Katar über die 
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 

- Drucksache 17/7602 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 10. März 2009 zwischen der Re- 
gierung der Bundesrepublik Deutschland und 
der Regierung der Republik Kroatien über die 
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Or- 
ganisierten und der schweren Kriminalität 

- Drucksache 17/7603 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 27. Mai 2009 zwischen der Re- 
gierung der Bundesrepublik Deutschland und 
der Regierung des Königreichs Saudi-Arabien 
über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe- 
reich 

- Drucksache 17/7604 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 14. April 2010 zwischen der Re- 
gierung der Bundesrepublik Deutschland und 
der Regierung der Republik Kosovo über die 
Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich 

- Drucksache 17/7605 - 

Überweisungsvorschlag : 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- 
kommen vom 30. August 2010 zwischen der 
Regierung der Bundesrepublik Deutschland 
und dem Ministerkabinett der Ukraine über 
die Zusammenarbeit im Bereich der Bekämp- 
fung der Organisierten Kriminalität, des Ter- 
rorismus und anderer Straftaten von erhebli- 
cher Bedeutung 

- Drucksache 17/7606 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 


h) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) 
Dorothea Steiner, Hans- Josef Fell, Bärbel Höhn, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Einfuhr und Verwendung von Asbest und as- 
besthaltigen Produkten in Deutschland umfas- 
send verbieten 

- Drucksache 17/7478 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 

i) Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Anton Hofreiter, Ekin Deligöz, Hans- Josef 
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

Bau der dritten Start- und Landebahn am 
Flughafen München Erdinger Moos aussetzen - 
Keine unumkehrbaren Tatsachen schaffen 

- Drucksache 17/7479 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 

Ausschuss für Tourismus 

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate 
Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann- 
Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und 
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

(D) 

Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen - 
Kontrollen verstärken 

- Drucksache 17/7482 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 

k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej 
Hunko, Dr. Diether Dehm, Thomas Nord, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

Die Europäische Sozialcharta unverzüglich 
umsetzen 

- Drucksache 17/7484 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge 
Höger, Paul Schäfer (Köln), Harald Koch, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

Konversion von Bundeswehrstandorten als 
Entwicklungschance für Kommunen 

- Drucksache 17/7504 - 

Überweisungsvorschlag: 

Verteidigungsausschuss (f) 

Innenausschuss 

Finanzausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16491 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 

Ausschuss für Tourismus 

Haushaltsausschuss 

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin 
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Dietmar 
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
DIE LINKE 

Die Billigkeitsrichtlinie zu den Umstellungs- 
kosten aus der Umwidmung von Frequenzen 
den Realitäten anpassen 

- Drucksache 17/7655 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Innenausschuss 

Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss 

n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet 
Kilic, Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Qualität der Integrationskurse verbessern 

- Drucksache 17/7639 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss 

ZP 3a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ 
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines 
Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energie- 
wirtschaftsrechtlicher Vorschriften 

- Drucksache 17/7632 - 

Überweisungsvorschlag : 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) 

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank 
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Leitlinien für Transparenz und Umweltver- 
träglichkeit bei der Förderung von unkonven- 
tionellem Erdgas 

- Drucksache 17/7612 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 
Innenausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Matthias Miersch, Dirk Becker, Marco 
Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der SPD 


Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- 
ten Verfahren ohne Debatte. 

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an 
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu 
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7484 - das 
betrifft Tagesordnungspunkt 34 k - soll federführend 
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden. 
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich 
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis k sowie 
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- 
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- 
hen ist. 

Tagesordnungspunkt 35 a: 

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des 
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Fe- 
bruar 2011 zwischen der Bundesrepublik 
Deutschland und dem Königreich Spanien zur 
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur 
Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem 
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom 
Vermögen 

- Drucksache 17/7318 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- 
schusses (7. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7554 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Manfred Kolbe 
Lothar Binding (Heidelberg) 

Die Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- 
empfehlung auf Drucksache 17/7554, den Gesetzent- 
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7318 an- 
zunehmen. 

Zweite Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- 
wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio- 
nen und der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen 
angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 b: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- 
gierung eingebrachten Entwurfs eines ... Straf- 
rechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung der 
Richtlinie des Europäischen Parlaments und 
des Rates über den strafrechtlichen Schutz der 
Umwelt 

- Drucksache 17/5391 - 


Monitoring für versenkte Atommüllfässer im 
Atlantik sicherstellen und Maßnahmen gegen 
weitere Strahlenexposition einleiten 

- Drucksache 17/7633 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) 


Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 
schusses (6. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7674 - 



16492 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 

(A) Berichterstattung: 

Abgeordnete Ansgar Heveling 
Ingo Egloff 
Jörg van Essen 
Halina Wawzyniak 
Jerzy Montag 

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- 
empfehlung auf Drucksache 17/7674, den Gesetzent- 
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/5391 in 
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, 
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- 
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage- 
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in 
zweiter Beratung mit Zustimmung von CDU/CSU, SPD, 
FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken angenom- 
men. 

Dritte Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- 
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor 
angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 c: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- 
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
zur Änderung des EG-Verbraucherschutz- 
durchsetzungsgesetzes und zur Änderung des 
^ Unterlassungsklagengesetzes 

- Drucksache 17/7235 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- 
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- 
cherschutz (10. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7672 — 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Mechthild Heil 
Elvira Drobinski-Weiß 
Dr. Erik Schweickert 
Garen Lay 
Nicole Maisch 

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- 
lung auf Drucksache 17/7672, den Gesetzentwurf der 
Bundesregierung auf Drucksache 17/7235 anzunehmen. 
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen 
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - 
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter 
Beratung einstimmig angenommen. 

Dritte Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- 
wurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig ange- 
nommen. 


Tagesordnungspunkt 35 d: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, 
Eberhard Gienger, Stephan Mayer (Altötting), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der 
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Joachim 
Günther (Plauen), Dr. Lutz Knopek, Gisela Piltz, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 

Klima- und Umweltschutz im und durch den 
Sport stärken - Für eine verantwortungsvolle 
Sportentwicklung in Deutschland 

- Drucksachen 17/5779, 17/7608 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Klaus Riegert 
Martin Gerster 
Dr. Lutz Knopek 
Katrin Kunert 

Viola von Cramon-Taubadel 

Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- 
empfehlung auf Drucksache 17/7608, den Antrag der 
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 
17/5779 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- 
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - 
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei- 
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD 
bei Enthaltung von Linken und Grünen angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 e: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) 

zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver- 
fassungsgericht 2 BvE 8/11 

- Drucksache 17/7668 - 

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- 
empfehlung, im Verfahren eine Stellungnahme abzuge- 
ben und den Präsidenten zu bitten, Rechtsanwalt Profes- 
sor Dr. Marcel Kaufmann als Prozessbevollmächtigten 
zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - 
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den 
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und von SPD 
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. 

Der Tagesordnungspunkt 35 f bis k betrifft die Be- 
schlussempfehlungen des Petitionsausschusses. 

Tagesordnungspunkt 35 f: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 331 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7492 (neu) - 

Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- 
tungen? - Die Sammelübersicht 331 ist einstimmig an- 
genommen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16493 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 

Tagesordnungspunkt 35 g: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 332 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7493 - 

Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- 
tungen? - Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen 
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei Enthaltung 
der Linken angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 h: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 333 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7494 - 

Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- 
tungen? - Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen 
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stim- 
men der Linken angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 i: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 334 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7495 - 

Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt 
dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 334 
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge- 
gen die Stimmen von Linken und Grünen angenommen. 

Tagesordnungspunkt 35 j: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 335 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7496 - 

Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- 
tungen? - Die Sammelübersicht 335 ist mit den Stimmen 
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen 
von SPD und Linken angenommen. 


Tagesordnungspunkt 35 k: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- 
ausschusses (2. Ausschuss) 

Sammelübersicht 336 zu Petitionen 

- Drucksache 17/7497 - 

Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- 
tungen? - Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmen 
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- 
tionsfraktionen angenommen. 

Zusatzpunkt 4: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und 
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag 
der Abgeordneten Daniela Wagner, Elisabeth 
Scharfenberg, Tabea Rößner, weiterer Abgeord- 
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN 

Der älter werdenden Gesellschaft gerecht wer- 
den - Barrieren in Wohnungen und im Wohn- 
umfeld abbauen 

-Drucksachen 17/7188, 17/7630 - 
B erichterstattung : 

Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara) 

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- 
lung auf Drucksache 17/7630, den Antrag der Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7188 abzu- 
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - 
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- 
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- 
fraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthal- 
tung von SPD und Linken angenommen. 

Bevor wir zur Aktuellen Stunde kommen, will ich das 
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte 
Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Ent- 
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörig- 
keitsrechts, Drucksachen 17/773 und 17/7675, mitteilen: 
abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 278, 
mit Nein haben gestimmt 308, Enthaltungen 1. Der Ge- 
setzentwurf ist damit abgelehnt. 


Endgültiges Ergebnis 


Doris Barnett 

Edelgard Bulmahn 

Abgegebene Stimmen: 

587; 

Dr. Hans-Peter Bartels 

Marco Biilow 

davon 


Klaus Barthel 

Ulla Burchardt 

ja: 

278 

Sören Bartol 

Martin Burkert 

308 

1 

Bärbel Bas 

Petra Crone 

nein: 

enthalten: 

Sabine Bätzing-Lichtenthäler 
Dirk Becker 

Dr. Peter Danckert 
Martin Dörmann 

Ja 


Uwe Beckmeyer 

Elvira Drobinski-Weiß 


Lothar Binding (Heidelberg) 

Garreit Duin 

SPD 


Gerd Bollmann 

Sebastian Edathy 


Klaus Brandner 

Ingo Egloff 

Ingrid Arndt-Brauer 


Willi Brase 

Siegmund Ehrmann 

Rainer Arnold 


Bernhard Brinkmann 

Dr. h. c. Gemot Erler 

Heinz-Joachim Barchmann 

(Hildesheim) 

Petra Emstberger 


Karin Evers-Meyer 
Elke Ferner 
Gabriele Fograscher 
Dr. Edgar Franke 
Dagmar Freitag 
Michael Gerdes 
Martin Gerster 
Iris Gleicke 
Günter Gloser 
Ulrike Gottschalck 
Angelika Graf (Rosenheim) 
Kerstin Griese 
Michael Groschek 
Michael Groß 



16494 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 201 1 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 


(A) Wolfgang Gunkel 

Hans- Joachim Hacker 
Bettina Hagedorn 
Klaus Hagemann 
Michael Hartmann 
(Wackernheim) 

Hubertus Heil (Peine) 

Rolf Hempelmann 
Dr. Barbara Hendricks 
Gustav Herzog 
Gabriele Hiller-Ohm 
Petra Hinz (Essen) 

Frank Hofmann (Volkach) 
Dr. Eva Högl 
Christel Humme 
Josip Juratovic 
Oliver Kaczmarek 
Johannes Kahrs 
Ulrich Kelber 
Lars Klingbeil 
Dr. Bärbel Kotier 
Daniela Kolbe (Leipzig) 
Fritz Rudolf Körper 
Anette Kramme 
Nicolette Kressl 
Angelika Krüger-Leißner 
Ute Kumpf 
Christine Lambrecht 
Christian Lange (Backnang) 
Dr. Karl Lauterbach 
Burkhard Lischka 
Gabriele Lösekrug-Möller 
Kirsten Lühmann 
Caren Marks 
Katja Mast 
Hilde Mattheis 
Petra Merkel (Berlin) 
Ullrich Meßmer 
Dr. Matthias Miersch 
Franz Müntefering 
Dr. Rolf Mützenich 
Andrea Nahles 
Dietmar Nietan 
Manfred Nink 
Thomas Oppermann 
Holger Ortei 
Aydan Özoguz 
Heinz Paula 
Johannes Pflug 
Joachim Poß 
Dr. Wilhelm Priesmeier 
Florian Pronold 
Dr. Sascha Raabe 
Mechthild Rawert 
Stefan Rebmann 
Gerold Reichenbach 
Dr. Carola Reimann 
Sönke Rix 
Rene Röspel 

Dr. Ernst Dieter Rossmann 
Karin Roth (Esslingen) 
Michael Roth (Heringen) 
Marlene Rupprecht 
(Tuchenbach) 

Axel Schäfer (Bochum) 
Bernd Scheelen 
Marianne Schieder 
(Schwandorf) 


Werner Schieder (Weiden) 

Ulla Schmidt (Aachen) 

Silvia Schmidt (Eisleben) 

Carsten Schneider (Erfurt) 

Ottmar Schreiner 

Swen Schulz (Spandau) 

Ewald Schürer 

Frank Schwabe 

Dr. Martin Schwanholz 

Rolf Schwanitz 

Stefan Schwartze 

Rita Schwarzelühr-Sutter 

Dr. Carsten Sieling 

Sonja Steffen 

Peer Steinbrück 

Dr. Frank- Walter Steinmeier 

Christoph Strässer 

Kerstin Tack 

Dr. h. c. Wolfgang Thierse 
Franz Thönnes 
Wolfgang Tiefensee 
Rüdiger Veit 
Ute Vogt 

Dr. Marlies Volkmer 
Andrea Wicklein 
Heidemarie Wieczorek-Zeul 
Dr. Dieter Wiefelspütz 
Uta Zapf 
Dagmar Ziegler 
Manfred Zöllmer 
Brigitte Zypries 

DIE LINKE 

Jan van Aken 
Agnes Alpers 
Dr. Dietmar Bartsch 
Herbert Behrens 
Karin Binder 
Matthias W. Birkwald 
Heidrun Bluhm 
Steffen Bockhahn 
Christine Buchholz 
Eva Bulling-Schröter 
Dr. Martina Bunge 
Roland Claus 
Sevim Dagdelen 
Dr. Diether Dehrn 
Heidrun Dittrich 
Werner Dreibus 
Dr. Dagmar Enkelmann 
Klaus Emst 
Wolfgang Gehrcke 
Nicole Gohlke 
Diana Golze 
Annette Groth 
Dr. Gregor Gysi 
Heike Hänsel 
Dr. Rosemarie Hein 
Inge Höger 
Dr. Barbara Höll 
Andrej Hunko 
Ulla Jelpke 

Dr. Lukrezia Jochimsen 
Harald Koch 
Jan Körte 
Jutta Krellmann 
Katrin Kunert 
Caren Lay 


Ralph Lenkert 
Michael Leutert 
Stefan Liebich 
Ulla Lötzer 
Dr. Gesine Lötzsch 
Thomas Lutze 
Ulrich Maurer 
Dorothee Menzner 
Cornelia Möhring 
Kornelia Möller 
Niema Movassat 
Wolfgang Neskovic 
Thomas Nord 
Petra Pau 
Jens Petermann 
Richard Pitterle 
Yvonne Ploetz 
Ingrid Rcmmers 
Paul Schäfer (Köln) 

Michael Schlecht 
Dr. Ilja Seifert 
Kathrin Senger-Schäfer 
Raju Sharma 
Dr. Petra Sitte 
Kersten Steinke 
Sabine Stüber 
Alexander Süßmair 
Dr. Kirsten Tackmann 
Frank Tempel 
Dr. Axel Troost 
Alexander Ulrich 
Kathrin Vogler 
Johanna Voß 
Sahra Wagenknecht 
Halina Wawzyniak 
Harald Weinberg 
Katrin Werner 
Sabine Zimmermann 

BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN 

Kerstin Andreae 
Volker Beck (Köln) 

Cornelia Behm 

Birgitt Bender 

Viola von Cramon-Taubadel 

Ekin Dcligöz 

Katja Dömer 

Harald Ebner 

Hans- Josef Fell 

Dr. Thomas Gambke 

Kai Gehring 

Katrin Göring-Eckardt 

Britta Haßelmann 

Bettina Herlitzius 

Priska Hinz (Herbom) 

Dr. Anton Hofreiter 
Bärbel Höhn 
Ingrid Hönlinger 
Thilo Hoppe 
Uwe Kekeritz 
Katja Keul 
Meinet Kilic 
Sven-Christian Kindler 
Maria Klein-Schmeink 
Ute Koczy 
Tom Koenigs 
Sylvia Kotting-Uhl 


Oliver Krischer 
Agnes Krumwiede 
Fritz Kuhn 
Stephan Kühn 
Renate Künast 
Markus Kurth 

Undine Kurth (Quedlinburg) 

Monika Lazar 

Dr. Tobias Lindner 

Nicole Maisch 

Agnes Malczak 

Jerzy Montag 

Kerstin Müller (Köln) 

Beate Müller-Gemmeke 
Ingrid Nestle 
Dr. Konstantin von Notz 
Omid Nouripour 
Friedrich Ostendorff 
Dr. Hermann E. Ott 
Lisa Paus 
Brigitte Pothmer 
Tabea Rößner 
Claudia Roth (Augsburg) 
Krista Säger 
Manuel Sarrazin 
Elisabeth Scharfenberg 
Christine Scheel 
Dr. Gerhard Schick 
Dr. Frithjof Schmidt 
Dorothea Steiner 
Dr. Wolfgang Strengmann- 
Kuhn 

Hans-Christian Ströbele 
Dr. Harald Terpe 
Markus Tressel 
Jürgen Trittin 
Daniela Wagner 
Dr. Valerie Wilms 
Josef Philip Winkler 

Nein 

CDU/CSU 

Ilse Aigner 
Peter Altmaier 
Peter Aumer 
Dorothee Bär 
Thomas Bareiß 
Norbert Barthle 
Günter Baumann 
Ernst-Reinhard Beck 
(Reutlingen) 

Manfred Behrens (Börde) 
Veronika Bellmann 
Peter Beyer 
Steffen Bilger 
Clemens Binninger 
Peter Bleser 
Dr. Maria Böhmer 
Wolfgang Börnsen 
(Bönstrup) 

Wolfgang Bosbach 
Norbert Brackmann 
Klaus Brähmig 
Michael Brand 
Dr. Reinhard Brandl 
Helmut Brandt 
Dr. Ralf Brauksiepe 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16495 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 


(A) Dr. Helge Braun 
Heike Brehmer 
Ralph Brinkhaus 
Cajus Caesar 
Gitta Connemann 
Alexander Dobrindt 
Thomas Dörflinger 
Marie-Luise Dött 
Dr. Thomas Feist 
Enak Ferlemann 
Ingrid Fischbach 
Hartwig Fischer (Göttingen) 
Dirk Fischer (Hamburg) 
Axel E. Fischer (Karlsruhe- 

Land) 

Dr. Maria Flachsbarth 
Klaus-Peter Flosbach 
Herbert Frankenhauser 
Dr. Hans-Peter Friedrich 

(Hof) 

Michael Frieser 
Erich G. Fritz 
Dr. Michael Fuchs 
Hans- Joachim Fuchtel 
Alexander Funk 
Ingo Gädechens 
Dr. Thomas Gebhart 
Norbert Geis 
Alois Gerig 
Eberhard Gienger 
Michael Glos 
Josef Goppel 
Peter Götz 
Dr. Wolfgang Götzer 

(B) Ute Granold 
Reinhard Grindel 
Hermann Gröhe 
Michael Grosse-Brömer 
Markus Grübel 
Manfred Grund 
Monika Grütters 

Olav Gutting 
Florian Hahn 
Dr. Stephan Harbarth 
Jürgen Hardt 
Gerda Hasselfeldt 
Dr. Matthias Heider 
Helmut Heiderich 
Mechthild Heil 
Ursula Heinen-Esser 
Frank Heinrich 
Rudolf Henke 
Michael Hennrich 
Jürgen Herrmann 
Ansgar Heveling 
Ernst Hinsken 
Christian Hirte 
Robert Hochbaum 
Karl Holmeier 
Franz-Josef Holzenkamp 
Joachim Hörster 
Anette Hiibinger 
Thomas Jarzombek 
Dieter Jasper 
Dr. Franz Josef Jung 
Andreas Jung (Konstanz) 

Dr. Egon Jüttner 
Bartholomäus Kalb 


Hans-Werner Kammer 
Steffen Kampeter 
Alois Karl 
Bernhard Kaster 
Siegfried Kauder (Villingen- 
Schwenningen) 

Volker Kauder 
Dr. Stefan Kaufmann 
Roderich Kiesewetter 
Eckart von Klaeden 
Ewa Klamt 
Volkmar Klein 
Jürgen Klimke 
Axel Knoerig 
Jens Koeppen 
Hartmut Koschyk 
Thomas Kossendey 
Michael Kretschmer 
Günther Krichbaum 
Rüdiger Kruse 
Bettina Kudla 
Dr. Hermann Kues 
Günter Lach 
Dr. Karl A. Lamers 
(Heidelberg) 

Andreas G. Lämmel 

Dr. Norbert Lammert 

Katharina Landgraf 

Ulrich Lange 

Dr. Max Lehmer 

Paul Lehrieder 

Dr. Ursula von der Leyen 

Ingbert Liebing 

Matthias Lietz 

Dr. Carsten Linnemann 

Patricia Lips 

Dr. Jan-Marco Luczak 

Daniela Ludwig 

Dr. Michael Luther 

Karin Maag 

Dr. Thomas de Maiziere 
Hans-Georg von der Marwitz 
Andreas Mattfeldt 
Stephan Mayer (Altötting) 

Dr. Michael Meister 
Maria Michalk 
Dr. h. c. Hans Michelbach 
Dr. Mathias Middelberg 
Philipp Mißfelder 
Dietrich Mönstadt 
Dr. Gerd Müller 
Stefan Müller (Erlangen) 

Dr. Philipp Murmann 
Michaela Noll 
Dr. Georg Nüßlein 
Franz Obermeier 
Eduard Oswald 
Henning Otte 
Dr. Michael Paul 
Rita Pawelski 
Ulrich Petzold 
Dr. Joachim Pfeiffer 
Sibylle Pfeiffer 
Ronald Pofalla 
Christoph Poland 
Eckhard Pols 
Thomas Rachel 
Dr. Peter Ramsauer 


Eckhardt Rehberg 
Katherina Reiche (Potsdam) 
Lothar Riebsamen 
Josef Rief 
Klaus Riegert 
Dr. Heinz Riesenhuber 
Johannes Röring 
Dr. Norbert Röttgen 
Dr. Christian Ruck 
Erwin Riiddel 
Albert Rupprecht (Weiden) 
Anita Schäfer (Saalstadt) 

Dr. Wolfgang Schäuble 
Dr. Annette Schavan 
Dr. Andreas Scheuer 
Karl Schiewerling 
Norbert Schindler 
Tankred Schipanski 
Georg Schirmbeck 
Christian Schmidt (Fürth) 
Patrick Schnieder 
Dr. Andreas Schockenhoff 
Nadine Schön (St. Wendel) 
Dr. Kristina Schröder 
Dr. Oie Schröder 
Bernhard Schulte-Drüggelte 
Uwe Schummer 
Armin Schuster (Weil am 
Rhein) 

Detlef Seif 

Johannes Seile 

Reinhold Sendker 

Dr. Patrick Sensburg 

Bernd Siebert 

Thomas Silberhorn 

Johannes Singhammer 

Jens Spahn 

Carola Stauche 

Dr. Frank Steffel 

Erika Steinbach 

Christian Freiherr von Stetten 

Dieter Stier 

Gero Storjohann 

Stephan Stracke 

Max Straubinger 

Karin Strenz 

Lena Strothmann 

Michael Stübgen 

Dr. Peter Tauber 

Antje Tillmann 

Dr. Hans-Peter Uhl 

Arnold Vaatz 

Volkmar Vogel (Kleinsaara) 
Stefanie Vogelsang 
Andrea Astrid Voßhoff 
Marco Wanderwitz 
Kai Wegner 

Marcus Weinberg (Hamburg) 
Peter Weiß (Emmendingen) 
Sabine Weiss (Wesel I) 

Ingo Wellenreuther 
Peter Wichtel 
Klaus-Peter Willsch 
Elisabeth Winkelmeier- 
Becker 

Dagmar G. Wöhrl 
Dr. Matthias Zimmer 
Wolfgang Zöller 


Willi Zylajew 

FDP 

Jens Ackennann 
Christine Aschenberg- 
Dugnus 

Daniel Bahr (Münster) 
Florian Bernschneider 
Sebastian Blumenthal 
Claudia Bögel 
Nicole Bracht-Bendt 
Klaus Breil 
Rainer Brüderle 
Angelika Brunkhorst 
Ernst Burgbacher 
Marco Buschmann 
Sylvia Canel 
Helga Daub 
Reiner Dcutschmann 
Dr. Bijan Djir-Sarai 
Patrick Döring 
Mechthild Dyckmans 
Rainer Erdel 
Jörg van Essen 
Ulrike Flach 
Otto Fricke 
Paul K. Friedhoff 
Dr. Edmund Peter Geisen 
Dr. Wolfgang Gerhardt 
Heinz Golombeck 
Miriam Gruß 
Joachim Günther (Plauen) 
Dr. Christel Happach-Kasan 
Heinz-Peter Haustein 
Manuel Höferlin 
Elke Hoff 
Birgit Homburger 
Dr. Werner Hoyer 
Heiner Kamp 
Michael Kauch 
Dr. Lutz Knopek 
Pascal Kober 
Dr. Heinrich L. Kolb 
Gudrun Kopp 
Dr. h. c. Jürgen Koppelin 
Sebastian Körber 
Patrick Kurth (Kyffliäuser) 
Heinz Lanfermann 
Sibylle Laurischk 
Harald Leibrecht 
Sabine Leutheusser- 
Schnarrenberger 
Lars Lindemann 
Christian Lindner 
Dr. Martin Lindner (Berlin) 
Michael Link (Heilbronn) 
Dr. Erwin Lotter 
Oliver Luksic 
Patrick Meinhardt 
Gabriele Molitor 
Jan Mücke 

Petra Müller (Aachen) 
Burkhardt Müller-Sönksen 
Dr. Martin Neumann 
(Lausitz) 

DirkNiebel 
Hans- Joachim Otto 
(Frankfurt) 



16496 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 201 1 


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 


Gisela Piltz 
Dr. Christiane Ratjen- 
Damerau 

Dr. Birgit Reinemund 
Dr. Peter Röhlinger 
Dr. Stefan Ruppert 
Björn Sänger 
Frank Schäffler 


Christoph Schnurr 
Jimmy Schulz 
Marina Schuster 
Dr. Erik Schweickert 
Werner Simmling 
Judith Skudelny 
Dr. Hermann Otto Solms 
Dr. Max Stadler 


Torsten Staffeldt 
Dr. Rainer Stinner 
Stephan Thomae 
Florian Toncar 
Serkan Toren 
Dr. Daniel Volk 
Dr. Guido Westerwelle 
Dr. Claudia Winterstein 


Dr. Volker Wissing 
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Enthalten 

SPD 

Hans-Ulrich Klose 


Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf: 

Aktuelle Stunde 

auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE 

Haltung der Regierungskoalition zur Einfüh- 
rung eines Mindestlohns 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus- 
sprache und erteile Kollegen Klaus Ernst für die Frak- 
tion Die Linke das Wort. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Klaus Ernst (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Der eigentliche Skandal ist, dass wir in regelmä- 
ßigen Abständen Milliardenbeträge zur Rettung des 
Euro oder der Banken beschließen und dass es seit zwei 
Legislaturperioden nicht gelungen ist, Armutslöhne in 
dieser Republik durch die Einführung von Mindestlöh- 
nen zu verhindern. Das ist ein Skandal an sich! 

(Beifall bei der LINKEN) 

1,2 Millionen Menschen erhalten einen Lohn von 
unter 5 Euro. 1,2 Millionen! 3,6 Millionen Menschen 
bekommen einen Stundenlohn von unter 7,50 Euro. 
14 Prozent der unter 20-Jährigen erhalten Stundenlöhne 
von bis zu 5 Euro. Insofern freut es mich natürlich, dass 
sich inzwischen bei der CDU zumindest eine Debatte 
entwickelt hat, die sich tatsächlich den realen Problemen 
der Menschen zuzuwenden scheint. Ich sage aber: zuzu- 
wenden scheint! 

91 Prozent der Menschen sprechen sich für eine feste 
Lohnuntergrenze aus. Nur 8 Prozent lehnen einen gene- 
rellen Mindestlohn ab. Das hat laut dpa eine aktuelle 
Stern -Umfrage vom 9. November ergeben. Es wurde 
also Zeit, dass sich bei Ihnen etwas bewegt. Aber was 
bewegt sich denn nun wirklich? Ich würde mich freuen, 
wenn die heutige Debatte darüber Auskunft geben 
würde, wohin der Weg der CDU beim Thema Mindest- 
lohn eigentlich geht. 

Es ist schon bemerkenswert, wenn auf der einen Seite 
Herr Laumann, den ich noch zitieren möchte, deutlich 
sagt: „Wir müssen Schmutzkonkurrenz beseitigen“, und 
auf der anderen Seite Hans Michelbach von der CSU die 
Position vertritt, die Festlegung einer Lohnuntergrenze 
sei - ich zitiere - „ordnungspolitisch nicht vertretbar, da- 
mit können wir nicht leben“. 

Wohin geht nun eigentlich die Reise in der CDU? Ich 
habe den Eindruck, Sie machen Politik nach dem Motto 


„Wenn ich die Menschen nicht überzeugen kann, dann 
verwirre ich sie“. Das ist offensichtlich Ihre Position. 

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der 
CDU/CSU: So ein Blödsinn!) 

Wenn ich ins Detail gehe und mir ansehe, was Sie ei- 
gentlich wollen, dann stelle ich fest, dass ein Teil Ihrer 
Fraktion eine Lohnuntergrenze irgendwo auf dem Ni- 
veau der Leiharbeit will, zwischen 7,01 Euro und 
7,89 Euro. Das entspricht den unterschiedlichen Löhnen 
in Ost und West. Ein anderer Teil sagt: „Das wollen wir 
eigentlich nicht. Wir wollen nur dort eine Niedriglohn- 
grenze einziehen, wo es keine Tarifverträge gibt.“ Wie 
wir wissen, verdienen Friseure im Osten oft weniger als 
4 Euro; dort liegen die Tariflöhne unter 4 Euro. Wollen 
Sie dort, wo es Tariflöhne gibt, diese 4 Euro beibehal- 
ten? Oder wollen Sie dort auch die Untergrenze einfüh- 
ren? Was wollen Sie eigentlich? Das ist aus Ihrer Posi- 
tion in keiner Weise ersichtlich. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir wollen 
höhere Löhne, Herr Ernst! - Weitere Zurufe 
von der SPD) 

- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann bin 
ich gerne bereit, sie zu beantworten. Ansonsten bitte ich 
um etwas mehr Disziplin. Das würde Ihnen nicht scha- 
den. 

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Es 
gibt keine Zwischenfragen in der Aktuellen 
Stunde!) 

Lassen Sie uns einmal festhalten, was heute im Bran- 
denburger Landtag beschlossen wurde. Dort wurde be- 
schlossen, und zwar mit Mehrheit der Linken, der SPD 
und der Grünen: 

Der Landtag fordert die Einführung eines allgemei- 
nen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohns, der 
für jeden Alleinstehenden bei Völlzeitarbeit exis- 
tenzsichernd ist. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ihre Fraktion hat dagegen gestimmt. 

(Zuruf von der SPD: Skandal!) 

Weil Sie mich gerade so nett angucken, sage ich es Ih- 
nen ganz persönlich: Was Sie hier betreiben, ist nichts 
anderes, als Nebelkerzen zu werfen und so zu tun, als 
wären Sie jetzt auch für den gesetzlichen Mindestlohn. 
In Wirklichkeit sind Sie sich nicht nur nicht einig, son- 
dern Sie wollen ihn eigentlich nicht. Das ist die Realität. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16497 


Klaus Ernst 


(A) (Beifall bei der LINKEN) 

Die heutige Debatte könnte dazu beitragen, ein wenig 
Licht in die Dunkelheit zu bringen, die Sie verbreiten. 
Ich möchte an dieser Stelle gleich auf ein Argument ein- 
gehen. Weil Herr Kolb so nachdenklich dasitzt, möchte 
ich ihn persönlich ansprechen. Ein Argument gegen ei- 
nen Mindestlohn, das auch von Ihnen immer in die Welt 
gesetzt wird: Ein gesetzlicher Mindestlohn würde Ar- 
beitsplätze kosten. Die Regierung selber hat eine Studie 
in Auftrag gegeben. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die liegt noch 
gar nicht vor!) 

- Weil Sie sie nicht veröffentlichen. Denn Sie wissen, 
dass das Gegenteil von dem drinsteht, was Sie erwartet 
haben, Herr Kolb. Das ist die Realität. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD - Zuruf von der LINKEN : Eine 
Sauerei!) 

Aus der Studie geht hervor, dass es keinen negativen 
Zusammenhang zwischen der Einführung einer Lohnun- 
tergrenze und einer negativen Beschäftigungsentwick- 
lung gibt. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das glaube ich 
nicht, dass das da drinsteht, Herr Ernst! Sie 
sollten sie erst mal lesen!) 

Ich habe Verständnis dafür, dass Sie das immer wieder 
vertreten, weil Sie nicht wahrhaben wollen, was wahr 
ist. Aber Sie haben eine Studie in Auftrag gegeben, in 
' der herauskommt, was inzwischen schon alle Welt weiß, 
nämlich dass die Einführung eines gesetzlichen Mindest- 
lohns schon aus einem einzigen Grund das Gebot der 
Stunde wäre: 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt ja 
gerade nicht heraus!) 

dass die Menschen von ihrer Arbeit leben können müs- 
sen und dass Arbeit etwas mit Würde zu tun hat. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wer das verweigert - das machen auch Sie von der 
CDU, von der CSU und von der FDP -, der nimmt den 
Menschen die Würde. Dagegen werden wir uns weiter 
zur Wehr setzen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/ 
CSU-Fraktion. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber 
Herr Kollege Ernst, über die Frage, wie wir zum Min- 
destlohn stehen, werden wir auf dem Parteitag demokra- 
tisch entscheiden. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf welchem?) 


Dass Sie Probleme mit demokratischer Entscheidungs- (C) 
findung haben und dadurch verwirrt sind, ist mir völlig 
klar. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Herr Emst, Sie haben die Studie des Bundesarbeits- 
ministeriums zu den Mindestlöhnen und der Arbeits- 
platzverträglichkeit von Mindestlöhnen angesprochen. 

Wenn es wirklich so wäre, dass sie unsere Position un- 
terstützt, dann wären wir doch daran interessiert, dass 
die Studie herauskommt. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich kann sie Ih- 
nen geben! Seit 31. August gibt es diese Stu- 
die! Sie halten sie unter Verschluss, weil es 
nicht passt!) 

Sie unterstellen uns irgendwelche dunklen Machen- 
schaften, eine solche Studie nicht zu publizieren. Das ist 
in hohem Maße albern. 

Meine Damen und Herren, ich glaube schon, dass in 
dem Redebeitrag des Kollegen Emst der Unterschied 
zwischen einem CDU-Parteitag und einem Parteitag der 
Linken sehr klar geworden ist. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das stimmt!) 

Wir werden auf unserem Parteitag sehr ernsthaft darüber 
diskutieren, ob und inwiefern wir Familien dadurch stüt- 
zen können, Familiengründungen dadurch unterstützen 
können, dass wir ordnungspolitische Leitlinien in den 
Arbeitsmarkt integrieren. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD] : Haben Sie auch (D) 

eine Meinung?) 

Sie diskutieren darüber, Drogen freizugeben, was zur 
Folge hat, dass Familien kaputtgemacht werden und 
Elend über die Familien gebracht wird. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Klaus Ernst [DIE LINKE] : Das ist unter Ihrem 
Niveau!) 

Es ist natürlich schön, dass eine so große Aufmerk- 
samkeit für dieses Thema von Anfang an - schon vor 
dem Parteitag - existiert, auch in der öffentlichen Wahr- 
nehmung. Das unterstreicht unsere Bedeutung als füh- 
rende und gestaltende Partei in der Bundesrepublik. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Andrea Nahles 
[SPD]: Das glauben Sie selber nicht!) 

Insofern ist es sinnvoll. Ihnen vorab schon die Gelegen- 
heit zu geben, das eine oder andere zu sagen. Auch der 
eine oder andere Arbeitgeberverband hat vorab schon et- 
was dazu gesagt. Darauf will ich ganz kurz eingehen. 

Ich bin der Meinung, dass ein Arbeitgeberverband im 
Wesentlichen ein Tarifpartner ist. Wenn wir bei den Ar- 
beitgeberverbänden, etwa bei dem Arbeitgeberverband 
Gesamtmetall, feststellen, dass zwischen 2005 und 2010 
die Anzahl der Mitgliedschaften ohne Tarifbindung um 
84 Prozent gestiegen ist, dann ist das für mich ein beun- 
ruhigendes Merkmal. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hört! Hört!) 



16498 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Matthias Zimmer 

(A) Damit wird gerade jene Tarifautonomie unterminiert, die 
die Tarifpartner doch so deutlich anmahnen. Ich bin der 
Meinung, dass hier auch die Arbeitgeberverbände in der 
Pflicht sind; denn ein Arbeitgeberverband ist mehr als 
ein Country Club mit angeschlossener Rechtsberatung. 

(Katja Mast [SPD]: Schöne Überschrift!) 

Wir sind unserem Grundprinzip treu geblieben und 
sagen: Wir sind gegen gesetzliche Mindestlöhne. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?) 

Wir sind in der Tat der Meinung, dass der Gesetzgeber 
der falsche Partner dafür ist, Mindestlöhne festzulegen. 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Ohne Gesetze wird es nicht gehen!) 

Vielmehr wollen wir uns an den Tarifpartnem orientie- 
ren. Denn ansonsten passiert genau das, was jetzt pas- 
siert ist: Es gibt einen Überbietungswettlauf in der 
Frage, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn sein soll. 

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Das ist doch 
ganz einfach!) 

Ich kann mich erinnern: Wir fingen einmal an bei 7,50 Euro. 
Die SPD ist für 8,50 Euro. Die Linken haben mittler- 
weile die Höhe des Mindestlohnes, die sie fordern, mit 
dem Wahlergebnis synchronisiert, nämlich 10. 

(Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE 

LINKE] - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die 

FDP auch, bei 3!) 

, R . Ich bin mir sicher, dass es der SPD früher oder später 
' auch noch gelingen wird, den geforderten Mindestlohn 
auf die Höhe hochzuschrauben, die ihrem Wahlergebnis 
entspricht. 

Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht. Wir 
sind der Meinung, dass die Tarifpartner weiterhin in der 
Pflicht sind, dass die Tarifpartner weiterhin die entschei- 
dende Aufgabe haben, die Lohnuntergrenzen in 
Deutschland festzulegen. Wir wollen die Tarifpartner 
nicht aus der Pflicht entlassen. Das ist der wesentliche 
Impetus unseres Leitantrages, den wir in Leipzig disku- 
tieren werden. Ich bin mir sicher, dass wir zu guten Er- 
gebnissen, vor allen Dingen zu demokratischen Ergeb- 
nissen kommen, Herr Ernst. Wir wissen nicht vorab, wie 
die Mehrheit der Delegierten entscheidet. Auch das un- 
terscheidet uns von Ihrer Partei, in der Sie das offen- 
sichtlich schon vorher genau wissen. 

Danke schön. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Ich erteile das Wort Andrea Nahles für die SPD-Frak- 
tion. 

(Beifall bei der SPD) 

Andrea Nahles (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Letzte Woche habe ich mich ehrlich gefreut. 


Nach jahrelangem Ringen hört man: Die CDU kommt (C) 
der Realität einen Schritt näher. Außerdem hört man: 

Eine allgemeine, verbindliche Lohnuntergrenze soll auf 
dem kommenden Parteitag beschlossen werden. - Das 
ist noch etwas unklar. Es reicht mir zwar noch nicht, 
aber ich habe mich trotzdem gefreut, weil viele Millio- 
nen Menschen draußen, die in miesen Löhnen festste- 
cken, das als Hoffnungssignal verstanden haben. - Das 
war letzte Woche. 

Diese Woche muss ich feststellen, dass das Ganze zur 
Farce mutiert. 

(Zuruf von der CDU/CSU: Och je!) 

Frau Merkel, der Wackeldackel dieser Bundesregierung, 
ist nämlich wieder einmal umgefallen, 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

und diesmal in die falsche Richtung. Es ist mittlerweile 
so, dass sie eine offene Brüskierung der Sozialpolitiker 
und der Arbeitsministerin, die sich prinzipiell positiv 
dazu verhalten haben, in Kauf nimmt, indem sie im 
Grunde die Lohnuntergrenze zum Schweizer Käse 
macht. Wer nämlich behauptet, er wolle eine allgemeine, 
verbindliche Lohnuntergrenze, der kann nicht gleichzei- 
tig sagen, dass diese regionale und branchenbezogene 
Abweichungen verträgt. Das ist nicht möglich. Das ist 
ein Witz. Es wird deswegen mit Ihnen - leider, sage ich - 
keinen Mindestlohn in Deutschland geben. Das ist aber 
das, was wir brauchen. Wir brauchen auch keine Beleh- 
rungen über die Differenzierung im Tarifsystem. Das (D) 
Bundesarbeitsministerium kann darüber Auskunft ge- 
ben. Wir haben ein hochflexibles Tarifsystem. 60 000 
Tarifverträge, die auf die unterschiedlichsten Bedürf- 
nisse eingehen, haben wir bereits. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Richtig! So 
soll es auch weiterhin sein!) 

Wir stellen trotzdem fest, dass es eine massive Tarifflucht 
gibt und Tarifverträge durch sogenannte christliche Ge- 
werkschaften massiv unterlaufen werden. Deswegen sa- 
gen wir: Wir brauchen eine Ergänzung, und das kann nur 
ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro sein. 

(Beifall bei der SPD) 

Gerne kann auch eine Mindestlohnkommission einge- 
richtet werden. Die hat sich zum Beispiel in Großbritan- 
nien bewährt. Deswegen gibt es in dieser Hinsicht gar 
keinen Widerspruch. 

Wenn Sie - das möchte ich Ihnen einmal klar sagen - 
die Tarifautonomie hochhalten, dann sind wir damit 
selbstverständlich einverstanden. Die Wahrheit ist aber, 
dass die Tarifflucht das mittlerweile in ganzen Regionen, 
vor allem in Ostdeutschland, zu einer wirklich leeren 
Forderung macht. Sie wissen genau: Die Menschen, die 
für 3 Euro oder 4 Euro pro Stunde arbeiten, brauchen 
eine klare Aussage darüber, welche Rechte sie haben. Sie 
brauchen kein Verwirrspiel: 25 verschiedene Lohnunter- 
grenzen in einem Bundesland, zum Beispiel in der Pfalz 
5,60 Euro, in der Eifel, woher ich komme, 7,20 Euro. Das 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16499 


Andrea Nahles 

(A) kann doch in direkten Verhandlungen zwischen Arbeit- 
nehmern und Arbeitgebern überhaupt nicht funktionie- 
ren. 

Das Schönste am Chaos ist die Planung. Wenn Sie das 
nächste Mal etwas in Sachen Lohnuntergrenze planen 
und den Menschen zum Beispiel eine Verbesserung ver- 
sprechen, die Menschen aber nur wieder hinter die 
Fichte führen, was Sie gerade wieder planen, dann sitzen 
Sie in der Opposition. Das ist die gute Nachricht. Das 
verspreche ich Ihnen. Die Menschen in Deutschland ha- 
ben nämlich einen Mindestlohn verdient. Sie können 
nicht liefern. Wir werden das erledigen müssen. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak- 
tion. 

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Herr Kollege Ernst, dieser Aktuellen Stunde mit dem 
schönen Titel „Haltung der Regierungskoalition zur Ein- 
führung eines Mindestlohns" hätte es nicht bedurft. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weil Sie keine 
Haltung haben!) 

(B) Ein Blick in das Bundesgesetzblatt und in den Koali- 
tionsvertrag hätte genügt. Im Bundesgesetzblatt hätten 
Sie gesehen, welche Branchenmindestlöhne diese Koali- 
tion eingeführt hat, zum Beispiel in der Pflege oder im 
Wach- und Sicherheitsgewerbe. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das mussten 
wir Ihnen abringen!) 

Bei der Zeitarbeit sind wir auf dem Weg. Mit einem 
Blick in den Koalitionsvertrag hätten Sie sich folgenden 
Satz vor Augen führen können: „Einen einheitlichen ge- 
setzlichen Mindestlohn lehnen wir ab." Das ist die Ver- 
einbarung dieser Koalition, und zu dieser Vereinbarung 
stehen wir. 

Nun interessiert Sie anscheinend mehr, was die in der 
Regierung vertretenen Parteien denken, als das, was die 
Regierungskoalition denkt. Ich will Ihnen gerne die 
Position der FDP und insbesondere der FDP-Bundes- 
tagsfraktion darlegen. Die FDP will faire Löhne. 

(Klaus Emst [DIE LINKE]: 4,50 Euro!) 

Sie will faire Löhne für Arbeitnehmer, die hart arbeiten. 
Sie will faire Löhne für Unternehmer, 

(Zuruf von der SPD: Kombilöhne!) 

die Verantwortung für den Bestand und den wirtschaft- 
lichen Erfolg ihrer Unternehmen tragen. Aber sie will 
auch faire Löhne für Arbeitnehmer, die einen Zugang 
zum Arbeitsmarkt suchen. Deswegen lehnen wir einen 
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn entschieden ab. 


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) 

der CDU/CSU) 

Hier wird immer so getan - auch Sie, Herr Kollege 
Ernst, haben versucht, dieses Bild zu malen als ob es 
in Deutschland ganz schrecklich sei. Ich lege Wert da- 
rauf, festzustellen: Der Normalfall in Deutschland ist, 
dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Tarifverträ- 
gen oder auch einzelvertraglich auf Löhne einigen, die 
auskömmlich und wirtschaftlich vernünftig sind und we- 
der Arbeitsplätze vernichten noch Neueinstellungen ver- 
hindern. Das ist die Realität in Deutschland, Herr Ernst, 
in der weit überwiegenden Zahl der Fälle. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : 4,50 Euro, das ist 
vernünftig, Herr Dr. Kolb?) 

Die deutsche Tarifautonomie gibt es nun einmal, und 
es ist gut so, dass es sie gibt. Sie besagt, dass sich die 
Politik aus der Lohnfindung heraushalten soll. Sie funk- 
tioniert und ist das Herzstück unseres Sozialstaats. Sie 
ist erfolgreich. Das sieht man daran, dass es nun weniger 
als 2,8 Millionen Arbeitslose gibt, nachdem wir noch vor 
wenigen Jahren 5 Millionen zu verzeichnen hatten - und 
das nach einer schweren, einschneidenden Krise -, und 
dass wir die im europäischen Vergleich drittniedrigste 
Jugendarbeitslosigkeit haben. Das ist für mich der Be- 
weis dafür, dass die Tarifautonomie in Deutschland 
funktioniert. 

(Beifall bei der FDP - Klaus Emst [DIE 
LINKE]: Bei 4,50 Euro! Sagen Sie doch mal 
was dazu!) 

Ihre Kritik am Arbeitsmarkt hält einer Überprüfung (D) 
häufig nicht stand. Auch in diesem Aufschwung sind die 
Tariflöhne real gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt 
man, legt man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes 
zugrunde. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie sind gesun- 
ken!) 

Der Niedriglohnsektor in Deutschland war politisch ge- 
wollt, und zwar von SPD und Grünen. 

(Zuruf von der LINKEN: Aber nicht von uns!) 

Er eröffnet vielen Menschen, gerade geringer qualifizier- 
ten, in Deutschland eine Einstiegschance. 

Worauf es aber ankommt - diese Unterscheidung will 
ich Ihnen hier sehr deutlich machen -, ist Folgendes: Die 
weit überwiegende Anzahl der Arbeitgeber entlohnt ihre 
Mitarbeiter im Sinne eines ehrbaren Kaufmanns fair. Es 
geht aber nicht, dass ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter 
vor dem Hintergrund des staatlichen Transfers einen ge- 
ringeren Lohn zahlt, obwohl es ihm eigentlich, gemessen 
an der Produktivität seines Unternehmens, möglich 
wäre, einen höheren Lohn zu zahlen; das geht nicht. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Das passiert 
aber!) 

- Das sind doch extreme Ausnahmen. 

Ich möchte Ihnen schildern, wie es im Moment in 
Deutschland aussieht. Die Tarifbindung liegt bei 80 Pro- 
zent, 60 Prozent direkt und 20 Prozent durch Bezug- 



16500 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Heinrich L. Kolb 

(A) nähme. Dabei handelt es sich durchweg um gute, aus- 
kömmliche Löhne für die Mitarbeiter und 
Mitarbeiterinnen der Unternehmen. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Das stimmt ein- 
fach nicht!) 

Da, wo es Probleme gab, haben wir - genauso wie die 
rot-grüne Koalition und die Große Koalition zuvor - in 
den letzten Jahren für 4 Millionen Arbeitnehmer Bran- 
chenmindestlöhne eingeführt, die das leisten müssen, 
was Sie hier fordern. 

(Zuruf von der LINKEN : In Ost und West un- 
terschiedlich! - Andrea Nahles [SPD]: Dabei 
waren Sie immer sehr hilfreich, Herr Kolb!) 

Da, wo es weiße Flecken gibt - das sind nun wirklich die 
Ausnahmen -, haben wir ein doppeltes Fangnetz instal- 
liert. Es gibt zum einen ein Verbot sittenwidriger Löhne 
und zum anderen das Mindestarbeitsbedingungenge- 
setz, das zuletzt unter Ihrer Ägide, Herr Kollege Heil, 
geändert wurde. Haben Sie denn damals Mist produ- 
ziert? Das Gesetz ermöglicht es, genau in den angespro- 
chenen Fällen einzugreifen. Aber die Erfahrungen der 
letzten Jahre zeigen: Einen entsprechenden Bedarf gibt 
es offensichtlich nicht. Die sozialen Verwerfungen, die 
Sie als Voraussetzung hier genannt haben, gibt es eben 
nicht. 

(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) 

Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ich 
finde es richtig, dass wir darauf achten, dass die Men- 

(B) sehen ein ausreichendes Mindesteinkommen haben. Das 
ist in der Tat der Fall: Es gibt bei 22 Millionen sozial- 
versicherungspflichtigen Beschäftigten gerade einmal 
11 000 Vollzeit arbeitende, alleinstehende Beschäftigte, 
die aufstocken müssen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Also kein Pro- 
blem! Alles super!) 

Das zeigt, dass die Probleme eine andere Dimension ha- 
ben, als Sie es uns hier weismachen wollen. Deshalb hal- 
ten wir am Koalitionsvertrag und an der Linie, die wir 
bei den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben, fest. 
Mit uns wird es keinen gesetzlichen flächendeckenden 
Mindestlohn geben. Ein Mindestlohn schadet den Men- 
schen, die einen Arbeitsplatz suchen. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Sie müssen zum Schluss kommen. 

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): 

Deswegen sollten Sie darüber nachdenken, ob Ihre 
Position richtig ist. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen. 


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr 
Kolb, nichts ist mächtiger als die Idee, deren Zeit ge- 
kommen ist, 

(Zuruf von der LINKEN: So ist es!) 

und es sieht ganz danach aus, als würde die Zeit auf Sie 
keine Rücksicht mehr nehmen. Die Zeit geht über die 
FDP hinweg. 

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus 
Ernst (DIE LINKE - Dr. Heinrich L. Kolb 
[FDP]: Warten wir es erst einmal ab! - Max 
Straubinger [CDU/CSU]: Totgesagte leben 
länger!) 

Es gibt einen einzigen Fortschritt: Wir haben bislang 
hier in diesem Parlament noch keine Mindestlohndiskus- 
sion geführt, in der wir nicht ausführlich begründen 
mussten, warum ein Mindestlohn in Deutschland not- 
wendig ist. Dass nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen 
wird, dass wir einen Mindestlohn brauchen, dazu haben 
die Gutachten, die diese Bundesregierung in Auftrag ge- 
geben hat, einen Beitrag geleistet. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können Sie 
doch gar nicht wissen, Frau Kollegin! Diese 
Gutachten gibt es doch gar nicht!) 

Wir haben es jetzt schwarz auf weiß, Herr Kolb, dass 
Ihre Behauptung, Mindestlöhne würden Arbeitsplätze 
vernichten, einfach falsch ist. Das hat lange gedauert, 
aber wir diskutieren heute nicht mehr über die Frage, ob 
ein Mindestlohn eingeführt werden soll, sondern über 
die Frage, wie der Mindestlohn ausgestaltet werden soll. 
Das ist in der Tat eine ziemlich entscheidende Frage. 

Was ist denn von dem Merkel-Mindestlohn nach dem 
mehrmaligen Zurückrudern übrig geblieben? Ich kann 
dazu nur sagen: Dabei handelt es sich um einen Schein- 
riesen; denn je näher Sie ihn mit der Lupe untersuchen, 
desto kleiner wird er. 

(Andrea Nahles [SPD]: So ist es!) 

Er soll erstens nur für die Branchen gelten, in denen es 
keine Tariflöhne gibt. Aber was heißt das konkret? Die 
Friseurin in Sachsen mit einem Verdienst von 3,06 Euro 
in der Stunde hat keinen Cent mehr in der Tasche. Das 
Gleiche gilt für die Floristin in Thüringen. Das gilt auch 
für eine hohe Zahl an Beschäftigten im Hotel- und Gast- 
stättengewerbe, beim Gartenbau und in der Landwirt- 
schaft. Für all diejenigen ändert sich durch den Merkel- 
Mindestlohn gar nichts. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nicht so- 
fort, aber dann! Das ist doch Unfug!) 

Mit anderen Worten: Beim Merkel-Mindestlohn gehen 
Sie davon aus, dass Hungerlöhne dann akzeptabel sind, 
wenn sie den tariflichen Segen haben. Das ist eine Einla- 
dung an die Arbeitgeber zu Dumpinglöhnen. Das wer- 
den wir nicht mitmachen. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Dafür gibt 
es doch die Gewerkschaften!) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Brigitte Pothmer 

Zweitens. Der Merkel-Mindestlohn sieht keine ein- 
heitliche Lohnuntergrenze vor. Da kann ich mit Herrn 
Laumann wirklich nur sagen: Auch ich kann mir kein 
Deutschland vorstellen, in dem es 500 unterschiedliche 
Lohnuntergrenzen gibt. Dieser Flickenteppich wäre im 
Übrigen auch eine Zumutung für die Wirtschaft. Das 
werden wir nicht mitmachen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Dann wollen wir einmal schauen, was sich eigentlich 
bei Ihrer Mindestlohnkommission herauskristallisiert. 
Eine Mindestlohnkommission in der Art, wie Sie sie sich 
vorstellen, haben wir schon. Wir haben sie in Form des 
Hauptausschusses gemäß Mindestarbeitsbedingungen- 
gesetz, und zwar seit 2009. Bislang hat dieser Hauptaus- 
schuss nicht einen einzigen Mindestlohn durchgesetzt. 
Ich sage Ihnen: Wenn Sie Ihrer Mindestlohnkommission 
keinen anderen Geist einhauchen, dann wird sich nichts, 
aber auch gar nichts im Bereich Dumpinglöhne ändern. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- 
KEN) 

Ich befürchte, genau das ist Ihr Ziel. Der Mindestlohn, 
den Sie diskutieren, ist nichts anderes als weiße Salbe. 
Deswegen hat, wie ich befürchte, Michael Fuchs, der 
Vertreter Ihres Wirtschaftsflügels, recht. Er hat nämlich 
auf die Frage der Leipziger Volkszeitung , was sich durch 
die von der CDU vorgesehene Lohnuntergrenze ändern 
würde, gesagt: „Nichts, rein gar nichts.“ Das wollen wir 
aber nicht. Wir wollen einen echten Mindestlohn, und 
wir wollen, dass es zu einer echten sozialpolitischen 
Kehrtwende, zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität 
kommt. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Frau Merkel verfolgt wahltaktische und machtstrate- 
gische Ziele mit der Mindestlohndiskussion. 

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da 
lacht doch die Koralle!) 

Sie will ein Wahlkampfthema vom Tisch räumen, und 
sie will sich hübsch machen für andere Koalitionspart- 
ner, mit Vorliebe für eine Große Koalition. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das schafft sie 
nicht!) 

- Das will ich einmal hoffen, Hubertus. Auf euch ist ja 
nicht so viel Verlass. 

(Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Die angespro- 
chenen Versuche sind ja unübersehbar!) 

Dass sie mit der FDP keinen Staat mehr machen kann, 
hat sich ja bis zu ihr herumgesprochen. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Merkel-Min- 
destlohn geht es um nichts anderes als um der Kaiserin 
neue Kleider. Diese neuen Kleider sollen in diesem Fall 
sozialpolitischer Natur sein. Aber für die Beschäftigten 
im Niedriglohnsektor geht es wahrlich um mehr. Sie ste- 
hen vor der Frage: Lohngerechtigkeit oder Weiter-so mit 


Schwarz-Gelb? Wir wissen, wo wir stehen, meine Da- 
men und Herren! 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSU- 
Fraktion. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Frank Heinrich (CDU/CSU): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Die Debatte geht über unsere Haltung als Re- 
gierungskoalition zum Thema Mindestlohn. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, richtig, die 
Haltung!) 

Wenn Sie, Frau Kollegin Pothmer, jedoch die ganze Zeit 
von einem Merkel-Mindestlohn reden, kann ich Ihnen 
nur entgegnen: Sie reden von einer Phantomsituation. 
Wir führen diese Debatte nämlich erst. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Merkel als 
Phantom, sehr gut!) 

Eine große Volkspartei führt eine Debatte, und wir wol- 
len das auch in aller Breite diskutieren. In diesem Pro- 
zess befinden wir uns. Wir haben noch keinen Merkel- 
Mindestlohn festgelegt. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!) 

Es verwundert mich, dass sowohl von der Opposition, 
insbesondere von den Linken, als auch in der Presse und 
der Öffentlichkeit so getan wird, als ob es an der Stelle 
schon einen grundlegenden Richtungswechsel gäbe. In 
Deutschland wurde 1997 - Helmut Kohl war an der Re- 
gierung - zum ersten Mal ein Mindestlohn eingeführt, 
und zwar in der Elektrobranche. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Da fällt mir die Werbung für ein bestimmtes Bonbon ein: 
„Wer hat’s erfunden?“ - Wir haben den Mindestlohn 
nicht erfunden, wohl aber in die Tat umgesetzt. 

(Andrea Nahles [SPD]: Das war ja wohl Olaf 
Scholz! Das ist ja unglaublich!) 

Mindestlöhne gelten inzwischen in verschiedenen Bran- 
chen, und sie leisten - so Frau von der Leyen am letzten 
Sonntag - „einen großen Beitrag“ auch zu unserem Job- 
wunder. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sagen Sie doch 
mal, was Sie wollen!) 

Jetzt wird - je länger, desto mehr - thematisiert, dass es 
noch Bereiche gibt, die ebenfalls eine solche Lohnunter- 
grenze brauchen. Diese Diskussion beginnt aber nicht 
erst jetzt, wie Sie, Herr Ernst, vorhin gesagt haben. Nein, 
wir wollen seit Monaten dieses Thema behandeln. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Frank Heinrich 

(A) (Klaus Emst [DIE LINKE]: Aber ihr macht 
nichts! Das sieht man doch jetzt wieder! Ihr ei- 
ert doch rum!) 

Wir sind dabei. Auch die CDA hat ihren Teil beigetragen 
und, ebenfalls durch Frau von der Leyen, Stellung bezo- 
gen in dieser Debatte. Das ist vielleicht der Unterschied: 
Wir wollen eben nicht nur von politischen Forderungen 
getrieben handeln, 

(Klaus Emst [DIE LINKE] : Das seid ihr aber: 
getrieben!) 

sondern ordentliche Arbeit abliefern. Wir wollen keinen 
Überbietungswettbewerb und keinen Unterbietungswett- 
bewerb. 

(Zuruf von der SPD: Taten statt Worte!) 

Weil wir gute Arbeit machen wollen, 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Ihr seid eine 
Bremsertruppe!) 

hat die Bundesregierung den Auftrag im Koalitionsver- 
trag ernst genommen und ein entsprechendes Gutachten 
erstellen lassen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha, es gibt 
doch ein Gutachten!) 

Sie hat verschiedene Branchenmindestlöhne von ver- 
schiedenen Institutionen untersuchen lassen. Es geht 
also nicht, wie Sie hier mutmaßen, um einen allgemei- 
nen Mindestlohn, sondern es sind einzelne Branchen- 
mindestlöhne untersucht worden. 

(B) 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben wir 
doch schon! Warum dann die Debatte?) 

Auf die Ergebnisse der Evaluation bin ich sehr gespannt. 

Worum geht es uns? Sie haben mich danach gefragt, 
und Sie fragen in dieser Debatte danach. Die FDP hat für 
sich Stellung genommen, ich möchte das für uns tun. Die 
Schnittmenge ist sehr groß. Wir wollen in einer spannen- 
den und, wie ich finde, angemessenen Diskussion einen 
Weg suchen, wie wir einer gerechten Entlohnung noch 
näher kommen können. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Also haben wir sie 
jetzt nicht!) 

Ich müsste Ihrer Meinung nach, Frau Nahles, brüskiert 
sein als Sozialpolitiker, aber das bin ich nicht. Was ist 
denn gerechter Lohn? Bezieht er sich auf, wie von Ihnen 
genannt, die Friseurin in Sachsen oder auf die in Rhein- 
land-Pfalz auf dem Land lebende Helferin im Drogerie- 
markt, die mit 5,30 Euro zufrieden sein muss? Oder 
muss man noch andere Gerechtigkeitsfaktoren betrach- 
ten: den Markt als solches, 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Nicht vom Markt, 
sondern vom Lohn leben, darum geht es!) 

die Leistung, wie sie gerade genannt wurde, die Situa- 
tion - es gibt einen Unterschied zwischen dem Gehalt im 
Erzgebirge und dem Gehalt in München -, den Aufwand 
und den Bedarf? Es kennzeichnet den sozialen Rechts- 
staat, in dem ich froh bin leben zu dürfen, 


(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Man darf froh (C) 

sein, leben zu dürfen, genau!) 

dass Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in ein men- 
schengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. 

Ich zitiere, was am vergangenen Sonntag in Chem- 
nitz, meiner Stadt, gesagt wurde: Sprechen Sie nicht 
über Mindestlöhne - wir sprechen heute nicht direkt da- 
rüber, 

(Andrea Nahles [SPD]: Das ist mir völlig egal! 
Hauptsache, Sie machen es!) 

das ist aber der Konsens heute Morgen -, sondern über 
Löhne, von denen Menschen in Würde ihr Leben gestal- 
ten können. 

Prinzipiell ist es richtig, dass jeder, der vollerwerbstä- 
tig ist, ohne Unterstützung des Staates auskommen 
sollte. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann machen 
Sie doch mal was!) 

Aber hier gilt es zu differenzieren. Wenn ich - ich war 
selber Sozialhilfeempfänger - für meine Familie Hartz IV 
beantrage, dann liegt dieser Satz bei ungefähr 
2 700 Euro. Der Lohn, den ich demnach verdienen 
müsste, um in Würde leben zu können, liegt bei etwa 
16 bis 17 Euro pro Stunde. Das könnte Anlass geben, in 
dem von Ihnen betriebenen Überbietungswettbewerb 
mitzuspielen. Das wollen wir aber nicht. Es gibt für uns 
zwei verschiedene Kategorien von Mindestlöhnen: den 
gesetzlich festgelegten Mindestlohn, flächendeckend für (D) 
alle Regionen und Branchen - den lehnen wir ab 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist doch ein 
Eiertanz, den Sie hier aufführen! Glauben Sie 
eigentlich selber, was Sie sagen?) 

und den von den Tarifpartnern ausgehandelten spezifi- 
schen, für die Branche festgelegten Mindestlohn, der 
vom Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt wer- 
den kann. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir brauchen 
beides!) 

Wir wollen das Erste nicht, am Zweiten arbeiten wir, und 
wir wollen das erweitern. 

Die Höhe darf nicht von der Politik, sondern muss 
von den Tarifparteien entschieden werden, unterstützt 
und ermutigt von Politik und Wissenschaft. Ein Vor- 
schlag dafür lautet, dass wir uns an den in der Zeitarbeit 
ausgehandelten Mindestlohn anlehnen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat Frau 
Merkel schon abgelehnt!) 

Auch hier bin ich gespannt auf die Diskussion in den 
nächsten Tagen und darauf, wie die Verhandlungen der 
Tarifpartner sich entwickeln werden. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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(A) Frank Heinrich (CDU/CSU): 

Ich komme zum Ende. - Neben dem hohen Gut der 
Tarifautonomie selbst und dem oft eingeforderten 
Grundsatz der Solidarität ist es ein großer Gewinn, dass 
wir in der sozialen Marktwirtschaft von Subsidiarität re- 
den: So wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig. 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege! 

Frank Heinrich (CDU/CSU): 

Ich bin der Überzeugung - das hat auch der Staatsse- 
kretär gestern im Ausschuss gesagt -: Die Tarifparteien 
können das. Wir werden sie dazu ermuntern. 

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Frak- 
tion. 


(Beifall bei der SPD) 

Hubertus Heil (Peine) (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- 
nen und Kollegen! Frau Ministerin, zu dieser Frage hätte 
uns die Haltung der Bundesregierung interessiert. In der 
gestrigen Debatte über das Betreuungsgeld war Ihre Kol- 
(B) legin Schröder so mutig, zu versuchen, uns ihren Stand- 
punkt zu erklären. 

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ihr auch 
gelungen!) 

Was Sie meinen, das lesen wir in der Bild am Sonntag. 
Als ich Ihr Interview gelesen habe, erging es mir wie 
meiner Kollegin Nahles. Ich dachte nämlich: Hossa, die 
Waldfee! Da bewegt sich etwas. 

Herr Kober, Sie sind von Hause aus evangelischer 
Theologe. Ich bin evangelischer Christ. Daher ist folgen- 
der Satz nahe liegend: Im Himmel ist mehr Freude über 
einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. - Zu 
Deutsch: Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn tatsäch- 
lich unseren Vorschlägen anschließen, Frau von der 
Leyen, dann würden wir das nicht kritisieren. 

(Pascal Kober [FDP]: Man darf sich aber nicht 
selbst zum Gerechten machen!) 

An dieser Stelle sage ich aber ganz klar: Die Diskussion 
bei Ihnen hat sich in den letzten Tagen zerbröselt. Sie 
wissen nicht nur nicht, was Sie wollen, Sie wissen auch 
nicht, was Sie tun. 

(Beifall bei der SPD) 

Es gibt da die buntesten Vorschläge. Frau von der Leyen, 
ich befürchte, dass am Ende Herr Laumann recht hat, der 
heute in einem Interview gesagt hat, er rechne angesichts 
der Verhältnisse in seiner Partei und bei seinem Koali- 
tionspartner nicht damit, dass sich in dieser Legislatur- 


periode in dieser Sache überhaupt etwas tut. Das ist die (C) 
schlechte Nachricht für die Menschen in Deutschland. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber Herr 
Heil!) 

Ich sage Ihnen ganz offen: Das künstliche Auseinan- 
derdividieren von über das Arbeitnehmer-Entsendege- 
setz geschaffenen tarifvertraglichen Mindestlöhnen und 
einer allgemeinen Lohnuntergrenze bzw. eines gesetzli- 
chen Mindestlohnes, der diesen Namen auch verdient, 
wird der Sache nicht gerecht. Sie könnten ohne Weiteres 
etwas dafür tun, dass tarifvertragliche Mindestlöhne ein- 
facher vereinbart werden können - das haben wir Ihnen 
im Frühjahr vorgeschlagen -, indem Sie allen Branchen 
diese Möglichkeit im Arbeitnehmer-Entsendegesetz er- 
öffnen. Sie tun es nicht, weil sich die CDU nicht gegen 
die FDP durchsetzen konnte. Das ist an dieser Stelle die 
Wahrheit. 


Für jede neu hinzukommende Branche müssen wir 
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sozusagen anfassen. 
Bisher gilt es nämlich nur für zehn Branchen. Es ist da- 
her ein zähes Ringen um tarifvertragliche Mindestlöhne; 
denn erstens muss eine neue Regelung, was den Kreis 
der betroffenen Branchen angeht, in das Gesetz aufge- 
nommen werden, und zweitens muss die Mehrheit im 
Tarifausschuss entscheiden. Das zu ändern, wäre der 
erste Schritt, den wir machen könnten. 


Wir Sozialdemokraten wollen einen Vorrang für tarif- 
vertragliche Mindestlöhne. Darum haben wir Jahr für 
Jahr gekämpft - dies mussten wir Ihnen auch in den Ver- 
handlungen im Frühjahr Branche um Branche abringen -, 
und deshalb sind wir so weit gekommen. 


(D) 


(Beifall bei der SPD - Max Straubinger [CDU/ 
CSU]: Der Erste war Herr Kolb, der das als 
Staatssekretär im Bau eingeführt hat!) 


Wir wollen, wie gesagt, einen Vorrang der Tarifautono- 
mie. Wir wollen aber auch die Möglichkeit für tarifver- 
tragliche Mindestlöhne weiter ausbauen. Daneben brau- 
chen wir eine Lohnuntergrenze, also einen allgemeinen 
gesetzlichen Mindestlohn, als untere Auffanglinie. 


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 


Ich sage Ihnen auch, warum. Die Kollegin Pothmer hat 
nämlich vollkommen recht: In einigen Bereichen gibt es 
Tarifverträge, die diesen Namen nicht mehr verdienen. 
Das liegt an der Tarifflucht auf Arbeitgeberseite und 
auch an der Tatsache, dass es für Gewerkschaften in vie- 
len Branchen außerordentlich schwierig ist, sich zu orga- 
nisieren. Das ist die Wahrheit. 


Der Mindestlohn ist notwendig, weil beispielsweise 
ein Stundenlohn von - wenn ich mich richtig erinnere - 
3,12 Euro im Friseurgewerbe in Sachsen leider Gottes 
Bestandteil eines Tarifvertrages ist. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wollen Sie in 
Tarifverträge eingreifen?) 

Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Tarifautonomie hat 
sich jahrzehntelang bewährt. Wer die Augen aber davor 
verschließt, dass die aktuelle Entwicklung, die sich in 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Hubertus Heil (Peine) 

(A) der Tarifflucht und in der aktuellen Schwäche auf Ar- 
beitgeber- und Gewerkschaftsseite zeigt, dazu geführt 
hat, dass Lohnfindungsprozesse bei 3,12 Euro oder bei 
3,06 Euro enden, der muss handeln. Deshalb sage ich Ih- 
nen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich hier hinstellen, 
rumeiern und die verschiedensten Vorschläge machen. 
Für die Öffentlichkeit und für die betroffenen Menschen 
ist es vollkommen uninteressant, welcher Flügel der 
CDU sich in dieser Frage durchsetzt. Es zählen Taten. Es 
gilt der Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, au- 
ßer man tut es. 

(Beifall bei der SPD) 

Frau Ministerin, Sie haben in der Bild am Sonntag an- 
gekündigt, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode ei- 
nen Gesetzesvorschlag machen wollen. Nach Ihrem 
Leipziger Parteitag werde ich Sie täglich fragen, wann 
Sie liefern. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das hat 
sie wirklich nicht verdient!) 

Ich kann Ihnen aber nur die alte Kaufmannsweisheit ent- 
gegenhalten: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf 
Lager hat. Diese Koalition hat nichts auf Lager. Das 
führt zu dem Ergebnis, dass Sie manchmal Expertisen, 
die Ihnen nicht in den Kram passen, unterdrücken. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist 
doch Unfug, Herr Heil!) 

Das angesprochene Gutachten von renommierten Insti- 
tuten wie 1AQ, 1AW, IAB und ZEW im Auftrag des Bun- 

(B) desministeriums für Arbeit und Soziales, mit Steuergel- 
dem bezahlt, liegt Ihnen doch seit dem 3 1 . August vor. 
Frau Ministerin, es ist ganz interessant, dass man mit ei- 
nem wissenschaftlichen Gutachten erst einmal in die 
Ressortabstimmung mit FDP-Ministern eintreten muss, 
um zu schauen, ob einem die Ergebnisse passen. Das ist 
ein dickes Ding, das Sie sich da leisten. 

(Beifall bei der SPD) 

Dieses Gutachten beleuchtet die Arbeitsplatzeffekte 
der tarifvertraglichen Mindestlöhne in den Branchen. 
Daraus ergibt sich, dass das, was die FDP seit Jahren be- 
hauptet, dass nämlich Mindestlöhne Arbeitsplätze ver- 
nichten würden, schlicht und ergreifend Unsinn ist. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN - Max Straubinger [CDU/CSU]: 

Die meisten Arbeitsplätze hat Rot-Grün ver- 
nichtet in Ihrer Regierungszeit! - Zuruf des 
Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) 

- Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Kolb, dann 
will ich Ihnen einen Rat von einem Menschen geben, 
dem sie vielleicht mehr Zutrauen als uns; das kann ja 
sein. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jedem!) 

Ich zitiere: 

Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können 
und sein Lohn muss wenigstens existenzsichernd 
sein! Ja, er sollte in der Regel etwas höher sein. An- 


derenfalls wäre es nicht möglich, eine Familie zu 
ernähren. 

Wissen Sie, wer das schrieb, Herr Kolb? 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] : Irgendein 
Papst?) 

- Nein, das ist kein Papst gewesen, sondern das war ein 
gewisser Adam Smith im Jahre 1776. 235 Jahre nach 
dem Urvater der liberalen Vorstellung von Marktwirt- 
schaft haben Sie es immer noch nicht begriffen. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist schon länger 
her!) 

Ich sage Ihnen: Das werden die Menschen Ihnen nicht 
mehr durchgehen lassen. Frau Merkel kann nicht länger 
rumeiern. Wir werden Sie stellen; wir werden Sie auffor- 
dern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, - 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. 

Hubertus Heil (Peine) (SPD): 

- und wir werden unseren Gesetzentwurf einbringen, 
weil es uns darum geht, dass Menschen, die hart arbei- 
ten, von ihrer Arbeit auch leben können. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: 

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Johannes 
Vogel für die FDP -Fraktion. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wird nach der 
Haltung der Regierungskoalition gefragt. Sie ist im Ko- 
alitionsvertrag ganz klar niedergelegt - darauf wurde 
schon hingewiesen -: Einen allgemeinen gesetzlichen 
Mindestlohn wollen wir nicht. Warum denn, Herr Heil? 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Es ist doch eindeutig falsch, was Sie 
machen! Es wird sehr einsam um Sie! Ihr Ko- 
alitionspartner ist weiter als Sie!) 

- Nein, Frau Kollegin Pothmer. - Warum denn? Lassen 
Sie uns einmal im Detail darüber reden. 

Sie haben vorhin die Realität in Deutschland be- 
schrieben. Wir alle wollen, dass die Menschen von ih- 
rem Lohn leben können. 

(Klaus Emst [DIE LINKE]: Das verhindern 
Sie aber!) 

Bei der Debatte müssen wir uns eines klarmachen. Es 
geht um Fairness gegenüber drei Gruppen, erstens ge- 
genüber den Arbeitnehmern, die gute Löhne wollen. Das 
wollen wir alle, deswegen tun wir mehr für Qualifikation 

- und zwar mehr, als Sie getan haben, liebe Kolleginnen 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16505 


Johannes Vogel (Lüdenscheid) 

(A) und Kollegen gerade von beschäftigten Arbeitneh- 
mern. 

(Andrea Nahles [SPD]: Mithilfe der Arbeits- 
marktförderung, die Sie halbieren! Das ist 
wohl ein Witz!) 

Zweitens geht es um Fairness gegenüber Arbeitge- 
bern und Unternehmen, die die Löhne zahlen können 
müssen. Drittens schließlich geht es um Fairness gegen- 
über denjenigen, die erst auf den Arbeitsmarkt wollen. 
Das ist doch die Voraussetzung für alles Weitere. Echte 
Teilhabe in der Gesellschaft ist natürlich am besten mög- 
lich, wenn man auf dem Arbeitsmarkt dabei ist. Das 
müssen wir im Blick haben. 

Zum deutschen Jobwunder gehört die Tarifautono- 
mie, das heißt, dass in unserer sozialen Marktwirtschaft 
die Löhne von den Tarifpartnern ausgehandelt werden. 
Das dürfen wir nicht gefährden. Genau das fordern Sie 
aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- 
tion. 

Schauen wir uns doch einmal an, wie die Lage ist, 
Herr Heil! Wie viele Menschen in Deutschland können 
denn nicht von ihrem Lohn leben? 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 300 000! - Klaus 
Ernst [DIE LINKE]: 300 000 Vollzeit!) 

Es wird immer die Zahl von 1,4 Millionen Aufstockem 
genannt. Von dieser Gruppe arbeiten 900 000 nur in Teil- 
zeit. Hier ist nicht die Lohnhöhe das Problem, sondern 
die Arbeitszeit. Warum ist das so? Weil Sie die Hinzu- 

(B) verdienstgrenzen bei Hartz IV so ausgestaltet haben, 
dass man kaum aus diesen Grenzen herauswachsen 
kann. Dieses Problem wollen wir uns im nächsten Jahr 
noch einmal vornehmen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oh mein Gott! - 
Die Steuerzahler sollen die Armutslöhne auf- 
stocken! Das wollen Sie! - Klaus Emst [DIE 
LINKE]: Da müsst ihr euch aber beeilen!) 

125 000 Menschen aus dieser Gruppe sind selbststän- 
dig. Man muss untersuchen, ob diese Menschen ein gu- 
tes Geschäftsmodell als Grundlage haben und was man 
für sie tun kann, um gegebenenfalls nachzubessern. Hier 
geht es nicht um die Lohnhöhe. 

300 000 Menschen arbeiten Völlzeit und stocken auf. 
Herr Heil, die weit überwiegende Zahl dieser Menschen 
stockt aber nicht auf, weil die Lohnhöhe so niedrig ist, 
sondern weil sie eine große Familie haben. Das muss 
man einmal sagen. Es ist eine sozialpolitische Errungen- 
schaft in diesem Land, dass wir Familien nicht alleine 
lassen, sondern ihre wirtschaftliche Lage verbessern. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und jetzt ma- 
chen Sie Betreuungsgeld, damit die zu Hause 
bleiben!) 

Die Frage lautet: Wie gehen wir als Staat damit um, 
dass wir den Vorrang für Tarifpartner wollen, dass wir 
natürlich - der Kollege Kolb hat es ausgeführt - nicht 
wollen, dass es einzelne schwarze Schafe unter den Un- 


ternehmen gibt, die einen niedrigeren Lohn zahlen als (C) 
sie könnten? 

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Und was machen Sie dagegen?) 

Wie schafft man das? Die Tarifautonomie hat sich be- 
währt. Daher ist wohl klar, dass man in drei Schritten 
vorgeht. Für die 80 Prozent der Beschäftigten in 
Deutschland, die tarifgebunden sind, funktioniert die Ta- 
rifautonomie. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Leistung muss 
sich lohnen, Herr Kollege! - Klaus Ernst [DIE 
LINKE]: So ein Unfug!) 

Hier brauchen wir keine Lösung, weil das Ganze bei den 
Tarifpartnern richtig funktioniert. 

In diesem Zusammenhang werden immer die Friseure 
aus Thüringen angeführt. Wenn wir ehrlich miteinander 
debattieren wollen, dann gehört hier auch dazu, dass die- 
ser Friseurtarifvertrag aus Thüringen, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sachsen!) 

eine wesentliche Umsatzbeteiligung vorsieht. 

(Karin Binder [DIE LINKE]: Ihr Risiko auf 
die Beschäftigten abladen, genau! - Klaus 
Ernst [DIE LINKE]: Machen Sie es doch ab- 
hängig von der Haarlänge!) 

Das heißt, es ist unfair, wenn Sie nur auf die Lohnhöhe 
schauen. Das können Sie gar nicht vergleichen. Die Ge- 
werkschaften, denen Sie offenbar nicht mehr vertrauen, 

Herr Heil, machen in unserem Land bei der Lohnfindung (D) 
keinen Unsinn. 

Bei den Branchen, in denen es einzelne schwarze 
Schafe gibt, besteht die Möglichkeit, die unterste Lohn- 
höhe für allgemeinverbindlich zu erklären. 

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Was ist mit den Branchen, wo es 
keinen Arbeitgeberverband gibt?) 

Das hat diese Regierungskoalition in mehr Fällen getan 
als Sie in der rot-grünen Regierungszeit. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was sagt ei- 
gentlich Frau Ministerin dazu? Ist sie auch Ih- 
rer Meinung?) 

Der Unterschied zum allgemeinen Mindestlohn, den Sie 
wollen, ist eben nur: Hier liegt die Lohnfindung weiter- 
hin in den Händen der Tarifpartner und nicht hier im 
Deutschen Bundestag, in den Händen von Herrn Emst 
und anderen. 

(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] - Andrea 
Nahles [SPD]: Ihre spitzfindigen Ausführun- 
gen helfen niemandem!) 

Das wollen wir so lassen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Alles in Ord- 
nung in Deutschland! - Weiterer Zuruf von der 
SPD: Alles super!) 

- Nein. 



16506 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Johannes Vogel (Lüdenscheid) 

(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es ist eine Un- 
verschämtheit den Menschen gegenüber, die 
das betrifft, alles schönzureden!) 

- Nein, wir reden nichts schön; wir stellen die Realität in 
Deutschland dar. Dazu gehört eben, dass wir das deut- 
sche Jobwunder haben und die Löhne in der Regel aus- 
kömmlich sind. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie erzählen Un- 
sinn! Sie wissen nicht, von was Sie reden! - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Augen vor 
der Realität verschließen! - Gegenruf des Abg. 

Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es steht uns nicht 
zu, die Tarifparteien zu kritisieren, Herr Heil!) 

Das können wir nicht erhalten, indem wir uns einer Poli- 
tik anschließen, die alles zurückdreht und alles verän- 
dern will, was dieses deutsche Jobwunder ausmacht. Das 
wäre eine Unverschämtheit gegenüber den Menschen, 
die dann arbeitslos werden, Herr Kollege Heil. Schauen 
Sie sich doch einmal im europäischen Ausland um! Das 
wollen wir nicht. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die haben doch 
den Mindestlohn! Wenn Sie sich umschauen, 
dann sehen Sie: Der Mindestlohn ist über 
10 Euro! Sie wissen gar nicht, von was Sie re- 
den!) 

- Ja, Herr Ernst. Er spielt eine wesentliche Rolle bei der 
Frage der hohen Arbeitslosigkeit. 

Bleiben wir aber bei dem Fall. Für die wenigen wei- 

(B) ßen Flecken gibt es in Deutschland sogar das Mindestar- 
beitsbedingungengesetz. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und? Greift 
das? Hilft das?) 

Wir können eine Lösung für diese Branchen finden. 
Wenn Sie mehr wollen, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! - Brigitte 
Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir 
wollen mehr!) 

dann müssen Sie zugeben: Sie wollen einen allgemeinen 
Mindestlohn; das sagen Sie auch offen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind ehr- 
lich! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, natürlich 
wollen wir das!) 

Ich sage Ihnen: Ein allgemeiner Mindestlohn, eine allge- 
meine politische Lohnuntergrenze, die von Aachen bis 
Cottbus und von Flensburg bis Konstanz gilt und für alle 
Branchen identisch ist, wird nicht zu höheren Löhnen, 
sondern zu höherer Arbeitslosigkeit führen. 

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max 
Straubinger [CDU/CSU] - Widerspruch bei 
der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - 
Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die eigenen Stu- 
dien zeigen das Gegenteil! Sind Sie denn nicht 
mehr in der Lage, zu lesen? Sie haben Toma- 
ten auf den Augen!) 


Deshalb werden wir weiter differenzierte Lösungen fin- (C) 
den, die den Menschen wirklich helfen, und die Tarif- 
autonomie als wesentliches Element der sozialen Markt- 
wirtschaft achten, und das ist auch gut so. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Das war unser Kollege Johannes Vögel für die FDP- 
Fraktion. - Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke un- 
sere Kollegin Jutta Krellmann. Bitte schön, Frau Kolle- 
gin Jutta Krellmann. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Jutta Krellmann (DIE LINKE): 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Guten Tag, liebe Kol- 
leginnen und Kollegen! Ich möchte da anknüpfen, wo 
mein Kollege Klaus Ernst aufgehört hat, 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh weh!) 

nämlich bei Art. 1 Grundgesetz - ich zitiere daraus, da- 
mit auch Sie es verstehen -: „Die Würde des Menschen 
ist unantastbar.“ Zur Würde gehört auch, dass die Men- 
schen von ihrer Arbeit leben können. 

(Beifall bei der LINKEN - Johannes Vogel 
[Lüdenscheid] [FDP]: Und dass sie Arbeit ha- 
ben, Frau Kollegin!) 

(D) 

Das ist seit zehn Jahren zunehmend nicht mehr der Fall: 

23 Prozent der Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnbe- 
reich. In der Exportnation Deutschland gibt es Löhne un- 
ter 5 Euro. Das kann doch gar nicht wahr sein; das ist ein 
echter Skandal. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb 
[FDP]: Dann lesen Sie Art. 9!) 

Herr Kolb sagte, dass es 1 1 000 Aufstocker gibt. Da- 
mit kann er doch nur seinen Landkreis in der Nähe von 
Frankfurt meinen. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Vollzeitbe- 
schäftigte Alleinstehende bei 22 Millionen Be- 
schäftigten!) 

Für Deutschland gilt das nicht. Das gilt vielleicht für Ba- 
benhausen. Mein Kollege Klaus Ernst hat die Antwort 
der Bundesregierung auf die Frage, wie viele vollzeitbe- 
schäftigte Aufstocker es in Deutschland gibt: 326 000, 
nicht 11 000. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. 

Kolb [FDP]: Da sind Verheiratete mit Kindern 
dabei! Sie sollten nicht Äpfel mit Birnen ver- 
gleichen!) 

Insofern ist es gut, dass die CDU auf ihrem Parteitag das 
Fenster für den Mindestlohn aufmachen will. Links 
wirkt! 

(Beifall bei der LINKEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16507 


Jutta Krellmann 

Aber was wollen Sie jetzt machen? Die Informatio- 
nen werden immer diffuser und - wir haben Herbst - im- 
mer vernebelter. Die Informationen, die ich habe, sind 
aus dem Text des Antrages für den CDU-Parteitag - ich 
zitiere 

Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine 
allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den 
Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich 
festgelegter Lohn nicht existiert. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ja, genau 
so! - Klaus Emst [DIE LINKE]: Dann bleibt 
ihr doch bei 4 Euro! Das ist doch die Konse- 
quenz!) 

Jetzt geht das Geschacher los: 

(Frank Heinrich [CDU/CSU]: Das ist nicht 
„Geschacher“! Das ist Diskussion!) 

Frau Merkel spricht sich für eine Lohnuntergrenze aus. 
Ja, toll. Das verbindet sie aber mit dem Ziel: keine An- 
bindung an die Löhne in der Leiharbeit. Abweichungen 
nach unten sollen möglich sein. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Art. 9 Abs. 3 
Grundgesetz, Frau Kollegin Krellmann! Sie 
müssen es ganz lesen, nicht nur Art. 1!) 

Auch ich will keine Anbindung an die Löhne in der 
Leiharbeit - das sage ich ganz deutlich -, nicht weil mir 
das zu viel ist, sondern weil mir das eindeutig zu wenig 
ist. 

(Beifall bei der LINKEN) 

7,89 Euro im Westen und 7,01 Euro im Osten sind mir 
einfach zu wenig. Unsere Forderung ist: 10 Euro für alle. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Erklären Sie das den Ta- 
rifpartnern, den Gewerkschaften!) 

Frau Merkel macht einen Knicks vor der Arbeitgeber- 
lobby. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) 

Ich kann nicht verstehen, wieso sich die Ostfrau Merkel 
nicht für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West 
einsetzt, obwohl sie selbst aus dem Osten kommt. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Weil es die Tarifpartner 
so beschlossen haben! - Max Straubinger 
[CDU/CSU]: Sie setzt sich mehr ein für Ost 
und West!) 

Ich als Urwessi setze mich dafür ein, weil ich die 
Schnauze voll davon habe, dass alle toll finden, dass die 
Mauer weg ist, Sie aber nichts tun, damit sich die Le- 
bensverhältnisse in irgendeiner Form angleichen - 
nichts! 

(Beifall bei der LINKEN - Peter Weiß [Em- 
mendingen] [CDU/CSU]: Nicht der Frau 
Merkel sagen, sondern der Gewerkschaftsfüh- 
rung! Die machen die Tarifverträge!) 


Meine Damen und Herren aus der CDU, Sie haben (C) 
mit Ihrer Diskussion Erwartungen bei den Menschen ge- 
weckt, 

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie nicht!) 

nämlich die Erwartungen, dass das Zimmermädchen im 
Hotel, der Kellner im Restaurant, die Beschäftigten im 
Callcenter, die Eisverkäuferin im Freizeitpark, der Toi- 
lettenmann auf der Autobahnraststätte endlich einen all- 
gemeinverbindlichen Mindestlohn erwarten können. 

85 Prozent der Menschen haben sich nach einer aktuel- 
len Umfrage dafür ausgesprochen. 

Aber die herbstliche Vernebelung geht weiter. Aktu- 
elle Stichpunkte aus der Debatte sind: Die Tarifvertrags- 
parteien sollen sich am besten ohne Staat und ohne Wis- 
senschaft auf eine Lohnuntergrenze einigen - aber nur in 
Branchen, in denen es keine Tarifbindung gibt - und re- 
gionale Unterschiede zulassen. 

Auf gut Deutsch heißt das: Mit der CDU wird es kei- 
nen Mindestlohn geben. Mit der CDU wird das Gerangel 
um Branchenmindestlöhne weitergehen. Im Grunde ha- 
ben wir bereits Branchenmindestlöhne; das wurde schon 
mehrfach angesprochen. Gewerkschaften werden in die 
Situation gebracht, mit Arbeitgebern über Sachen zu 
verhandeln, die die Arbeitgeber eigentlich gar nicht wol- 
len, und zu Bedingungen, die die Arbeitgeber diktieren. 

Das, Kolleginnen und Kollegen, ist die Aufforderung 
zum kollektiven Betteln. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Unfug! - Peter 
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Eine Un- 
verschämtheit, Tarifverhandlungen so zu dis- 
kreditieren! Ich frage Sie, wes Geistes Kind 
Sie sind! Das ist unglaublich! - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Totalitäres Politikver- 
ständnis!) 

Branchentarifverträge funktionieren dort, wo Gewerk- 
schaften die Verhandlungsmacht haben dank kollektiver 
Mitgliedschaft sowie der Drohung, im Zweifel das Recht 
der kollektiven Arbeitsniederlegung, nämlich das Streik- 
recht nach Art. 9 des Grundgesetzes, wahrzunehmen. 

Das Streikrecht steht in Verbindung mit Tarifverträ- 
gen. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Zu sa- 
gen: „Die Gewerkschaften sollen jetzt endlich einmal 
verhandeln“, ist doch Blödsinn. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. 

Kolb [FDP]: Die Gewerkschaften entscheiden 
aber selbst, in welchem Umfang sie das einset- 
zen! Da können Sie nicht kommen und sagen: 

Macht mal!) 

Wenn Gewerkschaften nicht die Möglichkeit haben, zu 
Arbeitsniederlegungen aufzurufen, wird es keine Tarif- 
verträge geben, sondern dann bleibt es beim kollektiven 
Betteln. 

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Zu- 
ruf von der CDU/CSU: Sind Sie schon aus der 
Gewerkschaft ausgetreten?) 



16508 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Jutta Krellmann 

(A) Sie haben Erwartungen bei den Menschen geweckt. 
Ich möchte Sie auffordern: Erfüllen Sie die Erwartun- 
gen! 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Generalstreikgouver- 
nante!) 

Die Menschen erwarten einen Mindestlohn, der für alle 
gilt und der nach unserer Position 10 Euro betragen soll. 
Tun Sie etwas, bewegen Sie sich und machen Sie das 
Fenster wieder zu, das Sie selbst geöffnet haben! 

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hören 
Sie wenigstens auf Laumann!) 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. - Jetzt für die 
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. 
Bitte schön, Kollege Straubinger. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Max Straubinger (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Frau Kolle- 
gin Krellmann, Sie haben sich gerade darüber ausgelas- 
sen, dass die Frau Bundeskanzlerin und die Bundesregie- 
rung nichts für die Angleichung der Lebensverhältnisse 

(B) im Osten und Westen tun würden. 

(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ja, da stehe 
ich zu! - Zurufe von der LINKEN: Ja! Rich- 
tig!) 

Ich möchte zunächst feststellen: Sie von der linken 
Seite waren überhaupt einmal gegen die Wiedervereini- 
gung - vor allen Dingen Ihr Fraktionsvorsitzender, der 
gerade den Saal verlässt. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP - Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bayern- 
kurier! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die 
CSU war doch gegen das Grundgesetz!) 

Damit wären den Menschen gute Lebensverhältnisse 
vorenthalten worden. Das ist letztlich der Punkt hier. 

Darüber hinaus möchte ich auch daran erinnern, dass 
mittlerweile viele Löhne in Ost und West zu 1 00 Prozent 
angeglichen worden sind, zum Beispiel im Metallbe- 
reich. 

(Zurufe von der LINKEN) 

Das ist mit entscheidend dafür, dass sich die Lebensver- 
hältnisse der Menschen im Osten so großartig entwi- 
ckeln - dies nur mit der Garantie dieser Bundesregie- 
rung. Das wäre garantiert nicht der Fall, wenn Sie 
Verantwortung tragen würden. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 

Patrick Döring [FDP]) 


Werte Kolleginnen und Kollegen, der Titel der Aktu- (C) 
eilen Stunde lautet: Haltung der Regierungskoalitionen 
zur Einführung eines Mindestlohns. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viele haben 
Sie denn?) 

- Herr Kollege Heil, von den Linken wurde also offen- 
sichtlich die falsche Frage gestellt. Denn Sie haben be- 
mängelt, dass die Bundesregierung nicht darauf antwor- 
tet. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gehört die 
Bundesregierung nicht zur Koalition?) 

Wir antworten als Regierungsfraktionen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, die Koali- 
tion!) 

Der Kollege Kolb hat bereits daraufhingewiesen: 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Alles Nötige ge- 
sagt!) 

Wir stehen zur vollen Tarifautonomie und nicht zu einer 
bevormundenden Tarifautonomie durch staatlich festge- 
setzte Löhne. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Herr Laumann 
ist Sozialist, oder was?) 

Darüber hinaus steht eindeutig in unserem Koalitions- 
vertrag, dass wir gesetzliche Mindestlöhne ablehnen. 
Dabei wird es auch bleiben; 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 

der FDP) (D) 

denn es ist richtig, dass wir auf Branchenmindestlöhne 
setzen. Das hatte im Bereich Pflege großen Erfolg. 

Herr Kollege Heil, im Übrigen wurde der erste Bran- 
chenmindestlohn unter einer CDU/CSU-FDP-Bundesre- 
gierung mit tatkräftiger Unterstützung des Kollegen 
Kolb, der damals Parlamentarischer Staatssekretär war, 
eingeführt. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) 

So viel zur Geschichte. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Wir sind uns unserer sozialen Verantwortung den Men- 
schen gegenüber bewusst. Mittlerweile haben wir Bran- 
chenmindestlöhne in den Bereichen Pflege, Gebäuderei- 
nigerhandwerk, Wäschereien und Wach- und Sicherheits- 
dienst eingeführt. 

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Wie geht es jetzt weiter?) 

Wenn das Gutachten vorliegt, das die Bundesregie- 
rung eingeholt hat - möglicherweise haben Sie schon et- 
was gelesen; das weiß ich nicht -, 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Dann müssen Sie 
sich an die Regierung wenden!) 

wird möglicherweise deutlich, dass die Auswirkungen 
nicht feststellbar sind. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Max Straubinger 

( A) (Klaus Emst [DIE LINKE] : Dann erzählen Sie 

nicht so einen Unfug!) 

Es ist nicht klar, ob sie positiv oder negativ sind. Das ist 
deshalb so, weil wir die Einführung des Mindestlohnes 
auf einige Branchen beschränkt haben. 

Das Schlimmste, was im Bereich Arbeitsplätze pas- 
sieren konnte, ist unter Rot-Grün passiert. Damals gab es 
in Deutschland einen massiven Verlust an Arbeitsplät- 
zen. Seitdem die Union wieder regiert - mittlerweile mit 
der FDP gab es einen gewaltigen Zuwachs an sozial- 
versicherungspflichtiger Beschäftigung. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Seitdem wird es 
besser! Seitdem ist es richtig gut geworden! - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das müssen Sie 
jeden Tag erzählen!) 

Das ist darauf zurückzuführen, dass wir eine fundierte 
Wirtschaftspolitik in Gang gesetzt haben, durch die die 
Menschen ein gutes Einkommen erzielen können. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir reden doch 
über Löhne! - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 

Die Große Koalition haben Sie schon wieder 
vergessen?) 

Nun sind wir wieder beim Thema Mindestlohn. Da- 
mit wollen wir uns auch auseinandersetzen. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bravo!) 

Kollege Ernst hat zum einen das Thema Arbeitsplatzver- 
(ß) lust angesprochen. Zum anderen hat er daraufhingewie- 
sen, dass die Menschen auch von den Löhnen leben kön- 
nen müssen. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wäre nicht 
schlecht!) 

Nehmen wir das Beispiel Frankreich, das von Ihnen 
oft als Vörzeigeland bezeichnet wird. Dort beträgt der 
gesetzliche Mindestlohn 9,10 Euro. Frau Kollegin 
Nahles hat Großbritannien vorbildlich genannt. Ich 
möchte feststellen: In Frankreich sind das im Monat 
1 365 Euro brutto und in Großbritannien 1 086 Euro 
brutto. Wissen Sie, wie hoch der niedrigste Tariflohn im 
Hotel- und Gaststättengewerbe in Bayern - wohlge- 
merkt: der niedrigste! - ist? Er liegt bei 1 361 Euro und 
nach drei Monaten Einarbeitungszeit bei 1 464 Euro. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) 

Das sind letztlich die 8,50 Euro, die die SPD als Min- 
destlohn fordert. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Darum wollen wir 
10 Euro!) 

Dabei haben das die Tarifparteien bereits vereinbart. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Gibt es in Bayern nur Gaststätten, 
oder was?) 

Deshalb bedarf es auch in dieser Hinsicht dieser Unter- 
stützung nicht. 


Man sollte sich das Beispiel Frankreich genauer an- 
schauen. In Frankreich werden die Unternehmen, die 
den Mindestlohn zu bezahlen haben, von der französi- 
schen Regierung tatkräftig unterstützt, indem die Sozial- 
versicherungsbeiträge, die die Unternehmen zu leisten 
haben, subventioniert werden. Diese Subvention betrug 
im Jahr 2002 19,2 Milliarden Euro. Im Jahr 2010 ist sie 
mittlerweile auf 30 Milliarden Euro angestiegen. 30 Mil- 
liarden Euro für Lohnsubventionen, um den Mindest- 
lohn zu garantieren! Ich bin überzeugt, dass es zu vielen 
Fehlleitungen kommt und dass es in den Betrieben Mit- 
nahmeeffekte gibt. Deshalb ist die Gestaltung unserer 
Sozialpolitik besser: Derjenige, der von seinem erwirt- 
schafteten Lohn nicht leben kann, kann aufstocken und 
ein menschenwürdiges Leben führen. 

In diesem Sinne: Wir liegen mit unserer Einteilung 
richtig. Wir brauchen dort Branchenmindestlöhne, wo 
sie sinnvoll sind, wo die Tarifparteien das selbst verein- 
bart haben. Wenn es zum Leben nicht reicht, gibt es da- 
rüber hinaus staatliche Unterstützung. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Das ist ein guter Schlusssatz, Herr Kollege. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist die Frage! 

Wollen Sie bei 4 Euro bleiben, oder nicht?) 

- Diese Frage kann in der Aktuellen Stunde nicht mehr 
beantwortet werden. Der Kollege hat keine Redezeit 
mehr. 

Max Straubinger (CDU/CSU): 

Schade, dass ich die Frage nicht beantworten kann. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Straubinger. - Nächste Redne- 
rin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der 
Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Anette Kramme. 
Bitte schön, Frau Kollegin. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Anette Kramme (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Wenn die Regierung ein Thema für wichtig 
hält, dann redet normalerweise die Spitze der Partei. 
Dann redet die Bundeskanzlerin, alternativ der zustän- 
dige Fachminister oder die zuständige Fachministerin. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist aber Le- 
gendenbildung, was Sie da betreiben! Ich 
würde noch einmal neu anfangen! Das wird 
nichts!) 

Hier und heute hat man den Eindruck, dass ein Sprech- 
verbot für die obersten Chargen dieser Regierung exis- 
tiert. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Manfred 
Grund [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr Fraktions- 
vorsitzender?) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Anette Kramme 

(A) Das ist nachvollziehbar. Wir würden aber gerne wissen, 
ob Ursula von der Leyen noch an der Seite von Herrn 
Laumann steht oder mittlerweile bei Frau Merkel ange- 
langt ist. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Lassen 
Sie uns doch erst einmal entscheiden! Dann re- 
den wir in zwei Wochen noch einmal darüber!) 

Herr Straubinger, Sie sagen, dass Sie sich um die 
Menschen in diesem Land kümmern. Es gibt aber sehr 
viele Zahlen zum Niedriglohnsektor, die mehr als er- 
schreckend sind. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das haben die 
Gewerkschaften vereinbart!) 

Angesichts der Zahlen müssten die Ministerpräsidenten 
aller fünf neuen Bundesländer schreiend durch die Ge- 
gend laufen. Das Einkommen von mehr als 40 Prozent 
der Menschen in Ostdeutschland liegt unterhalb einer 
einheitlichen Niedriglohngrenze in Deutschland. Sie 
verdienen also weniger als 1 800 Euro brutto. Wir kön- 
nen auch Zahlen des 1AQ nehmen: Das IAQ hat errech- 
net, dass 23 Prozent aller Haupt- und Nebenbeschäftig- 
ten von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro 
profitieren würden. Wie erschreckend! 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie halten Sie es 
mit der Tarifautonomie? Akzeptieren Sie die 
geschlossenen Tarifverträge, oder nicht?) 

Wir können das auch noch an anderen Zahlen festma- 
chen. Prognos hat eine Studie vorgelegt. Prognos hat uns 

(B) auch einiges über die Wirkungen eines Mindestlohns ge- 
sagt. Dabei geht es um die Würde der Arbeit. Prognos 
hat aber auch belegt, wie volkswirtschaftlich sinnvoll die 
Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro ist. Pro- 
gnos hat belegt: 14 Milliarden Euro würden die Haus- 
halte in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich ver- 
dienen. Es wurde belegt, dass wir zusätzliche Einkom- 
mensteuereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro 
hätten. Es wurde belegt, dass die Sozialversicherungen 
zusätzlich 2,7 Milliarden Euro einnehmen würden. Da- 
rüber hinaus ist herausgekommen, dass wir mit 80 000 
zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik rech- 
nen könnten. 

(Lachen des Abg. Patrick Döring [FDP]) 

Frau von der Leyen, wie das Baby heißt, ob „Lohnun- 
tergrenze“ oder „Mindestlohn“, ist uns an sich egal. Das 
Paket, dass Sie an dieser Stelle schnüren wollen, ist aber 
ein Nichts, ein Nullum. Das wird den Menschen in der 
Bundesrepublik Deutschland nicht helfen. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU] : Ein Nichts 
kann nicht geschnürt werden!) 

Ein Grund dafür ist, dass Sie wollen, dass die Min- 
destlöhne nur dann greifen, wenn es an der Tarifbindung 
fehlt. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Das ist der 
Respekt vor der Tarifautonomie! Das ist auch 
geboten! - Gegenruf des Abg. Hubertus Heil 
[Peine] [SPD]: Ein Placebo! - Klaus Ernst 


[DIE LINKE]: Respekt vor den Menschen: 

4 Euro!) 

- Das ist nicht Respekt vor der Tarifautonomie, sondern 
im Prinzip eine Missachtung der Tarifautonomie. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Sie kön- 
nen doch nicht urteilen über die Tarifverträge, 
die die Gewerkschaften geschlossen haben!) 

- Herr Kolb, ich würde Ihnen das gerne erläutern. Es ist 
so, dass wir mehrere Hundert Tarifverträge in der Bun- 
desrepublik Deutschland haben, die Löhne unterhalb 
von 8,50 Euro vorsehen. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, und?) 

Wenn Sie jetzt sagen, dass die Lohnuntergrenze nur dann 
greifen soll, wenn eine Tarifbindung nicht vorliegt, 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie können nicht 
darüber richten!) 

dann bedeutet das, dass Gewerkschaften, wenn sie ihren 
Leuten etwas Gutes tun wollen, wenn sie den Arbeitneh- 
merinnen und Arbeitnehmern in diesem Land etwas Gu- 
tes tun wollen, künftig auf den Abschluss von Tarifver- 
trägen verzichten müssen. Das ist ein Eingriff in die 
Tarifautonomie und nicht das Gegenteil davon! 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der 
LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das 
ist ja eine seltsame Argumentation! Frau 
Kramme, das können Sie besser!) 

Sie sagen überdies, das Ganze solle branchenabhän- 
gig laufen und nach Regionen differenziert. Wissen Sie, 
was das bedeutet? Das bedeutet, dass ganz viele Men- 
schen in Deutschland mangels Informationen auf ihre 
Rechte verzichten werden. Da ein solches Verfahren 
Jahre dauern wird, wird auch sichergestellt, dass Min- 
destlöhne nicht kommen. 

Ein weiterer Punkt: Die Kanzlerin oder ihre Regie- 
rung hat zunächst erklärt, dass man auf einen Maßstab 
für eine Lohnuntergrenze nicht verzichten wolle. Die 
Leiharbeit solle der Maßstab sein. Dann gab es einen To- 
talrückzieher. 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Ansatz war 
von vornherein untauglich!) 

Herr Heinrich, Sie haben davon gesprochen, dass es 
künftig einen Überbietungswettbewerb in der Politik ge- 
ben würde. Was Sie mit diesem Verzicht einleiten wür- 
den, ist ein Unterbietungswettbewerb. 

(Frank Heinrich [CDU/CSU]: Nein!) 

Wir haben bis heute nicht von Ihnen gehört, wie hoch 
der Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland sein 
soll. Sollen es 4 Euro sein, sollen es 5 Euro sein, sollen 
es 5,50 Euro sein, oder sollen es 6 Euro sein? 

(Frank Heinrich [CDU/CSU]: Ich habe von 
der Anlehnung gesprochen! - Dr. Heinrich L. 

Kolb [FDP]: Auf der nach oben offenen 
Kramme-Skala ist noch ein bisschen Platz!) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16511 


Anette Kramme 

(A) Dies ist offensichtlich ein Zugeständnis an den Wirt- 
schaftsflügel Ihrer Partei. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der 
LINKEN) 

Zum Abschluss Folgendes: Arbeit muss Würde ha- 
ben, und würdige Arbeit ist existenziell für das Leben im 
Alter, für eine Rente, von der man leben kann. Sie leiten 
hier momentan einen Prozess ein, der zu Altersarmut im 
großen Maßstab führen wird. Deshalb kann man Ihnen 
nur sagen: Besinnen Sie sich und kommen Sie endlich 
zur Vernunft! 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN - Zuruf von der LINKEN: Dafür 
brauchen wir 10 Euro! - Gegenruf des Abg. 
Manfred Grund [CDU/CSU]: 20 Euro! 30 Euro! 

40 Euro! - Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. 

Kolb [FDP]) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Anette Kramme. - Jetzt 
für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Peter 
Weiß. Bitte schön, Kollege Peter Weiß. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil 
[Peine] [SPD]: Wir freuen uns schon auf den 
Eiertanz!) 

( B ) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 
Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde bleibt mir nur 
noch eine Feststellung: Bei der Opposition geht die 
blanke Angst um. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP - Lachen bei Abgeordneten der SPD 
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Es ist die blanke Angst davor, dass das Thema Mindest- 
lohn als Verunglimpfungsthema gegen die Regierungs- 
koalition und die sie tragenden Parteien abhandenkom- 
men könnte. Das wurde hier heute vorgeführt. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Lachen bei der SPD und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hubertus Heil 
[Peine] [SPD]: Klauen Sie es uns bitte! Pla- 
giat! Bitte Plagiat! - Klaus Emst [DIE 
LINKE]: Jetzt haben Sie mich aus der Debatte 
befreit!) 

Die Behauptung, CDU, CSU und FDP seien strikt ge- 
gen Mindestlöhne, ist schon deswegen falsch, 

(Zuruf des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]) 

weil - es ist schon erwähnt worden - der erste branchen- 
bezogene Mindestlohn in Deutschland unter einer Regie- 
rung von CDU/CSU und FDP, unter Helmut Kohl und 
Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vereinbart worden 
ist. 


(Dr. RalfBrauksiepe, Pari. Staatssekretär: Und 
Heinrich Kolb!) 

Unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler ist in 
Deutschland kein einziger Mindestlohn vereinbart wor- 
den. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil 
[Peine] [SPD]: Schon einmal etwas von Olaf 
Scholz und Franz Müntefering gehört?) 

Aber heute, mit einer christdemokratischen Bundes- 
kanzlerin und selbst in einer Koalition mit der FDP 
- dies hätten viele nicht vermutet -, gibt es in zehn Bran- 
chen in Deutschland Mindestlöhne, die die Tarifpartner 
vereinbart haben und die die Frau Bundesarbeitsministe- 
rin per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich er- 
klärt hat, das heißt, sie gelten für alle Arbeitnehmerinnen 
und Arbeitnehmer in dieser Branche, ob sie organisiert 
sind oder nicht. Das ist ein großer Erfolg. Mindestlöhne 
sind das Markenzeichen der CDU. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der 
SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN 
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das mussten wir 
Ihnen abtrotzen in den Verhandlungen, Herr 
Weiß! Sie machen hier eine schöne Show! - 
Weitere Zurufe) 

Erst gestern hat der Gemeinsame Tarifausschuss - er 
besteht aus drei Vertretern der Arbeitgeber und drei Ver- 
tretern der Gewerkschaften - getagt und zum Beispiel 
den Mindestlohn für die Dachdecker verlängert. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, und? - Gegenruf 
von der CDU/CSU: Was heißt „und“?) 

Morgen erscheint der Bundesanzeiger neu. 

(Klaus Emst [DIE LINKE]: „Allgemeine Lohn- 
untergrenze“ ist das Thema! Thema verfehlt, 

Herr Weiß!) 

Darin werden Sie schwarz auf weiß die Bekanntgabe des 
neuen Mindestlohns in der Zeitarbeit lesen können, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, haben wir 
durchgesetzt! - Klaus Ernst [DIE LINKE]: 

Wir reden über etwas anderes!) 

den die Bundesministerin ebenfalls für allgemein ver- 
bindlich erklären wird. Dann bekommen Zeitarbeiter 
nicht mehr nur 5 Euro pro Stunde, dann müssen im Wes- 
ten mindestens 7,89 Euro und im Osten 7,01 Euro ge- 
zahlt werden, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Weiter!) 

und zwar nicht, weil die Politik es so beschlossen hat, 
sondern weil Gewerkschaften und Arbeitgeber diesen 
Mindestlohn vereinbart haben. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 

Herr Weiß, was haben Sie eigentlich gegen 
den Laumann? - Klaus Ernst [DIE LINKE]: 

Herr Laumann wird jetzt ausgeschlossen! - 



16512 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Peter Weiß (Emmendingen) 

(A) Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb 
[FDP]) 

Nun gibt es trotz dieses erfolgreichen Wegs Bran- 
chen, in denen voraussichtlich keine branchenbezogenen 
Mindestlöhne vereinbart werden. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Hört! Hört!) 

Das ist Anlass dafür, dass sieben Landesverbände, meh- 
rere Vereinigungen der Partei und 21 Kreisverbände für 
den CDU-Bundesparteitag, der am Montag und Dienstag 
der kommenden Woche in Leipzig stattfinden wird, An- 
träge gestellt haben, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gegen Frau 
Merkel! - Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder 
[CDU/CSU]: Nicht gegen! Für!) 

in denen sie Vorschlägen, dass wir eine allgemeine un- 
tere Lohngrenze für all die Bereiche festlegen, in denen 
branchenbezogen nichts geregelt ist, dass diese Lohn- 
grenze von den Tarifparteien, den Gewerkschaften und 
Arbeitgeberverbänden, ausgehandelt wird und anschlie- 
ßend durch die Bundesregierung für allgemeinverbind- 
lich erklärt werden soll, sprich: für alle gelten soll, egal 
ob ln- oder Ausländer, ob in der einen oder der anderen 
Branche beschäftigt. All die Zeitungsmeldungen, die 
hier vorgetragen worden sind, geben das, was in den An- 
trägen steht, nicht wieder. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!) 

(B) 

Die Mühe, daraufhinzuweisen, hat sich niemand von der 
Opposition gemacht. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Böse Presse! 

Die fiesen Journalisten in Deutschland! Die 
haben Sie wohl nur nicht verstanden!) 

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich können 
Sie heute eine Aktuelle Stunde beantragen. Aber: Die 
CDU ist wie die CSU und die FDP 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wirr!) 

- ich hoffe, wie auch die anderen - eine demokratische 
Partei. 

(Klaus Ernst [DIE LINKE] : Vor allem durch- 
einander seid ihr!) 

Bei uns entscheidet nicht die Parteivorsitzende, nicht ein 
einzelner Landesverband, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei euch ent- 
scheidet niemand!) 

auch nicht die Fraktion oder ein Abgeordneter. Bei uns 
entscheidet der Bundesparteitag in der nächsten Woche, 
wie das Konzept der Union aussieht. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Hubertus Heil 
[Peine] [SPD]: Herr Weiß, machen Sie dann 
auch einen Gesetzentwurf, oder nicht?) 


Mit Interesse verfolgen wir, dass auch einige Kolle- (C) 
ginnen und Kollegen der FDP darüber nachdenken, ob 
eine allgemeine Lohnuntergrenze nicht eine sinnvolle 
Sache sein kann. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha! Klaus 
Ernst [DIE LINKE]: Naja! Mal sehen, was da- 
bei herauskommt!) 

Der große Unterschied ist: 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das noch 
eine Koalition oder was?) 

Wir sind der Auffassung: Deutschland hat seinen Erfolg 
der Tarifautonomie zu verdanken. Die Tatsache, dass die 
Tarifpartner anständige Löhne ausgehandelt haben, 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es! - 
Klaus Ernst [DIE LINKE]: „Anständig“? 

4 Euro sind doch nicht anständig!) 

hat zum Wohlstand der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- 
nehmer in Deutschland beigetragen. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Den Weg, über Tarifverträge und anschließend durch 
staatliche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu gu- 
ten Löhnen in Deutschland zu kommen, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was für eine 
Lautstärke!) 

wollen wir weitergehen und weisen den Vorschlag, dies ^ 
durch staatliche Gesetzgebung zu ersetzen, entschieden 
zurück. 

(Anette Kramme [SPD]: Kann man ihn leiser 
drehen?) 

Wir wollen den Vorrang der Tarifautonomie für gute 
Löhne in Deutschland. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ganz schön laut 
gebrüllt!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Kollege Peter Weiß war der letzte Redner in unserer 
Aktuellen Stunde, die damit beendet ist. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- 
ordnungspunkt 5 auf: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- 
entwicklung (15. Ausschuss) 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Veronika 
Bellmann, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold 
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Vizepräsident Eduard Oswald 

(A) Luksic, Patrick Döring, Werner Simmling, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 

Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer 
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Groß, 
Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abge- 
ordneter und der Fraktion der SPD 

EU-Weißbuch Verkehr - Neuausrichtung der 
integrierten Verkehrspolitik in Deutschland 
und in der Europäischen Union nutzen 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton 
Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Weißbuch Verkehr für Trendwende der Ver- 
kehrspolitik in Deutschland und Europa nut- 
zen 

-Drucksachen 17/7464, 17/7177, 17/5906, 17/7679 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Veronika Bellmann 

Michael Groß 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind damit 
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste 
unsere Kollegin Veronika Bellmann für die Fraktion der 

(B) CDU/CSU. Bitte schön, Frau Kollegin Veronika 
Bellmann. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Veronika Bellmann (CDU/CSU): 

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten 
Damen und Herren! Seit den Römischen Verträgen 1958 
ist die Verkehrspolitik klassisches Handlungsfeld euro- 
päischer Politik. Seit 2001 wird die Konkretisierung der 
europäischen Verkehrspolitik in Weißbüchern vorge- 
nommen. 2001 gab es das erste, 2006 das zweite, und 
nunmehr, seit dem 28. März dieses Jahres, gibt es das 
dritte. Es trägt den Titel „Fahrplan zu einem einheit- 
lichen europäischen Verkehrsraum - Hin zu einem wett- 
bewerbsorientierten und ressourcenschonenden Ver- 
kehrssystem“. 

Mit der Vorlage dieses Weißbuches formuliert die Eu- 
ropäische Kommission die Neuausrichtung der europa- 
weiten Verkehrspolitik bis zum Jahr 2020. Darüber hi- 
naus entwirft sie zugleich eine Vision bis 2050. Damit 
die Ziele der Nachhaltigkeit - das dritte Weißbuch ver- 
schreibt sich vor allen Dingen dem Ziel der Nachhaltig- 
keit -, der Sicherheit, der Weiterentwicklung des Ver- 
kehrsbinnenmarktes und des Abbaus der Abhängigkeit 
vom Rohstoff Öl erreicht werden, hat die Europäische 
Kommission dem Papier 40 Maßnahmen in einem Paket 
bzw. einer Anlage angehängt. Sie sind ohne Zweifel sehr 
ambitioniert, manchmal auch sehr visionär, aber durch- 
aus umsetzbar. 


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir (C) 
begrüßen die Vorlage des Weißbuches. Das Weißbuch ist 
notwendig. Europa braucht eine einheitliche und umfas- 
sende Strategie zur Sicherung einer nachhaltigen Mobili- 
tät. Denn Mobilität stellt einerseits für uns persönlich ein 
großes Stück Freiheit und Lebensqualität dar. Anderer- 
seits ist die Mobilitäts- und Verkehrsbranche auch eine 
innovative und leistungsstarke Branche, die einen hohen 
Anteil am wirtschaftlichen Wachstum und an der Schaf- 
fung von Arbeitsplätzen hat. 

Gleichzeitig werden im Verkehrssektor aber eben 
25 Prozent der Treibhausgasemissionen produziert. Aus 
diesem Grunde bestehen auch hier die Notwendigkeit 
und zugleich die Verantwortung, Ökologie und Ökono- 
mie mit Augenmaß zu verknüpfen. Das heißt insbeson- 
dere, dass die Mobilität der Zukunft umweit- und klima- 
gerecht ausgestaltet sein, den Mobilitätsbedürfnissen der 
Bürger entsprechen, aber bezahlbar sein muss und auch 
den wirtschaftlichen Wachstums- und Entwicklungszie- 
len Europas gerecht werden muss. 

Genau diesen Gleichklang sehe ich im vorgelegten 
Weißbuch nicht an jeder Stelle. Zwar enthält das Weiß- 
buch Initiativen, die durchaus positiv zu bewerten sind, 
so zum Beispiel der einheitliche Verkehrsbinnenmarkt, 
die transeuropäischen Verkehrsnetze, die Einführung al- 
ternativer Kraftstoffe und Verkehrsmanagementsys- 
teme, der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur oder die 
Einführung von alternativen Finanzierungsmodellen. 
Hinsichtlich der weiteren von mir bereits genannten He- 
rausforderungen gibt es aber kaum bzw. nur ziemlich 
vage Ansagen. Oder man muss schon sehr in die Ver- 0-*) 
zweigungen einsteigen, wie in die kürzlich von der EU- 
Kommission vorgelegten Verordnungsentwürfe zu den 
transeuropäischen Netzen und den damit in Verbindung 
stehenden neuen Finanzierungsmodellen, Connecting 
Europe Facility genannt. 

Selbst wenn wir auch da grundsätzlich Zustimmung 
signalisieren können, so verkennen wir doch nicht, dass 
nicht nur finanztechnisch „gehebelt“ werden soll - das 
ist ja in den jüngsten Tagen ein Modewort geworden -, 
sondern auch hinsichtlich der Kompetenzen der Europäi- 
schen Union und der Personalausstattung. So soll zum 
Beispiel mit den transeuropäischen Netzen wieder eine 
Korridorbildung einhergehen. Für die Korridore soll es 
Koordinatoren geben. Früher gab es dafür Exekutiv- 
agenturen, Sekretariate oder Beobachtungsstellen. Weil 
das alles politisch nicht mehr ganz korrekt ist, nennen 
sich die Agenturen heute Komitees. Hier müssen wir 
also schon ganz genau hinschauen, ob das hinsichtlich 
der Subsidiarität nicht ausufert. 

Subsidiarität im Zusammenhang mit dem Weißbuch 
mahne ich auch an, bezogen auf die Infrastrukturpla- 
nungshoheit, die nationalen Anteile der Finanzierung 
von Verkehrsinfrastrukturen, die Komodalität oder auch 
die Organisation städtischer Verkehre. So greift die Eu- 
ropäische Kommission mit ihrer Kraftstoffstrategie für 
Städte in die Souveränität der Kommunen ein, da ohne 
Kenntnis der lokalen Rahmenbedingungen pauschale 
Vorgaben für Bürger, kommunale Dienste, Wirtschafts- 



16514 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Veronika Bellmann 

(A) verkehre und den ÖPNV gemacht werden. Hier muss in 
jedem Falle nachjustiert werden. 

(Beifall des Abg. Oliver Luksic [FDP]) 

Aus diesem Grund haben wir als Koalitionsfraktionen 
unseren Antrag mit dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf 
dem Weg zu einer nachhaltigen und bezahlbaren Mobili- 
tät“ eingebracht. Mit ihm geben wir unserer Bundesre- 
gierung einige Forderungen mit auf den Weg, um auf eu- 
ropäischer Ebene entsprechend zu verhandeln, damit wir 
im Mobilitäts- und Verkehrssektor der Zukunft Ökologie 
und Ökonomie ordentlich miteinander verzahnen. 


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegen 
noch zwei andere Anträge bezogen auf das Weißbuch 
Verkehr vor, nämlich einer der Grünen und einer der 
SPD. Ich habe gestern in den Ausschussberatungen ein- 
mal den Versuch gemacht, die Gemeinsamkeiten in den 
Anträgen hervorzuheben. Ich glaube, das ist mir an vie- 
len Stellen gelungen. Man kann sie zumindest den 
schriftlichen Anträgen deutlich entnehmen. In der Dis- 
kussion wurde es dann aber doch - insbesondere seitens 
der Grünen - etwas ideologisch, als es um die Verlage- 
rung des Luft- und Straßenverkehrs auf die Schiene und 
auf Wasserstraßen ging. 


(B) 


Wir sind auch für Verkehrsverlagerungen, aber immer 
nur dort, wo es sinnvoll ist, also nicht auf Gedeih und 
Verderb. Wir sehen die im Weißbuch dargelegten Ziele 
sehr kritisch: Bis 2050 sollen der Straßengüterverkehr 
und auch große Teile des Personenverkehrs ab 300 Kilo- 
meter Streckenlänge auf die Schiene verlagert werden. 
Gleiches gilt für den Luftverkehr unter einer Strecken- 
länge von 1 000 Kilometern. Das muss man sich einmal 
vorstellen: Das sind alle innerdeutschen Verbindungen. 
Auch das Ziel, bis 2020 einen annähernd CCL-freien 
Stadtverkehr zu erreichen, muss man sehr kritisch be- 
trachten; denn die Reduktion der Anzahl konventioneller 
Fahrzeuge um 50 Prozent bis 2030 und um 100 Prozent 
bis 2050 ist nicht nur ambitioniert, sondern dahinter 
steckt auch ein hoher Kostenfaktor. 


Darum sagen wir: Pauschale dirigistische Vorgaben 
sind nicht zielführend, vor allen Dingen dann nicht, 
wenn sie in Bezug auf Mengen, Zieldaten und Entfer- 
nungen gemacht werden. Solche Vorgaben müssen tech- 
nologieneutral und verkehrsträgerneutral sein; denn an- 
sonsten verhindern sie Innovationen für effizientere 
Antriebe, neue Kraftstoffe, intelligente Verkehrsleitsys- 
teme und auch Elektromobilität. Dafür bieten Sie nichts 
weiter als massive Staatseingriffe und Verteuerung für 
Staat und Bürger. 

Ich komme jetzt auf den Antrag der SPD zu sprechen. 
Dort finden sich einige Gemeinsamkeiten mit unseren 
Positionen. Das liegt aber auch daran, dass die 
47 Punkte, die Sie in Ihrem Forderungskatalog darlegen, 
überwiegend Allgemeinplätze beinhalten. Sie fordern 
die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die Wert- 
schöpfung und die Arbeitsplätze auch bei einem umfas- 
senden Strukturwandel in Deutschland und Europa blei- 
ben sollen. Das versteht sich für meine Begriffe von 
selbst. 


Dort, wo Sie konkreter werden, zum Beispiel bei der (C) 
Forderung, die Einnahmen aus Investitionen in Ver- 
kehrsinfrastruktur europaweit an den Einsatz in Ver- 
kehrsinfrastruktur zu binden, verstoßen Sie gegen das 
Subsidiaritätsprinzip. Auch wir sind für diese Zweckbin- 
dung. Wir haben in diesem Jahr damit angefangen, die 
Mauteinnahmen komplett für Maßnahmen im Zusam- 
menhang mit der Straßenverkehrsinfrastruktur einzuset- 
zen. Aber wir wollen diese Zweckbindung nicht auf eu- 
ropäischer, sondern auf nationaler Ebene. 

Ich komme noch zu einem letzten Punkt, bei dem ich 
durchaus Gemeinsamkeiten sehe. Unser Antrag enthält 
den Passus, in dem wir uns unter anderem für die Be- 
rücksichtigung nationaler Arbeitsschutz- und Sozialstan- 
dards bei allen zur Liberalisierung anstehenden Berei- 
chen aussprechen. Sie als SPD formulieren das in Form 
von „Sozialdialogen“ und fordern einen Ausgleich im 
Zusammenhang mit ökologischen, ökonomischen und 
sozialen Standards. Schaut man sich das Weißbuch ein- 
mal genauer an, so stellt man fest, dass dort eine Überar- 
beitung der Bodenabfertigungsrichtlinie gefordert wird. 
Dabei ist zu erwarten, dass mit Dumpinglöhnen gearbei- 
tet wird, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das akzep- 
tieren wir nicht. 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wollen 
Sie doch!) 

-Nein. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Frau Kollegin Bellmann, Sie wissen schon, was die 
Lichter vor Ihnen auf dem Pult bedeuten? 

(Heiterkeit) 

Veronika Bellmann (CDU/CSU): 

Jawohl, das weiß ich. 

Der ökologische, ökonomische und - das ist der letzte 
Punkt, den ich genannt habe - soziale Ausgleich ist im 
Antrag der Koalitionsfraktionen enthalten. Daher ist die- 
ser Antrag der weitgehendste von allen drei vorliegen- 
den Anträgen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Unterstüt- 
zung für diesen Antrag hinsichtlich des Weißbuches 
Verkehr der Europäischen Union. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. - Jetzt für die 
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Martin 
Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert. 

(Beifall bei der SPD) 

Martin Burkert (SPD): 

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- 
gen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen! 
Täglich sind Menschen in Deutschland unterwegs: be- 
ruflich, privat, in der Stadt, auf dem Land, regional und 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16515 


Martin Burkert 

(A) über Landesgrenzen hinaus, gemäß dem Motto: heute 
hier, morgen dort, zu Land, zu Wasser und in der Luft. 

Eine gut ausgebaute Infrastruktur betrifft jeden Ein- 
zelnen. Sie ist aber auch wesentlicher Bestandteil unse- 
rer Wirtschaft. Doch weder der Individual- noch der 
Handelsverkehr enden an den nationalen Grenzen. Des- 
halb ist es richtig, dass das Weißbuch Verkehr, über das 
wir heute sprechen, den Verkehr in Europa als Ganzes 
betrachtet, dass es uns einen Fahrplan, eine Richtschnur, 
gibt, wie der europäische Verkehrsraum in rund 40 Jah- 
ren aussehen soll. 

Die bis 2050 gesteckten Ziele für mehr Umwelt- und 
mehr Klimaschutz im Verkehr sind dringend notwendig 
und werden von uns begrüßt. Wie in allen anderen Berei- 
chen muss auch der Verkehr seinen Beitrag leisten, um 
energieeffizienter zu werden, damit Europa möglichst 
unabhängig vom Öl wird. Das begrüßt die SPD-Bundes- 
tagsfraktion selbstredend. 

Wir brauchen aber kein Weißbuch, mit dem wir nur 
von einem zukunftsfähigen Verkehr im Jahr 2050 träu- 
men. Wir brauchen ein Schwarz-auf-weiß-Buch, in dem 
wir festlegen, was wir ganz konkret machen, um den 
Fahrplan im Weißbuch einzuhalten. Dafür brauchte es in 
Deutschland aber eine wirkliche Takterhöhung. Wir 
brauchten eine grundlegende Fahrplananpassung. Hier 
haben die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Ko- 
alitionsfraktionen die Weichen in der Verkehrspolitik 
falsch gestellt. 

(Beifall bei der SPD) 

(B) 

Die europäische Leitlinie ist laut Weißbuch völlig 
klar: Mehr Verkehr auf die Schiene und mehr Verkehr 
auf die Wasserstraße! Wie soll es aber zu einem starken 
europäischen Eisenbahnverkehrsmarkt kommen, wenn 
die Bundesregierung nach wie vor ausschließlich auf As- 
phalt setzt? 

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: A 100! - Zuruf von der FDP: Steht das 
denn im Weißbuch drin?) 

Wie soll man die Wasserstraße sinnvoll nutzen, wenn 
diese jetzt auch noch bemautet werden soll? Herr Minis- 
ter, heute wäre ein guter Zeitpunkt, um deutlich zu ma- 
chen, ob die Kanäle zukünftig bemautet oder besteuert 
werden sollen. 

Mehr Verkehr auf der Schiene erreicht man auch nicht 
einfach durch die Trennung von Netz und Betrieb bei der 
Bahn, indem also die Infrastruktur, das Streckennetz, in 
Staatshand verbleibt, die Beforderungs- und Trans- 
portsparte aber privatisiert wird. Das kann sicherlich 
nicht die ultimative Lösung sein. 

(Patrick Döring [F DP] : Das fordert niemand in 
Deutschland!) 

Andere Länder haben vorgemacht, wohin das führt. 

Aber Privatisierung und Liberalisierung sollen das 
Allheilmittel sein: die gute Fee, durch die jeder Wunsch 
erfüllt und alles gut wird. 


(Zuruf von der FDP: War das jetzt die Rede 
vom Gewerkschaftstag?) 

Fragen Sie doch einmal die Bürgerinnen und Bürger, ob 
sie an die gute Fee aus dem Märchen glauben. 

Die Struktur der Bahn sollte nicht ständig infrage ge- 
stellt werden. Ich bin der Meinung, nein. Ich zitiere mit 
Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, unseren Bundesminister 
Ramsauer, der am 6. Oktober 2011 zur Entscheidung 
über die Neufassung des dritten Eisenbahnpaketes der 
EU verlauten ließ, es sei falsch - Zitat - „aus ideologi- 
schen Gründen ein erfolgreiches Modell aufzugeben und 
damit einem Mitgliedstaat unwägbare Risiken zuzumu- 
ten“. Dies könne auch „nicht im europäischen Interesse 
liegen“. 

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Die Große Koalition beginnt 
schon!) 

Herr Minister Ramsauer, wir nehmen Sie hier beim 
Wort. Ob das Ihre Koalitionsfraktionen machen, lassen 
wir offen. 

Die Frage ist nämlich, welche Konsequenzen sich aus 
einer Trennung der Struktur der Deutschen Bahn AG er- 
geben würden. 

(Patrick Döring [FDP]: Das ist alles nicht 
Thema des Weißbuchs!) 

Für die DB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter würde es 
jedenfalls bedeuten, dass der konzerniibergreifende, in- 
tegrierte Arbeitsmarkt und damit auch die dort festgeleg- 
ten sozialen Standards, die Mitbestimmungsrechte, die 
Arbeitsbedingungen usw., passe wären. 

(Patrick Döring [FDP]: Quatsch! Das steht al- 
les nicht im Weißbuch! Thema verfehlt!) 

Alleine bei DB Dienstleistungen arbeiten zurzeit über 
26 000 Menschen. Der Bereich trägt 4 Milliarden Euro 
zum Gesamtumsatz der DB AG bei. 4 000 Kolleginnen 
und Kollegen sind aus dem Bereich JobService, dem 
bahneigenen Arbeitsamt, gekommen. Sie mussten sich 
nicht bei der Agentur für Arbeit arbeitslos melden. Ihre 
Koalition, Herr Minister, stellt das allerdings immer wie- 
der infrage. 

Herr Ramsauer, die grenzüberschreitende Beschäfti- 
gung im Verkehrssektor ist so auszugestalten, dass So- 
zialdumping ausgeschlossen ist. Das ist eine der Kern- 
aussagen im Weißbuch. Wenn es um die Tariftreue bei 
öffentlichen Ausschreibungen geht, lässt sich bei einem 
Blick auf unser Bundesland Bayern leider nur Negatives 
berichten: Es gibt kein Tariftreuegesetz. Ein Schienen- 
branchentarifvertrag für den Schienenpersonennahver- 
kehr wird nicht vorgeschrieben. 

Ein Lokführer verdient nach Abschluss des Tarifver- 
trags der sieben großen Eisenbahnen 2 200 Euro, eine 
Reinigungskraft 1 700 Euro, bei 26 Tagen Urlaubsan- 
spruch und 4 Euro Sonntagszulage. Aber nicht einmal 
diese Mindestanforderungen will man in Bayern für 
Ausschreibungen im Schienenpersonennahverkehr zum 
Standard machen. Das ist ein Skandal. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Martin Burkert 

(A) (Beifall bei der SPD und der LINKEN - 
Patrick Döring [FDP]: Das entscheidet das 
Land ganz frei!) 

- Sie haben völlig recht, Herr Döring: Das entscheidet 
das Land. Das ist in Nordrhein- Westfalen und in Rhein- 
land-Pfalz wesentlich besser geregelt. 

(Patrick Döring [FDP]: Deshalb gibt es da 
auch keinen Wettbewerb!) 

Ich bin froh, dass ab 2013 nicht nur in der Bundesregie- 
rung wieder ein SPD-geführter Wind weht, sondern dass 
wir uns auch in der bayerischen Landesregierung ab 
2013 darum kümmern können. 

Ich sage ganz eindeutig: Einen Wettbewerb auf dem 
Rücken der Beschäftigten darf es nicht geben. Sie dürfen 
nicht die Leidtragenden einer weiteren Europäisierung 
sein. Nein, ihnen muss gezeigt werden, dass dieses Eu- 
ropa eine Chance für uns ist. Das bringt dieses Weißbuch 
zum Ausdruck. 

Herr Ramsauer, ich fordere Sie im Namen der Frak- 
tion auf: Führen Sie die europäischen Sozialstandards 
nicht nur ein, sondern setzen Sie sie auch so schnell wie 
möglich durch. Das ist eines der Kernelemente. Das ist 
Ihre Aufgabe. Dabei wünschen wir Ihnen sogar viel Er- 
folg- 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD) 

^ Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Burkert. - Als nächster Redner 
für die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. 
Bitte schön, Kollege Luksic. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Oliver Luksic (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 
widmen uns heute einem der wichtigsten Bereiche Euro- 
pas: der freien und grenzüberschreitenden Mobilität. 
Durch sie werden die Vorteile eines vereinten Europas 
im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar. Ich halte es für 
besonders wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag 
ausführlich mit diesem Thema befasst; denn Deutsch- 
land ist als Transitland im Herzen Europas von verkehrs- 
politischen Entscheidungen besonders betroffen. 

Das gilt auch für das Weißbuch Verkehr der Kommis- 
sion. Wir als FDP-Fraktion begrüßen ausdrücklich, dass 
sich neue Verkehrskonzepte - das ist in diesem Weiß- 
buch klar formuliert - dem Bürger nicht aufzwingen las- 
sen. Wir brauchen hier eine Akzeptanz der Bürger und 
der Wirtschaft. Wir müssen wegkommen von ideolo- 
gisch motivierter Umerziehungspolitik, wie sie leider 
auch im Antrag der Grünen ein Stück weit gefordert 
wird. Wir als FDP unterstützen ausdrücklich den zentra- 
len Satz im Weißbuch Verkehr, dass die Einschränkung 
von Mobilität keine Option ist. Das ist auch Leitlinie li- 
beraler Verkehrspolitik und entspricht der Haltung dieser 
Koalition. 


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU - Dr. Anton Hofreiter [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Es gibt 
einen Unterschied zwischen Mobilität und 
Verkehr!) 

Der Verkehrssektor darf auch nicht ausschließlich als 
Kohlendioxidverursacher betrachtet werden. Wir müs- 
sen uns vielmehr darum kümmern, die Herausforderun- 
gen zu bewältigen, die die Zunahme des Verkehrsauf- 
kommens in ganz Europa und natürlich besonders in 
Deutschland mit sich bringt. Wir glauben, wir brauchen 
hier ein Miteinander der Verkehrsträger, Ko-Modalität, 
statt erzwungener Verlagerung. Unsere Regierung steht 
für Pragmatismus statt Ideologie. Deswegen begrüßen 
wir, dass das im Weißbuch klar zum Ausdruck kommt. 

Wir haben uns gewünscht, dass es einen roten Faden 
beim Thema Ko-Modalität gibt. Stattdessen finden wir 
immer wieder - Kollegin Bellmann hat es angesprochen - 
einige dirigistische Maßnahmen, die wir kritisch bewer- 
ten, beispielsweise den Gedanken einer Citymaut, dem 
wir wirklich eine Absage erteilen wollen, wie auch der 
Idee, dass in einer Innenstadt kein Auto mit konventio- 
nellem Antrieb mehr fahren darf. Für uns ist das Subsidi- 
aritätsprinzip kein Selbstzweck, sondern es garantiert die 
besten Lösungen auf der richtigen Ebene. Wir meinen: 
Brüssel muss sich - vielleicht noch mehr als bisher - um 
grenzüberschreitende Verkehre bemühen, sich aber aus 
regionalen und lokalen Verkehren heraushalten. Das 
geht Brüssel nichts an. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Wir wollen stärker als bisher einen Austausch von 
Best-Practice-Lösungen der Mitgliedstaaten, wo es mög- 
lich ist, statt europaweit vorgeschriebener Regeln. Wir 
brauchen beispielsweise im Bereich der Bodenabferti- 
gungsdienste - es wurde zu Recht angesprochen - keine 
weitere Regulierung durch eine Verordnung. Die beste- 
hende Richtlinie ist ausreichend. Wir sollten dort, wo 
wir ein hohes Qualitätsniveau haben, Premiumlösungen, 
beispielsweise im Bereich der Fahrzeugüberwachung, 
heraussteilen und auch in Brüssel offensiv vertreten. Es 
geht hier wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Ver- 
kehrssektors und der Mobilität in Europa. Dafür brau- 
chen wir neue Modelle und Ideen, beispielsweise im Be- 
reich der Infrastrukturfinanzierung. 

Ohne eine verlässliche Finanzierungsgrundlage sind 
auch die schönsten Projekte leider nur etwas für den 
Wunschzettel. Es kommt auf die Umsetzung in der Pra- 
xis an. Hier brauchen wir in Zeiten knapper Kassen 
Innovationen. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir 
als Koalition trotz der schwierigen Haushaltslage auf 
dem Koalitionsgipfel beschlossen haben, dass wir 1 Mil- 
liarde Euro zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur in 
Deutschland ausgeben. Das ist gut, und das ist richtig. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Einfach mal Schulden machen!) 

Wichtig ist auch, dass wir auf europäischer Ebene 
eine Anrechnung der Umweltkosten erreichen. Dazu 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16517 


Oliver Luksic 

muss die Kommission ein Gesamtkonzept für alle Ver- 
kehrsträger vorlegen. Ein Punkt, der unserer Fraktion be- 
sonders wichtig ist: Wir müssen Verkehrsprojekte zügi- 
ger und effizienter als bisher realisieren, beispielsweise 
mit öffentlich-privaten Partnerschaften oder auch mit 
Projektanleihen, die die Europäische Kommission zu 
Recht vorgeschlagen hat, um mehr privates Kapital für 
große Infrastrukturprojekte zu bewegen. Das sollte mei- 
nes Erachtens auch die SPD anerkennen, statt dies rund- 
weg abzulehnen. 

Wichtig ist für uns: Wir erhalten auch bei der Ent- 
wicklung neuer Technologien Deutschland als führenden 
Standort, beispielsweise in der Elektromobilität, aber 
auch bei anderen Zukunftstechnologien, und wir müssen 
auch unseren Spitzenplatz als Logistikweltmeister be- 
haupten. 

Im Bereich des Schienenverkehrs, der eben ausführ- 
lich angesprochen wurde, ist für uns klar: Alle Länder 
müssen Hürden abbauen. Wir wollen einen fairen Wett- 
bewerb. Welche Probleme wir in Europa immer noch ha- 
ben, zeigen die Schwierigkeiten der Deutschen Bahn, 
wenn sie mit ihren Zügen durch den Eurotunnel fahren 
will. Wir brauchen also weitere Liberalisierungsschritte 
beim Netzzugang und bei der Trennung von Netz und Be- 
trieb. Da ist gerade Deutschland gefordert. Herr Burkert, 
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ein Vertrags- 
verletzungsverfahren gegen Deutschland gibt. Wir erwar- 
ten mit Spannung das Urteil des Europäischen Gerichts- 
hofs und die weiteren Vorschläge von Kommissar Kallas 
zur Öffnung der Eisenbahnmärkte. Dank Brüssel muss 
sich bei der Bahnpolitik auch hierzulande etwas bewe- 
gen. 

Herr Burkert, Sie haben eben die Gewerkschafts- 
standpunkte vorgetragen. Man weiß manchmal nicht, für 
wen Sie reden, ob für die Gewerkschaften oder für die 
SPD. Auf jeden Fall ist das, was Sie von der SPD hier 
Vorschlägen, nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch 
europarechtlich unzulässig. Das müssen Sie einfach zur 
Kenntnis nehmen. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dass Sie Pro- 
bleme mit den Arbeitnehmerinteressen haben, 
ist schon klar!) 

Lassen Sie mich zum Ende sagen, dass die Koalition 
für ein vernünftiges Neben- und Miteinander der Ver- 
kehrsträger steht statt erzwungener Verlagerungen, wie 
sie die Grünen wollen. Wir wollen eine Politik, die sich 
um konkrete Verkehrsprobleme kümmert. Wir brauchen 
innovative Konzepte wie Projektanleihen. Das ist unsere 
Auffassung von vernünftiger Verkehrspolitik. Ich glaube, 
wir müssen - das ist der Auftrag an die Bundesregierung - 
in Brüssel so früh wie möglich proaktiv alles begleiten 
und gestalten. Unser Antrag bietet dazu eine sehr gute 
Grundlage. Wir haben gute Arbeit geleistet. 

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 


Vizepräsident Eduard Oswald: (C) 

Vielen Dank, Kollege Luksic. - Nächster Redner für 
die Fraktion Die Linke ist unser Kollege Herbert 
Behrens. Bitte schön, Kollege Herbert Behrens. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Herbert Behrens (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 
werden keinen Fortschritt haben, wenn die Durchschnitts- 
temperatur auf der Erde weiter steigt. Mehr Wohlstand 
werden wir nicht erreichen, wenn der Energiebedarf im 
Verkehrssektor weiterhin zu 96 Prozent durch Öl ge- 
deckt wird. Das sind Erkenntnisse aus dem Weißbuch 
Verkehr der EU. Auspuffrohre von Lastwagen und Pkw 
sollen weniger von dem Klimakiller C0 9 herauspusten, 
Flugverkehr und Schifffahrt sollen genauso einsparen 
wie die Kraftwerke, die für E-Mobilität auf Schiene und 
Straße gebraucht werden. Insgesamt 60 Prozent weniger 
C0 2 sollen im Verkehrssektor bis zum Jahr 2050 ver- 
braucht werden. 

Der Klimawandel ist dramatisch. Trotz der schon 
lange diskutierten Klimaschutzziele stellen wir fest: Der 
C0 2 -Ausstoß der Industrieländer wächst stärker als de- 
ren Wirtschaftsleistung; es ist übrigens das erste Mal seit 
zehn Jahren, dass wir das feststellen müssen. Das ist ein 
gravierender Rückschritt. Das sogenannte 2-Grad-Ziel, 
wonach die globale Durchschnittstemperatur gegenüber 
vorindustriellen Zeiten nicht um mehr als 2 Grad steigen 
soll, ist nicht mehr zu erreichen, so die Nachrichten der 
vergangenen Tage. Wir müssen schon heute handeln, 
und zwar entschiedener, als im Weißbuch Verkehr emp- (D) 
fohlen wird. Schon heute müssen wir den Güter- und 
Personenverkehr umbauen, wir müssen ihn vermeiden, 
verlagern und verbessern, damit unsere Kinder und En- 
kel noch die Luft zum Atmen und die Chance auf die 
Gestaltung ihrer eigenen Zukunft haben. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wir brauchen in Europa und global eine Wirtschafts- 
politik, die Verkehr vermeidet. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Jeder nicht gefahrene Kilometer bedeutet weniger Ölver- 
brauch und weniger C0 2 - Ausstoß, jeder nicht auf der 
Straße gefahrene Kilometer entlastet unsere Städte und 
Dörfer. Unser Leben wird sicherer, Lärm und Gestank 
werden dadurch vermieden. Verkehrsvermeidung ist der 
effektivste, der ökonomisch und ökologisch sinnvollste 
Weg, um den Klimawandel zu stoppen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Davon ist im Weißbuch Verkehr der EU nichts zu finden, 
übrigens auch nicht in den Anträgen der Koalition, 

(Oliver Luksic [FDP]: Das können Sie von uns 
nicht erwarten!) 

und auch nur wenig in den Anträgen der SPD und der 
Grünen. 

Diesen schweren Mangel im Weißbuch wollen auch 
Sie nicht ausgleichen. Im Antrag der CDU/CSU und der 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Herbert Behrens 

(A) FDP heißt es dagegen - es wurde eben ansatzweise er- 
wähnt die Bereitstellung einer bedarfsgerechten und 
leistungsfähigen Infrastruktur müsse im Fokus stehen. 

(Oliver Luksic [FDP]: Ganz genau! - Patrick 
Döring [FDP]: Dagegen sind Sie auch? Gegen 
Infrastruktur?) 

Hemmnisse des Wettbewerbs im Verkehrssektor sollten 
abgebaut werden. Vollständige Liberalisierung des 
EU-Eisenbahnverkehrs wird gefordert. Ihr Antrag, 
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, 
ist von einem bekannten Marktradikalismus durchdrun- 
gen, 

(Zurufe von der FDP: Oh!) 

wenn er auch in Teilen gute Ideen enthält. Aber diese 
Ideen werden durch Ihren Ansatz plattgemacht. Diesen 
Radikalismus lehnen wir ab. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Stattdessen brauchen wir ein radikales Denken, 

(Oliver Luksic [FDP]: Ach ja?) 

wenn wir Verkehrspolitik nachhaltig gestalten wollen. 
Das ist mit dem Programm von heute nicht mehr zu ma- 
chen. Diese Politik muss ein gutes Leben und Arbeiten 
als Maßstab haben und die ökologischen Herausforde- 
rungen wirklich ernst nehmen. 

Die Linke will deshalb eine sozial und ökologisch 
orientierte Verkehrspolitik, die Gesamtwirtschaft, die 
, R , Bedürfnisse der Menschen und die klimapolitischen 
' Ziele zusammen denkt. Diese Debatte müssen wir nicht 
neu erfinden. 

(Oliver Luksic [FDP]: Das haben wir alles 
schon gehabt: in der DDR!) 

Sie findet schließlich schon statt. Die Menschen machen 
sich Gedanken darüber, wie beispielsweise der Güterver- 
kehr aus Wilhelmshaven abtransportiert werden kann. 
Sie machen sich Gedanken über unsinnige, teure Groß- 
projekte im Verkehrswesen. Stuttgart 21 und die Küsten- 
autobahn A 22 sind nur Synonyme dafür. 

Unser Verkehrskonzept stellt zuerst die Fragen: Wel- 
che Transporte sind notwendig? Welche Orte wollen die 
Menschen erreichen? Wie können wir die Arbeits- und 
Lebensbedingungen der Menschen verbessern? - Die 
Antworten auf diese Fragen 

(Oliver Luksic [FDP]: Das muss die Politik 
entscheiden und nicht die Bürger selber!) 

geben die Richtung für eine nachhaltige Mobilitätspoli- 
tik vor. Die vorliegenden Anträge werden diesen An- 
sprüchen jedoch nicht gerecht. 

(Oliver Luksic [FDP]: Sozialismus aber auch 
nicht!) 

Marktradikalismus ist keine Antwort auf den Klimawan- 
del. 

(Patrick Döring [FDP]: Planungsradikalismus 
schon gar nicht!) 


Wir brauchen auch in der Verkehrspolitik einen sozial- (C) 
ökologischen Umbau, und das geht nur mit uns, der 
Linksfraktion. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Herbert Behrens. - Jetzt spricht 
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege 
Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Anton 
Hofreiter. 

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Wir wissen, dass unsere Mobilität aktuell zu 
96 Prozent am Rohstoff Rohöl hängt, und wir wissen, 
dass 70 Prozent des Rohöls, das wir Tag für Tag nach 
Europa importieren, nur für Mobilität verbrannt werden. 

Wenn wir auf eine Änderung dieser Abhängigkeit set- 
zen, dann tun wir das nicht aus ideologischen Gründen, 
sondern weil es schlichtweg umweltpolitisch geboten 
und einfach nur klug ist, die Verkehrsinfrastruktur, die 
Mobilitätsinfrastruktur bereits jetzt auf die Herausforde- 
rungen der Zukunft auszurichten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wir wissen, dass die einzelnen Verkehrsträger unter- 
schiedlich leicht auf diese Herausforderungen auszurich- 
ten sind. Wir wissen, dass die Eisenbahn leichter auf 
C0 2 -frei oder CO, -arm umzustellen ist als der Personen- (D) 
oder Gütertransport auf der Straße. Das sind die Hinter- 
gründe, warum wir auf eine Verlagerung von der Straße 
auf die Schiene setzen. 

(Zuruf des Abg. Patrick Döring [FDP]) 

Wir alle hier im Raum wissen doch, dass es von der 
Planung bis zur Realisierung von großen und aufwendi- 
gen Verkehrsinfrastrukturprojekten zum Teil Jahrzehnte 
dauert. 

(Oliver Luksic [FDP] : Vor allem da, wo die Grü- 
nen regieren! Da dauert es noch länger!) 

Das wissen wir alle, und wir kennen auch den Hinter- 
grund. Der Hintergrund ist ein eklatanter Mangel an 
Geld bzw. eine gigantische Anzahl von Projekten, die 
unserem Ziel letztendlich nicht dienen. Sie alle kennen 
die Zahlen: 47 Milliarden Euro macht der Vordringliche 
Bedarf allein im Bereich der Straße aus. Wie viel Geld 
steht zur Verfügung? - 1,2 Milliarden, 1,5 Milliarden 
oder vielleicht 2 Milliarden Euro. Wenn einem Vordring- 
lichen Bedarf von 47 Milliarden Euro gerade einmal 
2 Milliarden Euro gegenübergestellt werden, dann - das 
wissen wir alle - wird ein Großteil der Projekte nicht 
rechtzeitig realisiert werden können. Bei der Schiene 
schaut es mindestens genauso dramatisch aus. 

(Patrick Döring [FDP]: Ihr seid doch gegen 
alle Projekte!) 

Was ist deshalb nötig? Es ist nicht nötig, auf einzelne 
Projekte zu setzen, die nur wenige Effekte für die Mobi- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Anton Hofreiter 

(A) lität mit sich bringen. Vielmehr ist es notwendig, endlich 
dafür zu sorgen, dass wir die Verkehrsinfrastruktur, die 
zum einen Engpässe tatsächlich beseitigt und uns zum 
anderen fit für die Zukunft macht, ausbauen. Denn die 
Herausforderungen der Zukunft sind teureres Rohöl und 
der Klimawandel. 

Genau das ist im Moment dringend notwendig, aber 
die Verkehrspolitik dieser Koalition verhindert es. Denn 
Sie setzen auf isolierte Großprojekte, wo es keinen einzi- 
gen Engpass gibt, 

(Oliver Luksic [FDP]: Das ist doch Quatsch!) 

und Sie setzen bei der Bahn darauf, dass Ihnen die 
EU-Kommission hilft. Denn Sie sind zu schwach, Ihren 
eigenen Koalitionsvertrag gegenüber dem Minister und 
dem Bahn-Chef durchzusetzen. Sie hoffen darauf, dass 
endlich die Gewinnabfiihrungs- und Beherrschungsver- 
träge aufgehoben werden, damit wir bei der Bahnpolitik 
zu etwas Vernünftigem kommen. 

Angesichts all dessen ist es eigentlich nur tragisch zu 
nennen, wie die Verkehrspolitik von dieser Koalition ge- 
handhabt wird. Einerseits sprechen Sie davon, dass es 
ideologisch sei, wenn man fordere, die Verkehrsinfrastruk- 
tur an die Herausforderungen der Zukunft anzupassen. An- 
dererseits passiert aber nichts. Die Gewinnabführungs- 
und Beherrschungs Verträge werden nicht aufgehoben; es 
findet keine vernünftige Verkehrsinfrastrukturpolitik 
statt, indem das Geld zur Beseitigung von Engpässen ver- 
wendet wird; aus der Logistikabgabe haben Sie eine reine 
Straßenfinanzierungsabgabe gemacht; 

(B) 

(Patrick Döring [FDP]: Dann müssen Sie das 
Geld auch der Straße geben!) 

bei den Wasserstraßen wurden kleine Fortschritte erzielt, 
aber es wurde nicht wirklich etwas erreicht. Das heißt, in 
allen drei Sektoren der Verkehrsinfrastruktur herrscht 
Stillstand. Zugleich halten Sie aber große Reden und 
sprechen von dem Unterschied zwischen ideologischer 
und nichtideologischer Verkehrspolitik. Hier muss es 
dringend zu Änderungen kommen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wenn hier nichts passiert, haben wir keine Chance, un- 
sere Verkehrsinfrastruktur an die Herausforderungen der 
Zukunft anzupassen. 

Die Herausforderungen der Zukunft bestehen darin, 
Mobilität für Menschen und Güter zu gewährleisten, den 
Klimawandel zu verhindern und das Ganze ökologisch 
und sozial gerecht zu gestalten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - 

Patrick Döring [FDP]: Den Klimawandel wird 

niemand von uns verhindern!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Dr. Anton Hofreiter. - Jetzt für 
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Karl 
Holmeier. Bitte schön, Kollege Holmeier. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 


Karl Holmeier (CDU/CSU): 

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen 
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 
Politiker neigen gewöhnlich schnell dazu, von Meilen- 
steinen zu sprechen. Das Weißbuch Verkehr, das die Eu- 
ropäische Kommission im Frühjahr vorgestellt hat, kann 
jedoch mit Recht als Meilenstein für die europäische 
Verkehrspolitik bezeichnet werden. 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Naja!) 

- Ja. Es hat eine wegweisende Bedeutung für die Ver- 
kehrspolitik der kommenden Jahrzehnte und kann in sei- 
ner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt wer- 
den. Es ist daher außerordentlich wichtig, dass sich der 
Deutsche Bundestag heute intensiv mit diesem Thema 
befasst. 

Ich freue mich, dass das Weißbuch Verkehr von allen 
maßgebenden Fraktionen behandelt wird. Nachdem man 
die Aussagen der Vorredner gehört hat, insbesondere 
was die Verkehrspolitik der Linken anbetrifft, 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die ist gut!) 

könnte man sich allerdings fragen, ob wir im 21. Jahr- 
hundert oder vielleicht noch im Mittelalter leben. Ich 
will aber auch nicht verhehlen, dass ich bei der Durch- 
sicht der Anträge von SPD und Grünen an einigen Stel- 
len wirklich den Kopf schütteln musste. 

So wird zum Beispiel trotz des ohnehin schon über- 
ambitionierten Vorschlags der EU-Kommission, die 
Treibhausgasemissionen im Verkehrsbereich bis 2050 
um 60 Prozent zu reduzieren, gefordert, hier noch etwas 
draufzusatteln. Das ist aus meiner Sicht nicht seriös. Wer 
das tut, hat immer noch nichts aus dem Scheitern der 
Lissabon-Strategie gelernt. Man darf doch die Realität 
der Gegenwart nicht aus den Augen verlieren. Der von 
der Kommission vorgeschlagene Wert kann allenfalls als 
Orientierungsrahmen angesehen werden. 

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Fachlich ist sogar noch mehr not- 
wendig, um unsere Lebensgrundlagen zu er- 
halten! Unterhalten Sie sich einmal mit der 
Wissenschaft!) 

Das machen wir im Antrag von CDU/CSU und FDP 
auch ganz klar und verweisen darin auf die realistischen 
Zielmarken in unserem Energiepaket. 

In unserem Antrag sagen wir auf Basis dieser realisti- 
schen Zielvorgaben darüber hinaus auch ganz klar, mit 
welchen Maßnahmen wir diese Ziele erreichen wollen. 
Die Antworten, die in den Oppositionsanträgen auf diese 
Frage gegeben werden, sind, vorsichtig formuliert, nur 
unzureichend. Sie schlagen doch allen Ernstes vor, weni- 
ger Geld in den Aus- und Neubau von Straßen zu inves- 
tieren. Da kann ich zu den Wählern der Grünen nur sa- 
gen: Willkommen bei der Dagegen-Partei! 

Wie, bitte schön, wollen Sie angesichts verstopfter 
Straßen und langer Staus eigentlich den C0 2 -Ausstoß re- 
duzieren? Wie wollen Sie die Ortschaften entlasten, 
wenn Sie keine Umgehungsstraßen mehr bauen wollen? 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Karl Holmeier 

(A) (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Keine Straßen dort bauen, wo 
überhaupt keine Autos sind! Die Straßen, die 
gebaut werden, werden dort gebaut, wo über- 
haupt keine Autos sind!) 

Und wie, bitte schön, wollen Sie Mobilität gewährleis- 
ten, wenn Sie dem angestauten Nachholbedarf beim 
Ausbau unserer Straßen nicht endlich gerecht werden? 
Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten 
dringend - jawohl, Herr Hofreiter, dringend - auf den 
notwendigen Bau von Ortsumgehungen und auf den 
Ausbau von Straßen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Da, wo die Leute wirklich Probleme 
haben, wird ja nicht gebaut!) 

Vor allem aufgrund der zahlreichen Verpflichtungen, 
die unter SPD-Fiihrung bei der Bahn eingegangen wur- 
den und nun abfinanziert werden müssen, fehlt unserem 
Verkehrsminister Peter Ramsauer heute Geld für solche 
wichtigen Ausbaumaßnahmen im Straßenbereich. 

(Gustav Herzog [SPD]: Das Geld habt ihr 
doch zum Fenster herausgeworfen! Wer hat 
denn die Mehrwertsteuer für Hotels redu- 
ziert?) 

Deshalb danke ich - und das tun viele in unserem Land - 
der Spitze der christlich-liberalen Koalition für die Be- 
schlüsse, die sie letztes Wochenende gefasst hat. Die zu- 
sätzliche Milliarde für Investitionen in die Infrastruktur 

(B) löst zwar nicht alle Probleme. Es können aber einige 
wichtige neue Maßnahmen auf den Weg gebracht wer- 
den. Für uns wäre es wichtig, diese Milliarde in den 
nächsten Jahren dauerhaft einplanen zu können. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ich möchte an dieser Stelle auch einmal unserem Ver- 
kehrsminister Peter Ramsauer ein großes Lob ausspre- 
chen. 

(Zurufe von der SPD: Oh!) 

Er ist um seinen Job keineswegs zu beneiden. Er muss 
heute ausbügeln, was Rot und Grün in den vergangenen 
Jahren angerichtet haben, und er macht das wirklich her- 
vorragend. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Martin Burkert [SPD]: Weiße Salbe!) 

Peter Ramsauer war es auch, der von Anfang an klarge- 
macht hat, dass es sein Ziel ist, Mobilität zu ermöglichen 
und nicht einzuschränken. 

Dieser Ansatz findet sich nun auch im Vorschlag der 
Europäischen Kommission wieder. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Herr Kollege Holmeier, gestatten Sie eine Zwischen- 
frage unseres Kollegen Florian Pronold? 

Karl Holmeier (CDU/CSU): 

Gerne. 


Vizepräsident Eduard Oswald: 

Bitte schön, Kollege Florian Pronold. 

(Oliver Luksic [FDP] : Der durfte gar nicht re- 
den heute!) 

Florian Pronold (SPD): 

Herr Kollege Holmeier, Ihr gerade gelobter Minister 
spricht zu Recht an, dass, wie wir alle wissen, der Ver- 
kehrsetat unterfmanziert ist, und zwar um bis zu 4 Mil- 
liarden Euro pro Jahr. 

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 

GRÜNEN]: Mit blödsinnigen Projekten ver- 
stopft!) 

Jetzt stelle ich Ihnen die Frage, wieso Sie als Koalition 
angesichts dieser Erkenntnis erstens nur einmalig 1 Mil- 
liarde Euro bekommen, wie Sie es zweitens geschafft 
haben, vorher den Hoteliers große Steuergeschenke zu 
machen, 

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) 

und wie Sie drittens am vergangenen Sonntag auch noch 
6 Milliarden Euro an Steuergeldern verschenken konn- 
ten. Wie ist das angesichts des unterfinanzierten Ver- 
kehrsetats möglich? 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Karl Holmeier (CDU/CSU): 

Wir schaffen nur eine gewisse steuerliche Gerechtig- 
keit, die schon lange notwendig ist. 

(Gustav Herzog [SPD]: Das glauben Sie doch 
selbst nicht, was Sie da sagen!) 

Ich habe es gesagt: Wir sind froh, dass wir diese Mil- 
liarde haben, und wir arbeiten daran, sie zu verstetigen, 
um die notwendigen Projekte auf den Weg zu bringen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Meine Damen und Herren, wir brauchen in Zukunft 
nicht weniger, sondern mehr Mobilität. Wir müssen da- 
rauf achten, dass Mobilität auch in Zukunft leistbar und 
bezahlbar ist, auch für den kleinen Mann. Der Antrag der 
christlich-liberalen Koalition macht das ganz klar. Die 
SPD-Fraktion hat dies im Grundsatz auch erkannt. Die 
Grünen haben es bis jetzt noch nicht erkannt; aber was 
nicht ist, kann ja vielleicht noch werden. 

Wer allerdings ernsthaft gewillt ist, Mobilität nicht 
einzuschränken, sondern zu ermöglichen und gleichzei- 
tig bezahlbar zu halten, darf nicht von vornherein einen 
bestimmten Verkehrsträger ausschließen. Ebenso darf er 
nicht einen bestimmten Verkehrsträger bevorzugen. Je- 
der Verkehrsträger hat seine Stärken und Vorteile. Daher 
muss jeder Verkehrsträger entsprechend seinen Stärken 
eingesetzt werden, um das Verkehrsaufkommen optimal 
bewältigen und bestmögliche Mobilität gewährleisten zu 
können. Eine dirigistische und pauschale Verlagerungs- 
politik, wie manche sie fordern, wird dem nicht gerecht. 

Wir setzen uns in unserem Antrag klar für ein ausge- 
wogenes Verhältnis aller Verkehrsträger ein. Wir sind 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Karl Holmeier 

(A) auch für Verlagerung; aber die sollte es nur dort geben, 
wo es wirklich sinnvoll ist. Alles andere ist kontrapro- 
duktiv, schränkt Mobilität ein und verringert die Akzep- 
tanz der Nutzer. 

Abschließend möchte ich noch auf den Vorschlag der 
Kommission eingehen, bis 2050 im Stadtverkehr auf sol- 
che Pkw zu verzichten, die mit konventionellem Kraft- 
stoff betrieben werden. Die Oppositionsanträge nehmen 
diesen Vorschlag nur zur Kenntnis, ohne inhaltlich dazu 
Stellung zu beziehen. Wir sagen ganz klar: Eine voll- 
ständige und undifferenzierte Verbannung von Verbren- 
nungsmotoren darf es nicht geben. Es kann doch nicht 
zielführend sein, bestimmte Technologien von vornhe- 
rein auszuschließen, ohne zu wissen, welche technologi- 
schen Möglichkeiten es in 40 Jahren geben wird. Die 
Reduzierung des C0 2 -Ausstoßes muss durch einen tech- 
nologieneutralen Ansatz verfolgt werden, also durch 
verschiedene alternative Antriebs- und Kraftstoffarten, 
nicht jedoch durch den Ausschluss einzelner Technolo- 
gien. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ausfüh- 
rungen zeigen, welche Dimension das Weißbuch Ver- 
kehr hat. Es ist tatsächlich ein echter Meilenstein. Ein 
solch wegweisendes Weißbuch erfordert aber auch eine 
sehr ernsthafte Auseinandersetzung, und diese liefert al- 
lein der Antrag von CDU/CSU und FDP. 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Naja!) 

Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. 

^ Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Karl Holmeier. - Nächster Red- 
ner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kol- 
lege Michael Groß. Bitte schön, Kollege Michael Groß. 

(Beifall bei der SPD) 

Michael Groß (SPD): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere 
mich schon darüber, dass die Koalition immer wieder da- 
rauf abhebt, wie lange die rot-grüne Regierung im Amt 
war. Sie sind jetzt zwei Jahre - Herr Ramsauer, Sie haben 
gestern von zwei Jahren und 13 Tagen gesprochen - im 
Amt. Da muss ich schon fragen: Wann übernehmen Sie 
endlich Verantwortung und treffen Entscheidungen über 
Dinge, die für unser Land wichtig sind? Dazu gehört die 
Gestaltung der Verkehrspolitik. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa für die 
Bürgerinnen und Bürger in unserem Land immer wichti- 
ger wird. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es 
uns gelingt, in Europa einen einheitlichen Verkehrsraum 
zu schaffen, von dem die Bürger profitieren. Die Heraus- 
forderungen liegen klar auf dem Tisch. Heutige Genera- 


tionen reisen wesentlich mehr als frühere. Der Güterver- (C) 
kehr in Europa nimmt zu. Ungeachtet dessen haben wir 
die Aufgabe, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. 

Das ist der entscheidende Punkt für den Klimaschutz. 

Die EU legt mit dem Weißbuch ein Konzept vor, um 
die bisherige Politik zu verändern, den Stillstand zu über- 
winden und eine nachhaltige Verkehrspolitik zu sichern. 

Das vorliegende Konzept zielt auf einen grundlegenden 
Wandel im Verkehrssektor; dieser Wandel ist notwendig. 

Auch wenn die mittelfristigen Zielsetzungen noch kon- 
kreter formuliert und Finanzierungsfragen grundlegend 
geklärt werden müssen, sieht die SPD-Fraktion im Weiß- 
buch Verkehr eine große Chance. Mobilität muss auch in 
Zukunft bezahlbar, sicher und umweltfreundlich sein. Sie 
muss die Teilhabe am Leben sichern, Arbeitsplätze schaf- 
fen und wirtschaftliches Wachstum fördern. 

Hinzu kommen Anforderungen wie: die Mobilität für 
Menschen barrierefrei und verbraucherfreundlich zu ge- 
stalten und die Menschen in Europa vor steigendem Ver- 
kehrslärm zu schützen. Wichtig ist die Akzeptanz von 
Infrastrukturprojekten wie dem Ausbau und Neubau von 
Straße, Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr. Diese 
Akzeptanz muss durch Formen der Bürgerbeteiligung 
- nicht nur bei länderübergreifenden Projekten - frühzei- 
tig gefördert werden. Dadurch kann eine abgestimmte 
Verwirklichung von Projekten, die bisher noch auf Eis 
liegen, sichergestellt werden. Es ist ein gezieltes und 
schnelles Handeln erforderlich, um nachhaltige Ent- 
wicklungen sowohl beim Umwelt- und Klimaschutz wie 
auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu si- 
chern. Dieser Dreiklang ist für die SPD besonders wich- 
tig. 

Ich appelliere insbesondere an Sie, Herr Ramsauer, 
dass Sie endlich aus Ihrem Dornröschenschlaf erwachen 
und Verkehrskonzepte auf den Tisch legen; 

(Florian Pronold [SPD]: Den will niemand 
wachküssen!) 

denn der Zeithorizont wird, je später wir mit der eigentli- 
chen Umsetzung beginnen, immer enger. Wir warten 
schon viel zu lange auf das von Ihnen angekündigte 
Konzept. Für Klimaschutz und Stauprävention ist es 
nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon nach zwölf. 

Sie sperren sich zum Beispiel gegen ambitionierte 
Zielsetzungen der EU, den Güterverkehr von der Straße 
auf die Schiene und Wasserstraße zu verlagern. Progno- 
sen gehen aufgrund der Zuwächse im Güterverkehr da- 
von aus, dass in absehbarer Zeit zwei Fahrspuren auf 
Hauptverkehrsachsen von Lastkraftwagen besetzt sein 
werden. Die Folgen für Pkw-Reisende oder Pendler 
kann sich jeder ausmalen: Dauerstau mit hohen Umwelt- 
schäden und hohen wirtschaftlichen Kosten. 

Die EU schlägt Maßnahmen vor, die geeignet sind, 
ein effizientes Verkehrssystem, das uns unabhängiger 
vom Öl macht und die Umwelt schützt, aufzubauen. Es 
sollen aber auch der europäische Wirtschaftsraum ge- 
stärkt und Arbeitsplätze gesichert und geschaffen wer- 
den. Kostenschätzungen für die erforderlichen Investi- 
tionen liegen bei 550 Milliarden Euro für den Zeitraum 
bis 2020. Allerdings werden die Hauptlast der Finanzie- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Michael Groß 

(A) rung einer integrierten und zukunftsfähigen Verkehrsin- 
frastruktur die Mitgliedstaaten tragen müssen. Doch be- 
reits jetzt ist der Verkehrssektor in Deutschland unter- 
finanziert. Die von der Koalition geplante weitere Mil- 
liarde für den Verkehrshaushalt ist mehr als begrüßens- 
wert. Doch wird sie buchstäblich im Sande versickern, 
wenn nicht klare Prioritäten gesetzt werden und entspre- 
chende Gelder in den nächsten Jahren verlässlich zur 
Verfügung stehen. 

Dass eine zusätzliche Milliarde nicht ausreichen wird, 
um Engpässe zu reduzieren, Knotenpunkte auszubauen 
sowie Straßen und Brücken zu erhalten und zu sanieren, 
hat Herr Ramsauer gestern auf einer Veranstaltung ange- 
deutet. Allein für die notwendigen Schleusenarbeiten im 
Nord-Ostsee-Kanal werden mehr als 500 Millionen Euro 
benötigt. Die Leistungsfähigkeit des Nord-Ostsee-Kanals 
muss deutlich erhöht werden, sonst droht ein Verkehrsin- 
farkt mit massiven Auswirkungen auf die Entwicklung 
des Güterverkehrs. 

(Oliver Luksic [FDP]: Sie haben doch jahre- 
lang nichts gemacht!) 

Festzuhalten ist: In Europa wird für Infrastruktur we- 
sentlich mehr Geld ausgegeben als bei uns. ln der 
Schweiz wird für die Schieneninfrastruktur bis zu sechs- 
mal mehr pro Einwohner ausgegeben. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

ln der Süddeutschen Zeitung vom 8. November 2011 ist 
zu lesen, dass die Landkarte fürs Geldausgeben bereits 

(B) in der Schublade des Verkehrsministeriums liegt. Aber 
diesen Plan gibt es ja eigentlich nicht - zumindest wird 
uns das ständig erzählt. 

Wegen knapper Haushaltsmittel wurden Projekte wie 
die regionale Schnellbahn in NRW - der RRX - ersatz- 
los gestrichen. Ebenso sollte es der Südbahn in Baden- 
Württemberg ergehen. 

(Patrick Döring [FDP]: Märchenstunde, oder 
was?) 

Doch hier vermelden die CDU-Kollegen - man höre - in 
der Presse, dass das Projekt dank ihres Einsatzes wieder 
aufgenommen wurde. Kein Verkehrskonzept, sondern 
allein politische Einflussnahme spielt hier eine Rolle. 

Die Menschen unserer Zeit wollen und müssen mobil 
sein. Das bedeutet nicht unbedingt Mobilität mit dem ei- 
genen Auto, wie die Entwicklungen in den Großstädten 
zeigen. Viele junge Leute haben gar kein eigenes Auto 
mehr. Dieser Entwicklung müssen wir gerecht werden. 

(Patrick Döring [FDP]: Durch Steuererhöhun- 
gen der SPD!) 

Heutzutage ist es immer wichtiger, planbar und verläss- 
lich von Haustür zu Haustür reisen zu können. Der euro- 
päische Verkehrssektor ist für die Wirtschaft und für die 
Bürger von enormer Bedeutung. Dabei geht es um inner- 
europäische Integration und Harmonisierung. 

Darüber hinaus müssen die Arbeitsplätze im Ver- 
kehrssektor auf hohem sozialen Standard gesichert wer- 


den und Mobilität für den Einzelnen bezahlbar bleiben. (C) 
Verkehrspolitik erfordert langfristige Planung, klar defi- 
nierte nachvollziehbare Kriterien und zeitnahe Umset- 
zung und Finanzierung. Am allerwichtigsten ist: Sie 
muss den Menschen dienen und die Umwelt schützen. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Michael Groß. - Jetzt spricht 
für die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring. 

Bitte schön, Kollege Patrick Döring. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Patrick Döring (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Wenn man der Debatte aufmerksam gefolgt ist, stellt 
man fest, dass manches zur allgemeinen nationalen Ver- 
kehrspolitik gesagt worden ist, aber nicht sehr viel zum 
Weißbuch. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op- 
position, das, was hier gesagt worden ist, darf nicht un- 
kommentiert bleiben. 

Ganz offensichtlich ist zumindest in Ihren Arbeits- 
gruppen noch nicht angekommen, dass es in Deutsch- 
land eine grundgesetzlich festgelegte Schuldenbremse 
gibt. Deshalb können die Fachpolitiker aus dem Bereich 
Infrastruktur nicht aus dem Völlen schöpfen, wie Sie das 
selbst gerne machen würden. 

(Gustav Herzog [SPD] : Deswegen haben Sie auch 
Steueränderungen beschlossen!) 

Das geht schlicht nicht. Deshalb ist die 1 Milliarde 
Euro, die diese Koalition am Sonntagabend an zusätzli- 
chen Investitionsmitteln für das kommende Jahr geplant 
hat, ein großer Erfolg von Peter Ramsauer und allen Be- 
teiligten. Das darf man nicht kleinreden. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Ich will deutlich sagen, dass mich die Rede des Kolle- 
gen Burkert - der offenbar schon gehen musste - ausge- 
sprochen fasziniert hat, denn sie hat in weiten Teilen 
nichts mit der europapolitischen Realität zu tun - übri- 
gens auch nichts mit der eisenbahnpolitischen Diskus- 
sion, die wir in der Koalition führen. 

Eines aber dürfte doch auch Sozialdemokraten ver- 
mittelbar sein: Es macht keinen Sinn, dass das von der 
öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Eigenkapital 
von Infrastrukturunternehmen, das ausschließlich des- 
halb entsteht, weil dieses Parlament Infrastrukturpro- 
jekte finanziert, mit einer angenommenen Mindestver- 
zinsung von 8 Prozent bewertet wird. Das müsste sogar 
Sozialdemokraten vermittelbar sein. 

Das ist der aktuelle Streit bei der Frage des Recast. In 
diesem Punkt bin ich ganz an der Seite der Sozialistin, 
die hier Hauptberichterstatterin ist und die es jedenfalls 
verstanden hat, dass es nicht vernünftig ist, das Eigenka- 
pital von Unternehmen, die von der Finanzierung von 
Infrastrukturprojekten durch die öffentliche Hand leben. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Patrick Döring 

(A) mit einer Verzinsung von 8 Prozent zu bewerten. Das 
sollte die Haltung des ganzen Hauses sein. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

ln dieser Frage lässt sich kein Keil zwischen die Ko- 
alitionsfraktionen treiben. Deshalb haben wir in diesem 
Zusammenhang vereinbart, dass wir die Entscheidung 
des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungs- 
verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland abwar- 
ten. Wenn diese Entscheidung vorliegt, dann ist der 
Bund als Eigentümer gerüstet. Dessen können Sie sicher 
sein. 

Ich will einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, 
weil wir uns dazu alsbald in einem Gesetzgebungsver- 
fahren befinden werden. Es geht um die Frage, wie wir 
in Deutschland mit dem Fernbusverkehr umgehen wol- 
len. Ab dem 1. Januar kommenden Jahres sind Fem- 
busse innerhalb der Europäischen Union voll liberali- 
siert. Das heißt, ein Bus im Fernverkehr kann in 
Amsterdam starten und bis Warschau durch die Bundes- 
republik Deutschland hindurchfahren. Währenddessen 
kann er Fahrgäste aufnehmen oder absetzen. 

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Tolle Errun- 
genschaft!) 

Das ist Ergebnis des Handelns der Europäischen 
Union. Hiermit hat die Bundesrepublik Deutschland 
zunächst nichts zu tun. Ich halte es allerdings für eine 
Aufgabe des nationalen Parlaments, dass wir den Busun- 
ternehmen in Deutschland zumindest die gleiche Mög- 

(B) lichkeit bieten, im eigenen Land diese Verkehre zu reali- 
sieren. Wir arbeiten im Rahmen der Novelle des 
Personenbeförderungsgesetzes daran, hier gleiche Wett- 
bewerbsbedingungen zwischen dem niederländischen 
Busuntemehmer und dem niedersächsischen Busunter- 
nehmer zu schaffen, um das einmal so klar zu sagen. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das stimmt nicht! Ihr bekämpft und 
verhindert es! Mit eurer wettbewerbsfeindli- 
chen Politik verhindert ihr das!) 

Ein Letztes - es wurde vorhin in einer Randbemer- 
kung angesprochen -: Im Antrag steht das Nötige zu den 
Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen. Solange wir Wett- 
bewerb haben und die Eigenabfertigungsmöglichkeiten 
von den Airlines nicht genutzt werden, ist eine durch Eu- 
ropa verordnete Ausweitung der Regulierung nicht er- 
forderlich. Das ist die Haltung der Koalition und der 
Bundesregierung; dazu stehen wir. 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Patrick Döring. - Jetzt spricht 
für die Fraktion Die Linke unser Kollege Alexander 
Ulrich. 

(Beifall bei der LINKEN) 


Alexander Ulrich (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 
Kritik am Weißbuch Verkehr der Europäischen Kommis- 
sion ist in jüngster Zeit immer lauter geworden. Die Kri- 
tik bezieht sich auf verschiedene Aspekte. So haben die 
Mitglieder des Verkehrsausschusses in Brüssel zu Recht 
gesagt, dass der Zeithorizont - 2030 bis 2050 - viel zu 
weit gefasst ist. Wenn wir die dringend notwendige Ver- 
lagerung des Güterverkehrs auf Schiene und Wasser auf 
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, werden wir 
hier nie vorankommen. 

Fatal ist auch, dass das Weißbuch weiterhin rück- 
sichtslos auf Liberalisierung, Privatisierung und Deregu- 
lierung setzt. Die Kommission muss endlich einsehen, 
dass diese Strategie gescheitert ist. Die Liberalisierung 
hat nicht zu niedrigeren Preisen geführt; die Preise sind 
gestiegen. Die Liberalisierung hat auch nicht die Service- 
qualität verbessert; sie ist schlechter geworden. 

(Oliver Luksic [FDP]: Quatsch!) 

Der dritte Kritikpunkt ist, dass die Pläne der EU-Kom- 
mission wieder einmal auf dem Rücken der Beschäftig- 
ten ausgetragen werden. 

Schauen wir uns die Bahn an. Auch hier setzt die 
Kommission auf eine gescheiterte Strategie. Die Grünen 
fordern auch noch die Trennung von Netz und Schiene 
bei der Bahn. 

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Netz und Transport! Nicht „Netz 
und Schiene“! Netz und Schiene sind das Glei- 
che!) 

Da kann man Ihnen nur zurufen: Wer bei der Bahn auf 
britische Verhältnisse setzt, der hat wirklich gar nichts 
verstanden. Dieses Modell wäre verheerend, nicht nur 
für die Beschäftigten, sondern auch für die Sicherheit 
der Reisenden. 

Lassen Sie mich ein Thema anschneiden, das sehr eng 
mit der Frage der künftigen Mobilität in Europa ver- 
knüpft ist. Am 30. November 2011 soll das sogenannte 
Flughafenpaket von der EU-Kommission vorgelegt wer- 
den. Die bisher bekannt gewordenen Überlegungen wer- 
den sowohl von Flughafenbetreibern als auch von den 
Gewerkschaften scharf kritisiert. Diese Kritik ist absolut 
gerechtfertigt: Wieder einmal will die Kommission Maß- 
nahmen durchbringen, die gleichbedeutend sind mit we- 
niger Sicherheit und weniger Lohn, mit mehr Lärmbeläs- 
tigung für die Anwohner und weniger sozialer Sicherheit 
für die Beschäftigten. 

Die europäische Verkehrspolitik muss grundlegend 
verändert werden: 

(Beifall bei der LINKEN) 

Die Rechte von Beschäftigten dürfen ebenso wie die Si- 
cherheit der Kunden nicht auf dem Altar einer neolibera- 
len, ökologisch fragwürdigen Mobilitätspolitik geopfert 
werden. Die Linke spricht sich klar gegen weitere Libe- 
ralisierungen in der Verkehrspolitik aus. Im Verkehrsbe- 
reich zählen drei Dinge: Klimaschutz, bezahlbare Mobi- 
lität für alle und gute Arbeitsbedingungen für die 



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Alexander Ulrich 

(A) Beschäftigten der Branche. Für eine solche ökologisch- 
soziale Mobilität wird die Linke auch in Zukunft eintre- 
ten und streiten. 

Hier ist auch darüber gesprochen worden, was der 
Bundesverkehrsminister macht. Er ist im Prinzip ein An- 
kündigungsminister. Er hat Erfolge auf CSU-Parteita- 
gen; aber wenn er hier in Berlin ankommt, wird er von 
der Bundeskanzlerin ausgebremst. Das, was hier ange- 
kündigt wurde, ist in der Realität noch nicht angekom- 
men. Aus linker Sicht muss man aber auch sagen: Zum 
Glück kommt das nicht in der Realität an. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Alexander Ulrich. - Jetzt 
spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser 
Kollege Stephan Kühn. Bitte schön, Kollege Stephan 
Kühn. 

Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben 
darüber gesprochen: Die EU-Kommission hat ambitio- 
nierte Ziele für den Verkehrssektor formuliert. Wir be- 
grüßen diese Ziele, auch wenn es leider Langfristziele 
sind. So sollen die Emissionen im Verkehrssektor bis 
2050 um 60 Prozent reduziert werden. Es fehlen Zwi- 
schenschritte, sodass man Gefahr läuft, diese Sachen auf 
(ß) die lange Bank zu schieben, weil 2050 noch weit weg 
ist. 

Ein wichtiges Ziel, das formuliert wird, ist die Minde- 
rung der Abhängigkeit vom Öl. Es ist angesprochen 
worden: Der Bedarf an Öl macht 96 Prozent des gesam- 
ten Energiebedarfs des Verkehrssektors aus. Es ist nicht 
nur eine umweltpolitische, sondern auch eine klar wirt- 
schaftspolitische Herausforderung, diese Abhängigkeit 
zu reduzieren. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Die Bezahlbarkeit von Mobilität ist eng mit der Frage 
verbunden, wie wir die Abhängigkeit vom Öl reduzie- 
ren, weil wir nicht mehr die Zeit bekommen werden wie 
in den 70er-Jahren, als das Barrel Öl 3 US-Dollar gekos- 
tet hat. Es ist auch eine volkswirtschaftliche Frage, weil 
viele Unternehmen aufgrund der steigenden Kosten 
durch die Energieimporte ganz große Probleme haben. 
Deshalb ist es nicht nur umweltpolitisch, sondern auch 
volkswirtschaftlich richtig, diese Abhängigkeit vom Öl 
zu reduzieren. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Deutschland hat sich ähnliche Ziele wie die, die im 
Weißbuch Verkehr formuliert sind, gesetzt. Der Trend 
geht jedoch in eine völlig andere Richtung: Während der 
Energieverbrauch von Industrie und Haushalten sinkt, 
stagniert er in diesem Bereich in Deutschland seit Jah- 
ren. 80 Prozent des Energieverbrauchs für den Verkehr 
gehen auf das Konto des Straßenverkehrs. 


Nun könnte man nach dem Energiekonzept der Bun- (C) 
desregierung erwarten, dass diese sich mit Blick auf das 
Weißbuch Verkehr an die Spitze der Bewegung stellt und 
mit gutem Beispiel vorangeht. Stattdessen formuliert sie 
Vorbehalte zum Weißbuch und stellt Ziele und Maßnah- 
men des Weißbuchs infrage, beispielsweise dass bis 
2050 CCL-neutral in unseren Städten gefahren werden 
soll. Das sei dirigistisch. 

(Zuruf von der FDP: Ganz genau!) 

Ich frage mich, welche Umsetzungschancen dieses 
Weißbuch Verkehr haben soll, wenn das größte und wirt- 
schaftlich potenteste Land in Europa, nämlich Deutsch- 
land, beispielsweise über Staatssekretär Jan Mücke aus- 
richten lässt, das Weißbuch sei nicht unmittelbarer 
Handlungsleitfaden der Bundesregierung. 

Wie sieht es konkret mit der nationalen Ausformung 
aus? Was wurde schon zugesagt? Von Ankündigungs- 
minister Ramsauer hat man Anfang 2010 gehört: Wir 
legen ein umfassendes Energie- und Klimaschutzkon- 
zept für den Verkehrssektor vor. 

Fragt man nach, wann das vorliegen wird, heißt es 
lapidar in der Antwort, dass im Laufe des Jahres 2012, 
zwei Jahre nach der Ankündigung, etwas vorgelegt wird. 

Ich erinnere daran: 2013 sind Neuwahlen. Bis dahin 
wollen Sie etwas geschafft haben, Herr Minister. 

Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen. Denn 
gerade gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte zur 
Verkehrssicherheit geführt. Man kann dazu im Weißbuch 
Interessantes lesen. Darin heißt es, man wolle die Zahl 
der Verkehrstoten bis 2050 „auf nahe Null" senken. 

Das ist eine Vision Zero und damit etwas völlig ande- 
res als das, was uns gerade mit dem Entwurf eines natio- 
nalen Verkehrssicherheitskonzeptes vorgelegt wurde. 

Unter diesem Minister bleibt die Bundesrepublik hinter 
den im Weißbuch Verkehr formulierten Zielen zur Ver- 
kehrssicherheit zurück. 

Die zwei häufigsten Unfallursachen sind das Fahren 
mit nicht angepasster Geschwindigkeit und das Fahren 
unter Alkoholeinfluss. Was wird dagegen unternom- 
men? - Nichts. Es gibt weder ein einheitliches Tempo- 
limit noch die Null-Promille-Grenze für das Fahren. Im 
Weißbuch Verkehr ist formuliert, wohin es gehen könnte 
und müsste. 

Herr Minister, Sie sollten nicht nur etwas ankündigen, 
sondern das Weißbuch als Handlungsleitfaden für Ihre 
Politik nutzen. Schauen Sie regelmäßig hinein, und le- 
gen Sie entsprechende Anträge und Gesetzesvorhaben 
auf, um die Vorgaben dieses Weißbuchs umzusetzen. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Herr Kollege Kühn. - Jetzt spricht für 
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dirk Fischer. 

Bitte schön, Kollege Dirk Fischer. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 
Die gemeinschaftliche Verkehrspolitik der Europäischen 
Union hat dazu beigetragen, dass in den letzten 20 Jah- 
ren nach Öffnung des Binnenmarktes für Warentrans- 
porte und Bürger vieles einfacher geworden ist. Wir soll- 
ten unseren Bürgern immer, auch bei solchen Debatten, 
den positiven Nutzen der Europäischen Union vor Au- 
gen führen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Die heutige Debatte zeigt aber auch, dass es notwen- 
dig ist, bereits erreichte Ziele dieser gemeinschaftlichen 
Verkehrspolitik weiterzuentwickeln. Das Weißbuch Ver- 
kehr der Europäischen Kommission gibt hierfür wesent- 
liche Impulse, um das künftige Verkehrswachstum zu 
bewältigen, ohne dabei Klima- und Umweltschutzziele 
zu vernachlässigen. 

Ohne Abstriche unterstütze ich folgende Aussage der 
Europäischen Kommission: Die Einschränkung von Mo- 
bilität ist keine Option. - Das sollte immer wieder deut- 
lich unterstrichen werden. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Diese Aussage muss Grundlage jeder Verkehrspolitik 
sein - national wie europäisch. 

Für Europa, speziell für die exportorientierte deutsche 
Volkswirtschaft, müssen technische und rechtliche Hin- 
dernisse immer weiter abgebaut werden. Um dies zu ver- 
deutlichen, benutze ich ein ganz triviales Beispiel: Wel- 
chen Ladestecker braucht man in der Zukunft, wenn man 
mit dem Elektroauto von Deutschland nach Frankreich 
fahren will? Entscheidend ist, dass diese Dinge harmo- 
nisch europäisch geregelt werden. 

Die Wettbewerbsfähigkeit der wachsenden Mobili- 
täts- und Logistikbranche muss gestärkt werden. Das 
sorgt für wirtschaftlichen Erfolg und zukunftssichere Ar- 
beitsplätze gleichermaßen. Wichtig ist: Bei allen Maß- 
nahmen, die die europäische Politik ergreift, muss das 
Subsidiaritätsprinzip eingehalten werden. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Das gilt vor allem auch für den städtischen Verkehr, 
Stichwort „Citymaut“. Darüber sollten getrost die Bür- 
gerinnen und Bürger vor Ort und ihre Kommunalparla- 
mente entscheiden und nicht Brüssel. 

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!) 

Da treffen wir eine ganz klare Aussage. 

Der Ausbau der transeuropäischen Netze ist für das 
Zusammenwachsen Europas wichtig. Allerdings dürfen 
Investitionsmittel nicht allein auf grenzüberschreitende 
Korridore eines Kernnetzes konzentriert werden. Das 
Ziel der Europäischen Kommission, möglichst viel Ver- 
kehr auf Schiene oder Wasserstraßen zu verlagern, wird 
von uns unterstützt. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 


Allerdings bringen dirigistische und pauschale Vorgaben (C) 
über Entfernungen, Mengen und Zieldaten überhaupt 
nichts. 

(Zuruf von der FDP: Genau!) 

Die Kommission beantwortet nämlich nicht die zentrale 
Frage, wie der notwendige Schienenausbau finanziert 
werden soll, wenn Güterverkehr ab 300 Kilometern Ent- 
fernung auf die Schiene verlagert werden soll. Im Übri- 
gen gilt doch auch hier das Wirtschaftlichkeitsgebot. 
Solche Verkehre müssen wirtschaftlich sein, und der 
Markt muss sie akzeptieren. 

(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Die Unternehmen wollen das doch ma- 
chen!) 

Ich will bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen, dass 
Herr Mehdorn als Bahnchef früher dazu gesagt hat: Das 
rechnet sich erst ab 400 Kilometer. Der frühere SPD- 
Verkehrsminister Klimmt hat noch einen draufgesetzt 
und gesagt: In Wahrheit rechnet es sich erst ab 500 Kilo- 
meter. Also lasst bitte die Kirche im Dorf, und vergesst 
in diesem Zusammenhang nicht die Aspekte der Wirt- 
schaftlichkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Alle Verkehrsträger sind gleichwertig zu behandeln. 

Eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung von 
Verkehrsträgern lehnen wir ab. Das heißt auch: Es darf 
keine Diskriminierung des Lkw zugunsten der Schiene 
geben. 

Zum Thema Trennung von Netz und Betrieb im (D) 
Schienenverkehr will ich Folgendes sagen: Hätte ich ein 
weißes Blatt Papier vor mir liegen, würde ich darauf die 
eigentumsrechtliche Trennung von staatlicher Infra- 
struktur und Verkehrsbetrieben im Wettbewerb schrei- 
ben. Das entspricht meiner ordnungspolitischen Grund- 
überzeugung. 

(Torsten Staffeldt [FDP]: Sehr gut!) 

Aber ich habe dieses weiße Blatt Papier nicht vor mir 
liegen. 

(Oliver Luksic [FDP]: Wir hätten hier noch ei- 
nes!) 

Wir müssen uns daher mit den vorhandenen Strukturen 
auseinandersetzen. 

Derzeit kann ich mit dem Holdingmodell der DB AG 
leben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind. Ers- 
tens. Die Bundesnetzagentur muss in ihren Rechten wei- 
ter gestärkt werden. Sie muss auch das Recht haben, Be- 
scheide zu erlassen. Zweitens. Mit dem geplanten 
Eisenbahnregulierungsgesetz müssen weitere Grundla- 
gen für die Stärkung des Wettbewerbs gelegt werden. 
Drittens. Wir müssen das Urteil des Europäischen Ge- 
richtshofes im Vertragsverletzungsverfahren gegen 
Deutschland abwarten und gegebenenfalls darauf reagie- 
ren. 

Wettbewerb muss es auch - das wurde von einigen 
Rednern angesprochen - bei den Bodenabfertigungs- 
diensten auf den Flughäfen geben. Dafür hat die Rieht- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dirk Fischer (Hamburg) 

(A) linie der EU gesorgt. Was in Brüssel jetzt geplant wird, 
lehnen wir ab. Wir wollen keinen Wettbewerb zugunsten 
von Dumpinglöhnen und zulasten von Sicherheit und 
Qualität. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Manche Entwicklungen - wir alle in den Fraktionen 
haben mit den Betriebsräten der Flughäfen gesprochen - 
sind schon heute als eher unerfreulich zu bezeichnen. Wir 
wollen keine Verschlechterung und auch keine Verteue- 
rung von Leistungen für unsere Passagiere. Das Signal 
nach Brüssel lautet: Keine Überarbeitung der Boden- 
abfertigungsrichtlinie mit dem Ziel einer noch weiter ge- 
henden Marktöffnung, schon gar nicht in Form einer 
Verordnung. Wir fordern, die bestehenden Regelungen 
erst einmal europaweit umzusetzen, was in etlichen Mit- 
gliedstaaten der Europäischen Union noch nicht gesche- 
hen ist. 

Eine Zweckbindung verkehrsspezifischer Einnahmen 
für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, wie es die 
SPD in ihrem Antrag fordert, ist im Prinzip richtig, aber 
nur auf nationaler Ebene. Eine Regelung auf EU-Ebene 
würde die nationalen Befugnisse erheblich einschränken 
und den Bundestag und die anderen nationalen Parla- 
mente in ihrer Budgethoheit aushebeln. 

Alles in allem weist das Weißbuch der EU-Kommis- 
sion, wie ich denke, in die richtige Richtung. Darüber 
sind sich die Fraktionen wohl weitgehend einig. Es ist 
keine Frage, dass sich auch der Verkehrssektor den ak- 

(B) tuellen Herausforderungen der Politik stellen muss - zur 
Verbesserung von Qualität und Zuverlässigkeit des Ver- 
kehrssystems und der von diesem System angebotenen 
Dienstleistungen, zum Schutz von Klima und Umwelt, 
für praxisnahe Innovationen und natürlich auch für die 
Sicherheit im Verkehr. 

Einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zum 
Wohle unserer Bürger können und wollen wir weiterhin 
gemeinsam mit unseren Nachbarn verwirklichen. Des- 
wegen bitte ich um Zustimmung zum Antrag der Koali- 
tionsfraktionen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Dirk Fischer. - Wir sind damit 
am Ende dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- 
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und 
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/7679. Der Aus- 
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- 
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen 
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/7464 mit 
dem Titel „Weißbuch Verkehr - Auf dem Weg zu einer 
nachhaltigen und bezahlbaren Mobilität“. Wer stimmt 
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Fraktio- 
nen CDU/CSU und FDP. Gegenprobe! - Das sind die 
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Somit ist 
die Beschlussempfehlung angenommen. 


Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- (C) 
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa- 
che 17/7177 mit dem Titel „EU-Weißbuch Verkehr - 
Neuausrichtung der integrierten Verkehrspolitik in 
Deutschland und in der Europäischen Union nutzen“. 

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind 
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die 
Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die 
Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist 
angenommen. 

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- 
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des 
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- 
sache 17/5906 mit dem Titel „Weißbuch Verkehr für 
Trendwende der Verkehrspolitik in Deutschland und Eu- 
ropa nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- 
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Frak- 
tion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Das ist die 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das 
ist die Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist ange- 
nommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: 

Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), 
Wolfgang Neskovic, weiterer Abgeordneter und 
der Fraktion DIE LINKE 

Widerruf der gemäß § 8 des Parlamentsbetei- 
ligungsgesetzes erteilten Zustimmungen zu 
den Anträgen der Bundesregierung vom 
28. Januar 2011 und 23. März 2011 

Bundeswehr aus Afghanistan abziehen 

- Drucksache 17/7547 - 

Überweisungsvorschlag: 

Auswärtiger Ausschuss (f) 

Rechtsausschuss 

Verteidigungsausschuss 

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 
Entwicklung 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer 
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege 
Wolfgang Gehrcke. - Bitte schön, Kollege Wolfgang 
Gehrcke, Sie haben das Wort. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): 

Danke sehr, Herr Präsident. - Verehrte Kolleginnen 
und Kollegen! Ich finde es sehr bedrückend, in einer 
Situation über unseren Wunsch, den Krieg in Afghanis- 
tan beenden zu wollen, diskutieren zu müssen, in der 
weitere, neue Kriege drohen. Das Kriegsgetöse um den 
Iran signalisiert uns, dass Krieg immer mehr wieder zum 
Mittel der Politik geworden ist, was ich nicht akzeptie- 
ren will. Ich möchte, dass sich dieses Parlament für eine 
atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten einsetzt, damit 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16527 


Wolfgang Gehrcke 

(A) dem Kriegsgetöse entgegengetreten wird. Das halte ich 
für sehr wichtig. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Rainer Stinner 
[FDP]: Das steht aber nicht im Antrag!) 

- Wir können das gerne hineinschreiben. Wenn Sie ein- 
verstanden sind, dann beschließen wir das zusammen. 

Wir haben den Antrag auf der Grundlage des Parla- 
mentsbeteiligungsgesetzes eingebracht. Wir möchten, 
dass der Bundestag erstmalig von § 8 des Parlaments- 
beteiligungsgesetzes Gebrauch macht, von dem Recht, 
entsandte Truppen zurückzuholen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wir wollen, dass die Bundeswehr zurückgeholt wird, 
dass der Einsatz beendet wird. Ich will Ihnen die Gründe 
dafür vortragen. Der Abzug der Bundeswehr aus Afgha- 
nistan wäre ein deutliches Zeichen, dass der Krieg been- 
det werden soll. Jeder Tag, an dem der Krieg fortdauert, 
kostet Menschen Leben und Gesundheit und mindert die 
Chancen auf Frieden. Wir verlieren kostbare Zeit. Ohne 
den Abzug der ausländischen Truppen wird es in Afgha- 
nistan keinen Frieden geben. Bislang hat der Krieg zwi- 
schen 30 000 und 100 000 Menschen das Leben gekos- 
tet. Unser Antrag ist ein Antrag für das Leben. Das 
Parlament sollte endlich ein Signal für das Leben in Af- 
ghanistan aussenden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht 

(B) auch das Leben von Soldatinnen und Soldaten schützen. 
Wir wollen nicht, dass Soldaten, die der Bundestag nach 
Afghanistan geschickt hat, traumatisiert immer wieder 
den Krieg durchleben müssen. Wir wollen nicht, dass 
Soldatinnen und Soldaten durch diesen Krieg verroht 
werden. Ich fand es erschütternd, im Spiegel über einen 
deutschen Scharfschützen zu lesen, der unzufrieden war, 
weil er nicht zum Schuss gekommen ist. Er wird dort mit 
den Worten zitiert: „Das ist, als wenn du einen Flund 
scharfmachst und den nicht von der Leine lässt“. Ich 
fand es ebenso erschütternd, in der gleichen Ausgabe des 
Spiegel zu lesen, dass ein Soldat folgende Nachricht auf 
seinem Handy gespeichert hat: „Kämpfe fanatisch! Du 
bist ein Menschenjäger!“ Das mögen Einzelfälle sein, 
aber sie zeigen, wie der Krieg Menschen verroht. Dies 
sollten wir nicht fortsetzen. Wir sollten die Soldaten zu- 
rückholen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Der Abzug der Bundeswehr soll aus meiner Sicht und 
aus unserer Sicht dazu beitragen, dass das Geld der Steu- 
erzahler nicht mehr für den Krieg, sondern für Entwick- 
lung und Aufbau eingesetzt wird. Bislang haben diese 
zehn Jahre Krieg Deutschland 17 Milliarden Euro gekos- 
tet. Das sind pro Kopf der afghanischen Bürgerinnen 
und Bürger 3 800 Euro. Das durchschnittliche Einkom- 
men in Afghanistan beträgt 400 bis 450 Dollar pro Jahr. 
Wie viel Segensreiches könnte man in Afghanistan errei- 
chen, wenn man das Geld nicht für den Krieg vergeuden 
würde? Dem berühmten Satz: „Nichts ist gut in Afgha- 
nistan“, 


(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Der falsche Satz!) 

ist hinzuzufügen: Vieles kann besser werden, wenn die 
Gelder nicht mehr für den Krieg, sondern für den Frie- 
den eingesetzt werden. 

Ich will Ihnen sagen: Dieser Krieg wird nicht um De- 
mokratie und Menschenrechte willen geführt. Unsere 
Freiheit und unsere Sicherheit werden nicht am Hindu- 
kusch verteidigt. Auch bei diesem Krieg geht es um geo- 
strategischen Einfluss und um Naturressourcen. Dieser 
Krieg ist auch im Interesse der deutschen Rüstungsin- 
dustrie, die neue Waffen in Afghanistan testet und ihre 
Notwendigkeit unter Beweis stellen muss. Ich möchte 
nicht, dass wir der deutschen Rüstungsindustrie weiter 
den Gefallen tun, Krieg zu führen. Deswegen erwarte 
ich, dass der Deutsche Bundestag unserem Antrag, den 
Einsatz zu beenden, zustimmt und von seinem Recht Ge- 
brauch macht, die Bundeswehr sofort zurückzuholen. 
Das wäre eine gute und vernünftige Entscheidung des 
Bundestages. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt für die Frak- 
tion der CDU/CSU unser Kollege Robert Hochbaum. 
Bitte schön, Kollege Hochbaum. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Robert Hochbaum (CDU/CSU): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Zu Beginn meiner Rede möchte ich es nicht 
versäumen, zuerst einmal all unseren Soldaten, den Poli- 
zisten und natürlich auch allen zivilen Akteuren für ihren 
Dienst in Afghanistan zu danken. Ich glaube, ich darf sa- 
gen: Sie können sicher sein, dass wir mit unseren Gedan- 
ken immer auch bei Ihnen sind. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Wenn ich mich hier umschaue, bin ich mir relativ si- 
cher, dass fast alle Anwesenden einer Meinung sind: Un- 
sere Soldatinnen und Soldaten gehören so früh als mög- 
lich aus Afghanistan abgezogen. Doch die Geister 
scheiden sich, wie der vorliegende Antrag der Linken 
zeigt, bei der Frage, was „so früh als möglich“ bedeutet. 
Für die Mehrheit dieses Hauses bedeutet dies: ein ver- 
antwortungsvoller Abzug mit dem klaren Bewusstsein, 
die Sicherheit unseres Landes nicht zu gefährden. Die 
anderen, nämlich Sie, meine Damen und Herren von den 
Linken, handeln meiner Meinung nach abermals verant- 
wortungslos und leichtfertig. Sie gefährden sogar die 
Menschen bei uns hier in Deutschland. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Wie das denn? - Zuruf von der 
LINKEN: Wie das?) 

- Hören Sie gut zu. 



16528 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Robert Hochbaum 

Warum stehen wir für Verantwortung und verantwort- 
liches Handeln in Afghanistan? Die Sicherheit der Bür- 
ger in unserem Lande steht dabei auf jeden Fall an erster 
Stelle. Das heißt, von Afghanistan darf auch in Zukunft, 
auch nach dem Abzug unserer Truppen, keine Gefähr- 
dung für unsere Bevölkerung mehr ausgehen. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Kollege Hochbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage 
unseres Kollegen Christian Ströbele? 

Robert Hochbaum (CDU/CSU): 

Darauf freue ich mich, Herr Ströbele. Sehr gerne. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Bitte schön, Kollege Ströbele. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

Danke, Herr Kollege. - Können Sie mir erklären, wie 
Deutschland und deutsche Bürger in Deutschland - nicht 
diejenigen, die in Afghanistan Krieg führen oder aus an- 
derem Grunde dort sind - durch Afghanen bzw. durch 
den Krieg in Afghanistan konkret gefährdet werden, vor 
allen Dingen dann, wenn deutsche Truppen nicht mehr 
in Afghanistan sein sollten? Es hat nach meiner Kenntnis 
noch nie eine Drohung von Taliban oder anderen Auf- 
ständischen in Afghanistan gegenüber dem deutschen 
Volk gegeben, sondern es wurde immer nur die Forde- 
rung „Abzug aus Afghanistan!“ erhoben. 

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 

Robert Hochbaum (CDU/CSU): 

Lieber Kollege Ströbele, wenn Sie einen Augenblick 
länger Geduld gehabt hätten, hätte ich es Ihnen erklärt. 
Aber ich erkläre es Ihnen auch gerne schon jetzt. 

Erinnern Sie sich nur an die Bilder von Terrorausbil- 
dungscamps in Afghanistan - Sie können sich daran 
vielleicht nicht mehr erinnern, ich mich aber sehr gut 
auf denen wir vor vielen Jahren gesehen haben, wie vor 
Ort in Afghanistan junge Menschen für den weltweiten 
Terrorismus ausgebildet werden. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Aber nicht von Taliban!) 

Zum Ziel des weltweiten Terrorismus gehören auch Eu- 
ropa und Deutschland. Es war nur eine Frage der Zeit, 
bis die Menschen, die dort mit Hasstiraden ausgebildet 
wurden, 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Von Taliban?) 

auf den Rest der Welt angesetzt wurden, auch um hier in 
Deutschland ihre Aktivitäten zu entfalten. Zum Glück 
konnten einige dieser Aktivitäten im Vorfeld erkannt und 
verhindert werden. Insofern wäre nicht von den Afgha- 
nen direkt, sondern von anderen Leuten, die eventuell in 
Afghanistan tätig waren 


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) 

GRÜNEN]: Die sind aber nicht nur da!) 

- wir alle kennen sie -, eine direkte Gefährdung der Be- 
völkerung in Deutschland ausgegangen. Darum wäre es 
sträflich, diesen Zustand, der ein Rückschritt wäre, wie- 
der zuzulassen, alle Anstrengungen als vergeblich einzu- 
ordnen - wir hatten eine solche Situation in Afghanistan 
schon einmal - und alle Opfer, die dort zu beklagen wa- 
ren, für umsonst zu erklären. Nein, wir wollen kein Land 
mehr, das den Terrorismus in die Welt und auch nach 
Deutschland exportiert. Wir wollen keine Gefährdung 
der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Herr 
Ströbele. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Ich sagte bereits: Manche erinnern sich noch an die 
Bilder von Terrorausbildungscamps und Wüstenfestun- 
gen, die nicht zum Spaß gebaut wurden, sondern dem 
Zweck dienten, den internationalen Terrorismus zu un- 
terstützen. Darum stehen wir zu der Aussage: Erst wenn 
die Sicherheitslage es zulässt und die Nachhaltigkeit des 
Übergangsprozesses, Herr Ströbele, nicht gefährdet ist, 
werden wir den vertretbaren Spielraum zur Truppenre- 
duzierung nutzen. 

Präsident Karzai hat für sein Land das Ziel definiert, 
bis Ende 2014 die volle Souveränität zu übernehmen. 

Die internationale Schutztruppe wird darum bis 2014 
ihre Truppenstärke zurückführen. Das ist unser gemein- 
sam vereinbartes Ziel, und daran werden wir uns halten. 

Die Fraktion der Linken verweist in ihrem Antrag auf (D) 
ein Zitat des Sonderbotschafters Steiner aus dem Tages- 
spiegel, „dass es in Afghanistan keine militärische Lö- 
sung geben kann.“ Das ist richtig. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) 


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Das 
machen wir auch!) 

Er sagte aber ebenfalls: Ohne die militärische Kompo- 
nente ist auch eine sichere Entwicklung zurzeit nicht 
möglich. 

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Aha!) 

Er sagte auch, dass es sträflich und unverantwortbar sei, 
die Truppen sofort abzuziehen. 

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Hört! Hört!) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn 
Sie schon jemanden für sich sprechen lassen, dann soll- 
ten Sie seine gesamte Auffassung wiedergeben. Das 
würde Ihren Antrag aber ad absurdum führen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Natürlich wissen auch wir, dass es in Afghanistan 
keine rein militärische Lösung geben kann. Darum ist 
die militärische Komponente nur ein Teil des Konzeptes 
der vernetzten Sicherheit; denn kein Akteur kann Frie- 
den und Sicherheit in diesem Land allein gewährleisten. 
Nur durch das Zusammenspiel aller Instrumente können 


Dem kann man nur zustimmen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16529 


Robert Hochbaum 

(A) der Erfolg und damit die Stabilität des Landes erreicht 
werden. 

Verantwortungsvolles Handeln zeichnet sich auch 
durch Verlässlichkeit und Langfristigkeit aus. Afghanis- 
tan wird auch über 2014 hinaus deutsche Unterstützung 
brauchen und - da bin ich mir sicher - auch bekommen. 
Auch wenn die Kampftruppen das Land verlassen ha- 
ben, müssen die Ausbildung der Sicherheitskräfte und 
natürlich auch - das ist ganz wichtig - der zivile Aufbau 
weitergehen. Wir setzen in diesem Zusammenhang sehr 
auf die Afghanistan-Konferenz in Bonn am 5. Dezember 
2011. Dort gilt es, die Weichen für ein sicheres und sta- 
biles Afghanistan zu stellen. 

Im Fortschrittsbericht Afghanistan vom Juli dieses 
Jahres wird von einer Generationenaufgabe gesprochen, 
die in Afghanistan zu leisten ist. Die wirtschaftliche und 
soziale Transformation ist bei noch immer schwieriger 
Sicherheitslage nur mit internationaler Unterstützung zu 
meistern. 

Es tut mir leid, aber nun noch einmal zu Ihrem An- 
trag, meine Damen und Herren der Linken. Mir ganz 
persönlich kommt es so vor, als wollten Sie, wenn Ihre 
Ziele erreicht würden, zulassen, dass dieses Land wieder 
- ich habe es Herrn Ströbele erläutert - in den Terror zu- 
rückfällt, als wollten Sie der afghanischen Bevölkerung 
jede Zukunftsperspektive nehmen und als wollten Sie 
die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger in 
Deutschland in der Zukunft tatsächlich erneut gefährden. 

Eine große Mehrheit der verantwortungsvollen Politi- 
(ß) ker dieses Hauses will das nicht. Sie stehen für Verant- 
wortung für die afghanische Bevölkerung und für Si- 
cherheit für die Menschen in unserem Land. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das merkt 
man ja!) 

Darum ist der Abzug unserer Truppen zwar bereits am 
Horizont zu sehen - wir wissen: 2014 aber er erfolgt 
erst dann, wenn er verantwortbar ist und wenn von Af- 
ghanistan keine Gefährdung mehr für die Menschen in 
unserem Land ausgeht. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Hochbaum. - Jetzt spricht für 
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege 
Johannes Pflug. Bitte schön, Kollege Pflug. 

(Beifall bei der SPD) 

Johannes Pflug (SPD): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Seit Beginn des Einsatzes unserer Bundeswehr 
in Afghanistan, also seit fast genau zehn Jahren, wieder- 
holt die Fraktion der Linkspartei fast gebetsmühlenartig 
Jahr um Jahr eine Forderung: Sofort raus aus Afghanis- 
tan, Bundeswehr raus aus Afghanistan. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!) 


Kollege Gehrcke, auch Ihre Argumente sind im 
Grunde genommen stets dieselben, 

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, weil sie 
richtig sind!) 

nämlich, militärisch löse man keine Konflikte, 

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Genau!) 
die Sicherheitslage verschlechtere sich, 

(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE 
LINKE]) 

die Bevölkerung sei für den sofortigen Abzug, kurz ge- 
sagt: der Einsatz in Afghanistan sei gescheitert, ohne et- 
was erreicht zu haben. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr rich- 
tig erkannt!) 

- Nun bestätigen Sie das ausdrücklich. 

Wenn Sie genau auf Ihre Worte achten würden, dann 
würden Sie wahrscheinlich zu derselben Feststellung 
kommen: Sie legen ein Glaubensbekenntnis ab. Damit 
werden Sie der aktuellen Situation in Afghanistan aber 
nicht gerecht. 

(Beifall der Abg. Dr. Reinhard Brandl [CDU/ 
CSU] und Uta Zapf [SPD] - Karin Binder 
[DIE LINKE]: Das, was Sie ablegen, sind 
auch Glaubensbekenntnisse!) 

Auf Ihrem Parteitag haben Sie, meine sehr verehrten 
Damen und Herren von den Linken, ein Parteiprogramm 
beschlossen, in dem Sie die internationale Solidarität be- 
tonen. Aus Solidarität mit dem afghanischen Volk for- 
dern Sie nun in Ihrem Antrag das unverzügliche Ende 
des Bundeswehreinsatzes 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) 

und unausgesprochen gleichzeitig natürlich auch den 
Abzug der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!) 

- Sie bestätigen das. - Darüber hinaus haben Sie auf Ih- 
rem Parteitag auch noch das Ende der Unterstützung 
beim Aufbau des afghanischen Militärs und der Polizei 
gefordert. Die Frage lautet nun: Was würde diese Art 
von Solidarität für die Menschen in Afghanistan bedeu- 
ten? Das ist die konkrete Frage. Es geht nicht um Glau- 
bensbekenntnisse. 

(Karin Binder [DIE LINKE]: Aufbau einer 
Zivilgesellschaft!) 

Trotz der Erfolge bei der Ausbildung sind die afgha- 
nischen Sicherheitskräfte ohne Unterstützung der inter- 
nationalen Truppen noch nicht in der Lage, die Sicher- 
heit in Gesamtafghanistan zu gewährleisten, und ich 
gebe gerne zu: Wir wissen nicht, wann sie es sein wer- 
den. Wie immer man diese Sicherheitslage auch beur- 
teilt: Sie würde sich auf jeden Fall noch einmal erheblich 
verschlechtern. Mehr noch: Ohne die finanzielle Unter- 
stützung der internationalen Gemeinschaft würde sich 
die afghanische Armee entlang ihrer ethnischen Grenzen 



16530 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Johannes Pflug 

in kürzester Zeit auflösen, und der nächste Bürgerkrieg 
in Afghanistan wäre unausweichlich. 

Dies trat im Jahr 1992 genau so ein, als Moskau seine 
Unterstützung für die afghanischen Sicherheitskräfte 
einstellte. Aber diese Lektion, meine sehr verehrten Da- 
men und Herren von der Linken, weigern Sie sich zur 
Kenntnis zu nehmen. Wenn internationale Truppen und 
afghanische Sicherheitskräfte ausfallen: Wer soll dann 
Ihrer Meinung nach die Afghanen schützen? 

An die Stelle von gegenwärtig zweifellos prekärer Si- 
cherheit würde ein vollständiges Machtvakuum treten, 
das Kriegsherren, lokale Machthaber, Drogenbarone und 
letztendlich auch ausländische Staaten nur allzu gern fül- 
len würden. Die Taliban würden zumindest im Süden 
und Osten des Landes wieder die Macht übernehmen 
und Vergeltung an denjenigen üben, die sich im Ver- 
trauen auf die internationale Gemeinschaft für ein mo- 
dernes und stabiles Afghanistan engagiert haben. Wer ist 
das? Das sind Lehrer, Frauenrechtler, Journalisten; das 
sind Eltern, die ihren Töchtern eine gute Ausbildung er- 
möglichen wollten, um nur einige zu nennen. Mehr 
Flucht und Gewalt sowie die Zerstörung der bescheide- 
nen bisherigen Fortschritte, insbesondere im Bereich des 
Bildungswesens und der medizinischen Versorgung, wä- 
ren das Ergebnis. 

Richtig ist, dass viele Dinge in Afghanistan nicht zum 
Besten stehen. Aber am schlimmsten für das Land wäre 
zweifellos ein unredlicher, überstürzter Abzug, wie Sie 
ihn fordern. Dies wurde heute Morgen bei einem Ge- 
spräch mit Vertretern von NGOs, die in Afghanistan tä- 
tig sind, erneut deutlich. 

Die Linke spricht vom hehren Ziel der internationalen 
Solidarität, betreibt aber eine Politik des Sich-Heraus- 
haltens. Auch die kritische öffentliche Meinung ist da 
bereits weiter als Sie. Sie verweisen auf Umfragen, nach 
denen - das stimmt - 66 Prozent der Deutschen einen 
sofortigen Abzug der Bundeswehr wünschen. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Schon lange!) 

Stellt man allerdings den Deutschen konkret die Frage: 
„Meinen Sie sofortigen Abzug oder Abzug nach ange- 
messenem Abschluss der Mission?“, dann ist das Ergeb- 
nis: Es befürworten mehr als 50 Prozent der Bevölke- 
rung den Abzug in Verantwortung, also nicht den 
sofortigen Abzug. Ihre Politik des „Ohne uns“ repräsen- 
tiert also keinesfalls eine Mehrheit der Menschen in die- 
sem Land. 

Sie sollten nicht Jahr für Jahr dieselben Forderungen 
herunterbeten, die nicht weniger Gewalt, aber weniger 
Sicherheit, weniger Entwicklung und weniger Souverä- 
nität für Afghanistan bedeuten. Wir laden Sie ein, sich 
konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Es gibt mit dem 
Jahr 2014 - das ist die Antwort auf Ihre Frage - nun eine 
Perspektive für den endgültigen Abzug der deutschen 
Kampftruppen aus Afghanistan. Allerdings wird die 
Bundesregierung bis dahin noch viele Fragen zu beant- 
worten haben, auch hier vor dem Deutschen Bundestag, 
der bislang über die Pläne der Regierung entweder be- 


wusst oder wegen Unvermögens im Dunkeln gelassen (C) 
wurde. 

Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmidt, die 
SPD-Fraktion fordert Sie und das Verteidigungsministe- 
rium auf: Legen Sie endlich dar, wie Sie den Abzug un- 
serer Bundeswehr aus Afghanistan zeitlich und in wel- 
cher Größenordnung planen. Wenn sich die Sicherheits- 
lage in Afghanistan begonnen hat, zu stabilisieren, wie 
es von Ihrem Hause gesagt wird: Wieso war dann Ihrer 
Meinung nach ein Truppenabzug im Jahre 2011 nicht 
möglich? Welche Fortschritte gab es bei der Aufstellung 
der afghanischen Sicherheitskräfte? Planen Sie, auch 
über 2014 hinaus mit militärischen Ausbildern und Bera- 
tern in Afghanistan präsent zu sein? Und: Finden eine 
Konsultation und eine Koordination mit unseren Verbün- 
deten, allen voran den USA, über unseren Abzug statt? 

In ihrem Antrag verweist die Linkspartei auf einen 
Allgemeinplatz, der hier von jedem geteilt wird. Es ist 
selbstverständlich richtig: Militärisch ist der Konflikt in 
Afghanistan nicht zu lösen. Aber das ist auch keine Al- 
ternative. Beides muss praktiziert werden. Gerade des- 
halb sind politische Instrumente für die Lösung des Kon- 
flikts umso bedeutsamer. Aber auch hier ist die bisherige 
Bilanz der Regierung relativ ernüchternd. 

Frau Staatsministerin Pieper - ich hatte sie vorhin ge- 
sehen -, wie sehen die Planungen, die Forderungen und 
Initiativen des Auswärtigen Amtes aus, um zu verhin- 
dern, dass die Konferenz in Bonn im Dezember dieses 
Jahres zu einem reinen Showereignis verkommt? Wie 
wollen Sie sicherstellen, dass die afghanische Opposi- 
tion und Zivilgesellschaft ausreichend in Bonn vertreten , 
sein werden? Was haben Sie auf der Konferenz in Istan- 
bul und im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im 
UN-Sicherheitsrat bisher erreicht, um die Nachbarn Af- 
ghanistans konstruktiv in den Stabilisierungsprozess ein- 
zubinden? Auch in dieser Beziehung hatten Sie bisher 
im Bundestag nichts vorzuweisen. Man hört überhaupt 
nichts über die Konferenz in Istanbul. 

Frau Staatsministerin Pieper, erklären Sie dem Deut- 
schen Bundestag bitte, ob die Voraussetzungen für einen 
Abzug unserer Bundeswehr überhaupt gegeben sind. 
Verläuft die Übergabe von Provinzen und Städten an die 
Afghanen planmäßig? Sind diese in der Lage, diese Ge- 
biete zu halten und für die Sicherheit der Menschen zu 
sorgen? Welche Fortschritte macht der politische Ver- 
söhnungs- und Friedensprozess in Afghanistan? Und vor 
allem: Wie hat das militärische Engagement Deutsch- 
lands im letzten Jahr dazu beitragen können, diese Pro- 
zesse zu fördern? 

Die SPD-Fraktion hat sich bisher immer zu einem 
deutschen Engagement in Afghanistan bekannt. Diese 
Zustimmung kann und wird allerdings nicht ohne Klä- 
rung der genannten und anderer offener Punkte durch die 
Bundesregierung erfolgen. 

Wir fordern Sie daher auf, dem Deutschen Bundestag 
endlich über Ihre Pläne für den Einsatz unserer Soldaten 
in Afghanistan Rede und Antwort zu stehen. 

Danke. 

(Beifall bei der SPD) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16531 


Vizepräsident Eduard Oswald: 

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege 
Wolfgang Gehrcke. 

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): 

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Ich habe mich zu 
einer Kurzintervention gemeldet, weil ich vom Kollegen 
Pflug direkt angesprochen worden bin. Ich finde, wenn 
man sich die Sache nüchtern vor Augen führt, muss die 
erste Feststellung sein - deswegen haben wir Sonderbot- 
schafter Steiner mit seiner Aussage bemüht, dass der 
Konflikt nicht militärisch zu lösen ist Wenn man in 
der Sackgasse ist, dann kann es kein Weiter-so oder Vor- 
wärts geben; 

(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das gibt es 
ja auch nicht!) 

dann muss man zurückgehen, das heißt die Truppen zu- 
rückziehen. Das hat seine Logik. 


mich zu Begeisterungsstürmen hin. Machen Sie weiter (C) 
so! Es ist ein gutes Programm. Besonders gut sind die 
Vorschläge zur internationalen Politik. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Gehrcke. - Jetzt hat als Nächs- 
ter in unserer Debatte unser Kollege Dr. Djir-Sarai das 
Wort. Bitte schön, Herr Kollege. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber 
Kollege Gehrcke, auch wenn Ihr Antrag durchaus einige 
richtige Aspekte beinhaltet, dürfen wir an den Realitäten 
in dieser Region und vor allem an den Realitäten in Af- 
ghanistan nicht vorbeireden. 


(Beifall bei der LINKEN) 

Zweitens ist festzustellen: Weil sehr viel Widerstand 
in Afghanistan daher rührt, dass die Afghaninnen und 
Afghanen ihr Land als von fremden Truppen besetzt be- 
trachten, wird der Verbleib von fremden Truppen den 
Widerstand verstärken, und es wird nicht zu einer friedli- 
chen Lösung kommen. Die Besetzung des Landes ist ein 
Argument, das die Taliban ständig anführen. Ich sage 
sehr zugespitzt: Mit Ihrer Politik stärken Sie die Taliban, 
statt sie zu schwächen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Der dritte Punkt ist, dass wir endlich darüber nach- 
denken müssen, dass das Volk von Afghanistan Selbst- 
bestimmung verdient hat. Das Volk von Afghanistan 
muss selber entscheiden, was wirtschaftlich gemacht 
wird und was in seinem Land passieren soll. Sie bevor- 
munden, um es freundlich zu sagen, das Volk von Af- 
ghanistan. Das wird nicht zur Lösung des Konfliktes 
führen. 


(Beifall bei der LINKEN) 

Meine Solidarität heißt auch: Die Menschen in Afgha- 
nistan müssen endlich selber entscheiden. Es geht nicht 
an, dass mit Petersberg II in Bonn wieder über sie ent- 
schieden wird. 


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 


Es ist völlig richtig, Herr Kollege Gehrcke: Es wird in 
Afghanistan keine militärische Lösung geben. Das ist 
sonnenklar. Darin besteht auch Einigkeit. 


Es ist ebenfalls richtig: Der Westen hat sich speziell in 
dieser Region in der Vergangenheit häufig Illusionen 
hingegeben. Ich bestreite nicht: Auch Deutschland hatte 
sich unter zum Teil falschen Vorstellungen des Einsatzes 
und seiner Ziele 2001 mit der Bundeswehr in diesen Ein- 
satz begeben. Daher mussten die Erwartungen genauso 
wie übrigens auch die Einsatzstrategie selbst im Laufe 
der Zeit überdacht und angepasst werden. 


(D) 


Ich bin allerdings davon überzeugt, dass wir heute die 
richtigen Ziele formuliert haben und die richtige Strate- 
gie verfolgen. Wir verfolgen heute realistische Ziele 
- das ist der wesentliche Unterschied zu früher hinrei- 
chende Stabilität im Land und Gewährleistung von Men- 
schenrechten, begleitet von einer Strategie der Versöh- 
nung und Aussöhnung im ganzen Land. 


Die aktuelle Strategie trägt zu einer Verbesserung der 
Situation im Land bei, sodass eine Perspektive für den 
Abzug der militärischen Hilfe in Aussicht bleibt. Unge- 
duld zahlt sich an dieser Stelle nicht aus, Herr Kollege. 
Darüber müssen wir uns Gedanken machen. 


Das sind die Probleme, denen man sich stellen muss. 
Das machen wir in unserem Antrag. 

Zwei Punkte haben mich begeistert. Das kann ich nur 
bestätigen, Kollege Pflug. Wir sagen seit zehn Jahren im 
Bundestag: Schluss mit dem Krieg! Zieht die Bundes- 
wehr zurück! Ich bin stolz darauf, dass wir von Anfang 
an diese Position gehabt und sie durchgehalten haben - 
im Unterschied zu anderen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Es waren bestimmte Regierungen, die diesen unsinnigen 
Kurs begonnen haben. 

Der zweite Punkt ist: Dass alle Kolleginnen und Kol- 
legen des Bundestags unser Parteiprogramm lesen, reißt 


Bei den Entscheidungen über die Zukunft des deut- 
schen militärischen Engagements in Afghanistan geht es 
nicht um Tage, sondern es geht um wichtige Weichen- 
stellungen für die Zukunft. Entscheidend ist die Frage, 
wie das Afghanistan von morgen aussehen kann. Was im 
Kem nötig ist - da stimme ich Ihnen auch zu -, ist eine 
politische Lösung, eine Versöhnung der Gegner. Dazu 
gibt es keine Alternative. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Wichtig ist bei diesem Friedensprozess, dass alle rele- 
vanten Gruppen einbezogen werden und dass nicht Teile 
der afghanischen Gesellschaft außen vor bleiben. Wie 
ich oft gehört habe, sagen dies sogar Afghanen selbst. 



16532 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Bijan Djir-Sarai 

(A) Die Frage des inneren Aussöhnungsprozesses muss al- 
lerdings zuerst von den Afghanen selbst vorangetrieben 
werden; denn Frieden in Afghanistan kann nur zwischen 
den Parteien und Gruppierungen vor Ort geschlossen 
werden. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Diesem Ziel dient übrigens auch die Bonner Afgha- 
nistan-Konferenz im Dezember. Herr Kollege Pflug, das 
ist keine Showveranstaltung. Deutschland ist nicht nur 
Gastgeber dieser Konferenz, sondern hat auch eine Füh- 
rungsrolle in Afghanistan. Die Konferenz ist insofern 
besonders, da sie von afghanischer Seite als Konferenz 
mit einer strategischen Bedeutung gesehen wird, eine 
Konferenz, welche die Zukunft Afghanistans massiv be- 
einflussen wird. Deshalb übergeben wir nach der klaren 
roten Linie unserer Strategie - die übrigens nicht als ge- 
scheitert zu diffamieren ist - schrittweise die Verantwor- 
tung an die afghanischen Sicherheitskräfte - in guter, 
vertrauensvoller Arbeit mit unseren ISAF-Partnern. 


Uns allen hier im Haus ist doch klar, dass es nicht um 
einen direkten Abzug geht. Es ist aber auch klar, dass 
aus Afghanistan keine Hochburg der Demokratie werden 
wird. Es geht darum, diesen Übergangsprozess verant- 
wortungsvoll und ordentlich abzuschließen. Das ist 
heute die Sachlage. 


(B) 


Genau darum wird es auch in Bonn gehen: die Über- 
gabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen vo- 
ranzubringen, den inneren Aussöhnungsprozess zu un- 
terstützen und dem Land eine Perspektive für die Zeit 
nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen 
2014 aufzuzeigen. Das sind die Hauptziele, die in Bonn 
diskutiert werden. Das ist keine Showveranstaltung. 


In den kommenden Wochen wird uns ein neuer Fort- 
schrittsbericht für Afghanistan vorliegen. Kurz darauf 
werden wir hier im Deutschen Bundestag über eine 
Mandatsverlängerung debattieren. In dieser Debatte 
wird klar zum Ausdruck kommen, dass wir eine kon- 
krete Abzugsperspektive haben und haben müssen. Da- 
bei darf es allerdings keine Gefährdung von allem bisher 
Erreichten geben. Dabei darf es auch keine Gefährdung 
für unsere Soldaten in Afghanistan geben. 


In dem neuen Mandat wird dann auch die Richtung 
für den Abzug der deutschen Soldaten erkennbar sein. 
Denn klar und möglich ist: Wir wollen bis Ende 2014 die 
Verantwortung für die Sicherheit vollständig an Afgha- 
nistan übergeben und die Kampftruppen abziehen. Das 
ist international in Lissabon so vereinbart worden und 
auch von Präsident Karzai so bestätigt worden. Der 
Fahrplan steht. Das sind realistische Ziele, für deren Er- 
reichung wir in den nächsten Wochen und Monaten hart 
arbeiten müssen. Realistisch sind für Afghanistan: eine 
ausreichend gute Regierungsführung, die Wahrung der 
fundamentalen Rechte und keine neue Gefährdung unse- 
rer Sicherheit hier zu Hause. 


Ich traf vor einigen Tagen hier im Deutschen Bundes- 
tag eine Gruppe von afghanischen Frauenrechtlerinnen. 
Diese haben bestätigt, dass allein auf diesem Gebiet 


enorme Erfolge stattgefunden haben und dass diese Er- (C) 
folge mit einem Schlag vernichtet würden, wenn wir un- 
sere Truppen abziehen würden; darüber müssen wir uns 
Gedanken machen. Das ist nur ein Beispiel von vielen. 

In Afghanistan entwickelt sich gerade eine kraftvolle Zi- 
vilgesellschaft. Ein kopfloser Abzug unserer Soldaten 
würde diese Erfolge vernichten und wäre für viele Men- 
schen vor Ort eine Katastrophe. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Alle diese Verbesserungen wären auf einen Schlag 
hinfällig, wenn wir planlos und ohne Verantwortung das 
Land verließen. Deshalb steht Deutschland auch in Zu- 
kunft an der Seite der afghanischen Bevölkerung. Auch 
nach dem Abzug der militärischen Hilfe wird sich 
Deutschland weiter intensiv am zivilen Wiederaufbau in 
Afghanistan beteiligen. Statt hier mit wüsten Abzugsplä- 
nen um uns zu werfen, sollten wir daher lieber erklären, 
wie wir die Zivilgesellschaft von morgen in Afghanistan 
konkret unterstützen können. Wir sollten die Botschaft 
an unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten vor Ort 
senden, dass wir Anerkennung zollen: Anerkennung für 
diese schwere Aufgabe, Anerkennung für diesen guten 
Job, den sie dort tagtäglich unter harten und gefährlichen 
Bedingungen leisten. 

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Dr. Djir-Sarai. - Jetzt spricht für die 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Hans- (D) 
Christan Ströbele. Bitte schön, Kollege Ströbele. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 
zehn Jahren führen wir mit unserer Parlamentsarmee in 
Afghanistan Krieg. Seit vier, fünf Jahren führen wir ihn 
mit immer mehr Soldaten und immer schrecklicher. Das 
Ergebnis dieses Krieges ist bisher desaströs: Zehntau- 
sende von Menschen sind getötet worden, eine mehrfa- 
che Zahl von Menschen ist in Afghanistan Opfer dieses 
Krieges, verletzt und zu Krüppeln geworden. Trotz im- 
mer neuer Truppenverstärkungen und einer Verschär- 
fung des Krieges ist die Sicherheitssituation für die Be- 
völkerung in Afghanistan jedes Jahr schlechter geworden. 

So schlecht wie derzeit war sie noch nie. 

Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir können 
nicht einfach sagen: „Wir machen weiter so“, sondern 
wir müssen neue Wege gehen. Für diese neuen Wege 
gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg. 

Es kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens 
drei Jahre weiter“, sondern es muss heißen: Es muss eine 
Kehrtwendung von dem Einsatz in Afghanistan hin zur 
Beendigung des Krieges stattfmden, und zwar sofort. 

- In diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke aus- 
drücklich recht. Der Krieg muss beendet werden. Im 
letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den USA 
1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezial- 
kräften durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16533 


Hans-Christian Ströbele 

(A) getötet worden sind und durch die unendlich viel Leid 
angerichtet worden ist. Das kann nicht sein. Wenn Sie 
das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher 
Angriffe in einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass 
auf der anderen Seite nichts passiert. Diese Angriffe füh- 
ren vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges. Sie füh- 
ren dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass 
sich immer mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil 
sie Vergeltung üben wollen, dem Krieg der Aufständi- 
schen gegen die NATO anschließen. Deshalb ist ein 
neuer Weg erforderlich. 

Nun stimme ich dem Antrag der Linken trotzdem 
nicht zu. Ich glaube, dass die immer gleiche Wiederho- 
lung in dem Antrag, sofort alle Truppen aus Afghanistan 
abzuziehen, falsch ist. Dass das funktioniert, lieber Kol- 
lege Gehrcke, glaubt ihr selber nicht. Das ist nicht mög- 
lich. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Das ist im Augenblick auch nicht die erste Priorität. Die 
erste Priorität muss sein, den Krieg zu beenden. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, eben!) 

Das heißt, man muss morgen erklären, dass keine sol- 
chen Offensivmaßnahmen und keine offensiven Groß- 
operationen mehr stattfinden; stattdessen fangen wir 
zum Zeichen der Versöhnung mit dem Abzug an. Wir 
sollten aber nicht das machen, was Herr Westerwelle 
jetzt offenbar vorhat. Noch vor einem Jahr hat er hier im 

(B) Deutschen Bundestag erklärt, Ende des Jahres 2011 wür- 
den die ersten deutschen Truppen aus Afghanistan abge- 
zogen. Davon ist keine Rede mehr. In diesem Jahr wer- 
den keine Truppen abgezogen; man vertröstet uns 
vielmehr auf das nächste Jahr. Das ist der falsche Weg. 

Wir müssen Zeichen setzen, und wir müssen nach der 
Erklärung eines Waffenstillstandes deutlich auf die Tali- 
ban zugehen und sie in Verhandlungen einbinden. Sie 
sind dazu bereit. Ich war im September in Afghanistan 
und habe das von vielen dort gehört, nicht nur von ehe- 
maligen Mitgliedern der Regierung der Taliban, sondern 
auch von vielen anderen. Es kann allerdings nicht sein, 
dass die Menschen, die in Verhandlungen mit der Regie- 
rung Karzai und den Alliierten eintreten, anschließend in 
ihrer Wohnung von Spezialkräften der USA aufgesucht, 
aus ihren Wohnungen herausgeholt, an die Wand gestellt 
und ermordet werden, wie es in Afghanistan stattgefun- 
den hat. Das führt nicht zum Frieden. Die Verhandlun- 
gen müssen vielmehr von Sicherheitsgarantien für alle 
diejenigen begleitet sein, die verhandlungsbereit sind 
und in Verhandlungen eintreten. Das ist der Weg aus der 
Misere. Dieser Weg muss beschritten werden, und zwar 
nicht erst in drei Jahren oder nächstes Jahr, sondern ab 
diesem Jahr, jetzt sofort. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Zu einer Kurzintervention hat unser Kollege 
Dr. Rainer Stinner das Wort. 


Dr. Rainer Stinner (FDP): (C) 

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Ströbele, Ihre 
Rede hat mich insofern verwirrt, als ich wirklich nicht 
weiß, ob Sie hier die Meinung Ihrer Fraktion wiederge- 
ben. Denn die Tonalität, in der Sie diese Rede vorgetra- 
gen haben, und die Inhalte, die Sie zum Teil vorgetragen 
haben, weichen sehr deutlich von dem ab, was wir von 
Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen 
über Monate und Jahre vernommen haben. Deshalb 
frage ich Sie ganz deutlich: Vertreten Sie, auch mit Ihrer 
Wortwahl, hier die Meinung Ihrer Fraktion? 

Zweitens. Sie haben angesprochen, dass die Bundes- 
regierung und der Außenminister angekündigt haben, 
dass wir die Anzahl der Soldaten graduell reduzieren 
werden. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: 2011!) 

Herr Kollege Djir-Sarai hat daraufhingewiesen, dass wir 
einen Entwicklungspfad bis 2014 haben, und Sie, Herr 
Kollege Ströbele, haben das Jahr 2011 angesprochen. Ich 
kann Ihnen sagen: Wir haben eine Mandatsverlängerung 
im Januar 2012 - das ist nicht 2011, sondern 2012 -, und 
ich kann Ihnen auch sagen - gerade läuft es über den 
dpa-Ticker; insofern ist es eine öffentliche Information -, 
dass die Bundesregierung laut dpa - ich will das jetzt 
nicht im Einzelnen kommentieren, sondern gebe nur wie- 
der, was ich gerade in öffentlichen Medien gelesen habe - 
beschlossen hat, die Mandatsobergrenze schon ab Januar 
2012 auf 4 900 Soldatinnen und Soldaten zu reduzieren. 

Das heißt, diesem Ansinnen des graduellen Abbaus trägt 
diese Bundesregierung wieder einmal in exzellenter (D) 
Weise Rechnung. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Herr Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit zur 
Antwort. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

Es ist doch schön, dass ich hier zu diesem Thema ein- 
mal zu Wort komme. - Herr Kollege, ich lese Ihnen ein- 
mal vor, was Ihr Außenminister am 15. oder 16. Dezem- 
ber vergangenen Jahres gesagt hat: Ende 2011 werden 
wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erst- 
mals reduzieren können. - So, und wann wird jetzt redu- 
ziert? 

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Haben Sie Ihre 
Fraktion vertreten?) 

Ich sage Ihnen: Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich 
glaube auch dem Außenminister nichts mehr. Denn ich 
weiß, dass der Außenminister auch in der Bundesregie- 
rung ganz offensichtlich andere Auffassungen vertritt als 
der Verteidigungsminister. Bisher hat sich der Verteidi- 
gungsminister ganz offensichtlich durchgesetzt. Er will 
aber nicht, dass in diesem Jahr Truppen abgezogen wer- 
den, 



16534 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Hans-Christian Ströbele 

(A) (Jörg van Essen [FDP]: Vertreten Sie die Mei- 

nung Ihrer Fraktion, Herr Ströbele?) 

jedenfalls nicht mehr als 90 Leute, die sowieso nicht dort 
sind. 

(Elke Hoff [FDP]: Lesen Sie doch mal die Zei- 
tung! Das ist doch Mumpitz!) 

Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, und immer 
wieder klingt durch, dass ein Einsatz auch über 2014 hi- 
naus durchaus in Betracht kommt, sofern die Sicher- 
heitssituation dies verlangt. Versuchen Sie also Glaub- 
würdigkeit zurückzugewinnen. Dann können wir darüber 
reden. 

Nun zu der Frage, für wen ich rede. Ich rede für mich. 

(Zuruf von der FDP: Wie immer! - Zuruf von 
der SPD: Für die Bürgerinnen und Bürger, 
dachte ich!) 

Ich habe hier für mich eine Rede gehalten, aber ich will 
Sie noch einmal - das haben Sie auch im Ausschuss ge- 
hört, und das können Sie auch von mir hier und heute 
noch einmal hören - auf unsere Forderung nach der Be- 
endigung der Offensivmaßnahmen und insbesondere 
dieser gezielten Tötungen hinweisen. Wissen Sie, nach 
jedem Anschlag auf die Bundeswehr wird immer wieder 
beklagt - dies wird völlig zu Recht beklagt, sage ich -, 
wie hinterlistig und bösartig diese Angriffe sind, bei de- 
nen Bundeswehrsoldaten umkommen. Ich frage Sie 
aber: Ist es etwas anderes, wenn nachts Spezialkomman- 
' dos ausrücken und Personen, die vorher aufgelistet wor- 
den sind, aus ihren Wohnungen holen und kaltblütig tö- 
ten? Oder ist es etwas anderes, wenn Menschen am 
Mittags- oder Abendtisch von einer Drohne, die man in 
der Luft gar nicht wahrnimmt, getötet werden? Ist das 
nicht auch heimtückisch? Ist das nicht auch hinterlistig? 

(Beifall bei der LINKEN) 

Das heißt, es findet dort ein schrecklicher Krieg statt, 
und um das zu beenden - darüber war ich froh -, hat 
meine Fraktion schon vor zwei Jahren die Einstellung 
solcher Tötungsaktionen und der Offensivmaßnahmen 
der NATO und insbesondere der US-Amerikaner gefor- 
dert. Es sind aber nicht nur die US-Amerikaner. Viel- 
mehr verfahren auch die Deutschen inzwischen so und 
helfen den Amerikanern bei solchen Kill-Aktionen, in- 
dem sie ihnen Informationen geben und Leute auflisten. 
Wir sind also mit dabei, und ich glaube, die Fraktion ver- 
tritt dazu Auffassungen, die sich meinen - sage ich mal - 
annähern. 

Abschließend dazu, wie wir zu diesem Antrag stehen. 
Ich werde dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Ich 
werde mich der Stimme enthalten. Wie sich die Fraktion 
entscheidet, werden Sie erleben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - 
Zuruf von der CDU/CSU: Die Amerikaner 
sind per se Mörder! Das will er uns damit sa- 
gen!) 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der 
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Frak- 
tion. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 
Der Antrag, den die Linken hier Vorgelegen, tut schon 
etwas weh. Wir wissen ja, dass Sie von der Linken 
grundsätzlich gegen jeden Auslandseinsatz der Bundes- 
wehr sind. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Aber bei einem so vielschichtigen Thema wie Afghanis- 
tan einen Antrag vorzulegen, in dem Sie in ein paar Zei- 
len so mir nichts, dir nichts den sofortigen Abzug der 
Bundeswehr fordern und das auf einer Seite mit ein paar 
allgemeinen Textbausteinen begründen, ist aus meiner 
Sicht nicht angemessen. 

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ihr hättet gar 
nicht erst hingehen dürfen! - Manfred Grund 
[CDU/CSU]: Das sind schöne Internationalis- 
ten da drüben!) 

Darüber kann sich aber jeder selbst sein Urteil bilden. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE] : Setzen Sie sich 
doch mal inhaltlich mit uns auseinander!) 

Was mich aber betroffen macht, meine Damen und 
Herren von der Linken, ist, dass Sie sich in Ihrem Antrag 
mit keinem Wort dazu äußern, was denn die Konsequen- 
zen eines sofortigen Abzugs für Afghanistan wären: für 
den bisher erreichten Fortschritt beim Wiederaufbau, für 
die Übergabe der Verantwortung an das afghanische 
Volk, für die Sicherheit der Menschen und der zivilen 
Helfer dort, für die wirtschaftliche Situation im Lande. 
Mit den konkreten Folgen Ihrer Forderungen beschäfti- 
gen Sie sich nicht. Wichtig ist Ihnen nur, dass die Über- 
schriften stimmen und morgen in den Zeitungen steht: 
Linke fordert sofortigen Abzug aus Afghanistan. 

(Zuruf von der LINKEN) 

Meine Damen und Herren, das ist keine Basis für eine 
ernsthafte Debatte über die Frage, wie langfristig Frie- 
den und Stabilität in Afghanistan geschaffen werden 
können. Die Antwort auf diese Frage umfasst ein ganzes 
Bündel an politischen, diplomatischen, entwicklungspo- 
litischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen, die 
langfristig angelegt sein müssen und die auch nach dem 
Abzug des Militärs in 2014 weiter wirken werden. 

(Zuruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) 

Ich finde, Deutschland spielt beim Finden einer ent- 
sprechenden Lösung eine sehr positive, konstruktive 
Rolle. Am 5. Dezember werden sich Außenminister und 
Vertreter aus über 90 Ländern in Bonn treffen, um dort 
darüber zu beraten, wie es nach dem Abzug der Kampf- 
truppen 2014 in Afghanistan weitergehen wird. Eben 
nicht in der Weise „Augen zu und raus und nach uns die 
Sintflut“, sondern vielmehr von den Überlegungen ge- 
tragen: Was muss bis dahin an zivilen Maßnahmen noch 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16535 


Dr. Reinhard Brandt 

in die Wege geleitet werden? Wie kann ein langfristiges 
Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afgha- 
nistan aussehen? 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Das ist 
das Problem!) 

Wie muss der politische Prozess der Übergabe in Verant- 
wortung ausgestaltet werden? 

Dass Deutschland auf afghanischen Wunsch hin Gast- 
geber dieser Konferenz sein darf, ist ein Zeichen des ho- 
hen Vertrauens, das uns von diesem Land und von der in- 
ternationalen Staatengemeinschaft entgegengebracht wird. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - 

Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das glau- 
ben Sie ja selber nicht!) 

Das zeigt sich auch immer wieder in Umfragen, in denen 
vom Ausland der deutsche Einfluss in der Welt sehr po- 
sitiv bewertet wird. 

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Oh Gott! 

Am deutschen Wesen ...! Gruselig!) 

Das ist vielleicht der größte Trumpf, den wir in unserer 
Außenpolitik haben. Den dürfen wir nicht leichtfertig 
verspielen. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht 
wird, gründet unter anderem darauf, dass uns kein Hege- 
monialdenken unterstellt wird, 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein, 
nur wirtschaftliche Interessen!) 

und auch darauf, dass wir in der Welt als zuverlässige 
und verlässliche Partner gelten. 

Meine Damen und Herren, ich komme zurück auf Af- 
ghanistan und die Forderung der Linken nach einem so- 
fortigen Abzug. An dem Einsatz beteiligen sich im Mo- 
ment 49 Nationen aus der ganzen Welt. Diese teilen sich 
die Aufgabe sowohl regional als auch funktional auf. 
Dass man eine solche globale Aufgabe gemeinsam unter 
dem Dach der Vereinten Nationen angeht, ist doch be- 
grüßenswert. Das geht aber nur, wenn sich die Länder 
untereinander auf Zusagen verlassen können und Ent- 
scheidungen wie die eines Abzuges gemeinsam treffen, 
und zwar in enger Abstimmung mit dem Land, dem man 
helfen möchte. Und es sind auch die Menschen vor Ort, 
die sich auf uns verlassen, die mit unseren Soldaten Zu- 
sammenarbeiten und deren Leben wir unter Umständen 
aufs Spiel setzen würden, wenn wir uns von heute auf 
morgen aus der Verantwortung verabschieden würden. 
Das alles blendet die Linke aus, wenn sie heute einen so- 
fortigen Abzug fordert. Das ist verantwortungslos. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist 
gerade dabei - der Kollege Stinner hat es vorhin ange- 
sprochen -, im Vorfeld der Mandatsbeschlüsse die Vo- 
raussetzungen für eine Reduzierung zu schaffen. Ich 
würde es begrüßen, wenn sich dafür eine breite Mehrheit 
im Parlament finden würde. 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7547 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung 
so beschlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- 
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes 

- Drucksachen 17/7317, 17/7369 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- 
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- 
cherschutz (10. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7671 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Alois Gerig 
Gustav Herzog 
Dr. Christel Happach-Kasan 
Alexander Siißmair 
Harald Ebner 

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen vor. 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so 
verfahren. 

Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem 
Kollegen Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das 
Wort. 

Alois Gerig (CDU/CSU): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit 
dem Gesetz zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes 
leisten wir in Deutschland unseren Beitrag dazu, die Zu- 
lassung und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in 
Europa zu harmonisieren. Gleichzeitig sorgen wir mit 
dem Gesetz dafür, dass im Pflanzenschutzrecht die ho- 
hen Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz erhal- 
ten bleiben bzw. dass sich Europa an unseren hohen 
Standards orientiert. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Bei vielen Verbrauchern stößt der Einsatz von Pflan- 
zenschutzmitteln leider immer noch auf Skepsis. Bei der 
heutigen abschließenden Beratung des Entwurfs des 
neuen Gesetzes möchte ich deshalb betonen: 

Erstens. Die Zulassung und Anwendung von PSM 
bleiben an strenge Anforderungen gebunden. In den ver- 
gangenen Jahrzehnten konnten deutliche Fortschritte bei 
der Minimierung der Risiken erzielt werden. Bei den Le- 
bensmitteluntersuchungen hierzulande werden - und das 
bei immer besseren Untersuchungsmethoden - kaum 
noch überhöhte Rückstände festgestellt. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Alois Gerig 

(A) Zweitens. Die Anwendung von PSM in der konven- 
tionellen Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, dem Wein- 
bau oder dem Obst- und Gartenbau ist und bleibt - das 
können Sie gerne wörtlich nehmen - notwendig. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Sie trägt wesentlich zu höheren Erträgen bei guter Quali- 
tät und damit zu einer sicheren Versorgung unserer Be- 
völkerung mit bezahlbaren und gesunden Lebensmitteln 
bei. 

Warum ist es erforderlich, in der EU die Anwendung 
und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zu harmoni- 
sieren? Auf dem europäischen Binnenmarkt bestehen 
beachtliche Unterschiede. Es ist zum einen für die deut- 
schen Landbewirtschafter ein klarer Wettbewerbsnach- 
teil, wenn Konkurrenten in anderen EU-Staaten Pflan- 
zenschutzmittel zur Verfügung haben, die in Deutsch- 
land nicht zugelassen sind, und es ist zum anderen irre- 
führend und äußerst unfair für die Verbraucher, wenn 
Lebensmittel in unseren Supermarktregalen stehen, die 
nicht nach den gleichen bzw. strengen deutschen Um- 
weltstandards produziert wurden. 

Ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Harmoni- 
sierung ist zum Beispiel die gegenseitige Anerkennung 
von Zulassungen. Die EU wurde in drei Zonen aufge- 
teilt. Ist ein PSM in einem Mitgliedstaat zugelassen, so 
soll die Zulassung dieses Mittels in Mitgliedstaaten, die 
der gleichen Zone angehören, innerhalb von 120 Tagen 
erfolgen. Im Ergebnis ist zu erwarten, dass durch dieses 

(B) Zusammenspiel schneller bessere und möglicherweise 
auch mehr Pflanzenschutzmittel zugelassen werden. Da- 
durch dürfte sich die Verfügbarkeit von PSM in Deutsch- 
land verbessern, was ökologisch durchaus sinnvoll ist 
und auch dazu beiträgt, zunehmende Resistenzen in den 
Kulturen zu verhindern. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Das kann allerdings nur dann gelingen, wenn die natio- 
nalen Zulassungsbehörden im Verfahren einheitliche Be- 
wertungsmaßstäbe anlegen und praktikabel handhaben. 
Dies fordern wir ebenso wie die Umsetzung des Natio- 
nalen Aktionsplanes in unserem gemeinsamen Ent- 
schließungsantrag. 

Große Bedeutung für einen fairen Wettbewerb beim 
Pflanzenschutz haben auch die Anwendungsbedingungen: 
Integrierter Pflanzenschutz, Sachkundenachweis und ein 
TÜ V für Pflanzenschutzgeräte wurden in Deutschland be- 
reits vor Jahren eingeführt und werden künftig EU-weit 
vorgeschrieben. Wir müssen allerdings schon aufpassen, 
dass die Harmonisierungsziele möglichst eins zu eins um- 
gesetzt und nicht durch ungeschickte Regelungen durch 
die Hintertür konterkariert werden. Hier ist die Bundesre- 
gierung gemeinsam mit den Ländern gefordert. 

Überhaupt ist Praktikabilität in dem neuen Gesetz ein 
wichtiges Anliegen. So haben wir, anders als vom Bun- 
desrat gefordert, auf die Festlegung starrer Abstandsre- 
gelungen für Gewässer verzichtet. Besser ist es, wenn 
diese im Rahmen der guten fachlichen Praxis nach den 


örtlichen Gegebenheiten und den Anwendungsbestim- (C) 
mungen des konkreten Mittels ausgerichtet werden. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 

Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sicher! 

Das hat auch sonst immer geklappt!) 

Für besondere Gebiete, wie beispielsweise das Alte 
Land, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, unter 
Wahrung des Schutzniveaus abweichende Regeln anzu- 
wenden. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Die Entscheidung über die Ausweisung dieser sogenann- 
ten Sondergebiete wird unter Beteiligung des Umwelt- 
bundesamtes getroffen. Gleichzeitig stellen wir im Ge- 
setz sicher, dass im Einzelfall zügige Entscheidungen 
über Sondergebiete oder dann, wenn Gefahr im Verzug 
ist, möglich sind. Ähnlich pragmatisch wird, falls unab- 
dingbar, bei der Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln 
mit Luftfahrzeugen im Steillagenweinbau und im Kro- 
nenbereich der Wälder verfahren. 

Gegen den Handel mit gefälschten oder verbotenen 
PSM werden strengere Regeln geschaffen. Dies ist glei- 
chermaßen im Sinne von Herstellern und Verbrauchern. 

Eines möchte ich zum Ende meiner Rede noch grund- 
sätzlich festhalten: Um die Welt bei zunehmender Be- 
völkerung 

(Zurufe von der LINKEN: Oh!) 

mit Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen 
versorgen zu können, brauchen wir moderne und inno- 
vative Pflanzenschutz- bzw. im gewissen Rahmen auch 
Pflanzenstärkungsmittel. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Mit dem vorliegenden Gesetz wird es gelingen, den 
Pflanzenschutz auch weiterhin in den Dienst einer leis- 
tungsfähigen, nachhaltigen und ökologisch ausgewoge- 
nen Landbewirtschaftung zu stellen. Damit wird nach 
meiner festen Überzeugung ein weiterer wichtiger Bei- 
trag zur Harmonisierung in Europa geleistet. Ich bitte 
Sie: Stimmen Sie diesem Gesetz zu. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Das Wort hat nun der Kollege Gustav Herzog für die 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Gustav Herzog (SPD): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Pflanzen- 
schutzrecht ist eine sehr komplexe Materie, um die sich 
überwiegend die Spezialisten in den Fraktionen küm- 
mern. 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Leider!) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16537 


Gustav Herzog 

(A) Aber das damit verbundene Regelwerk betrifft uns alle. 
Dies gilt insbesondere für die Qualität und Quantität der 
uns zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel. Es wird 
aber auch geregelt, wie wir am Wochenende, wenn es 
unsere Zeit erlaubt, den Rasen zu Hause pflegen dürfen, 
wie der Zustand unserer Gewässer ist und wie hoch das 
Einkommen der Landwirte ausfällt, inwiefern sie ihre 
Erträge sichern können. Ferner wird Einfluss auf die 
Vielfalt von Flora und Fauna genommen. Der vorlie- 
gende Gesetzentwurf ist daher wichtig und hat die not- 
wendige Aufmerksamkeit verdient. 

Wir regeln die Zulassung der Mittel, während es euro- 
päische Regelungen für die Wirkstoffe gibt. Wir schaf- 
fen Regelungen bezüglich der Anwendung und der Ge- 
räte. Eine wichtige Frage ist - sie wird immer mehr an 
Bedeutung gewinnen -, wie wir illegale Importe und die 
damit verbundenen kriminellen Machenschaften verhin- 
dern. Wir haben gemeinsam den Fokus darauf gerichtet 
und die entsprechenden Sanktionen vereinbart. 

Wir haben diese Neuordnung erarbeitet, weil im Jahr 
2009 die EU eine entsprechende Vorgabe in Form einer 
Verordnung und einer Richtlinie gemacht hat. Herr Kol- 
lege Bleser, Sie haben sich jetzt auf die Abgeordneten- 
bank gesetzt, ich spreche Sie aber als Vertreter des 
Ministeriums an: Sie haben sich viel Zeit gelassen, dem 
Deutschen Bundestag diesen Gesetzentwurf vorzulegen. 
Wir hätten gerne etwas mehr Zeit gehabt, mit den Fach- 
leuten über diesen Entwurf zu beraten. Ich glaube, es ist 
im Sinne des ganzen Hauses, wenn Sie sich beim nächs- 
ten Mal etwas weniger Zeit lassen. 

(B) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind für Deutsch- 
land nicht gravierend. Der Entwurf beinhaltet insbeson- 
dere für Hersteller und Anwender wesentliche neue Re- 
gelungen - auch Vorteile; da stimme ich dem Kollegen 
Gerig zu. Ich habe immer für die zonale Zulassung ge- 
kämpft; denn wir brauchen eine Vielfalt an Mitteln, um 
Resistenzen vorzubeugen. Jedoch trägt nicht das UBA 
die Schuld daran, dass für eine Reihe von Indikationen 
so wenige Mittel zur Verfügung standen. Vielmehr kon- 
zentriert sich die Industrie darauf, für die großen Pro- 
dukte und Kulturen entsprechende Mittel zu erforschen 
und zuzulassen; die kleinen Kulturen jedoch - die selte- 
nen Schadorganismen - bleiben außen vor. Ich kann 
mich noch gut an Aufrufe im Pfälzer Bauer erinnern, in 
denen geradezu um Geld zur Durchführung von entspre- 
chenden Untersuchungen gebettelt worden ist, um Lü- 
ckenindikationen schließen zu können. Von daher auch 
von hier ein Aufruf an die Industrie, in diesem Bereich 
etwas mehr zu tun. 

(Beifall des Abg. Peter Bleser [CDU/CSU]) 

Herr Gerig, Sie haben heute - wie Sie alle bei der ers- 
ten Lesung - von dem hohen Schutzniveau in Deutsch- 
land gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass 
Ihre Seite in diesem Haus hierzu am allerwenigsten ei- 
nen Beitrag geleistet hat. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 


Sie waren nicht die Lokomotive des Fortschrittes; Sie (C) 
standen eher auf der Bremse und haben plakativ Ihren 
Slogan „Wettbewerbsverzerrung“ hochgehalten. Das 
war Ihr Schlagwort, um eigentlich jede Weiterentwick- 
lung zu behindern. Wenn Sie sagen, dass es bei uns ei- 
nige Regelungen schon viele Jahre gibt, dann können 
wir stolz darauf sein, dass wir sie eingeführt haben, und 
Sie können uns dafür dankbar sein. 

Der gesamte Prozess dauert schon lange an. Zur 
Frage, ob das Umweltbundesamt seine Einvernehmensre- 
gelung bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln bei- 
behält, habe ich im Deutschen Bundestag bereits mehr- 
fach gesprochen. Wir haben uns zahlreiche Rededuelle 
geliefert. Frau Kollegin Happach-Kasan, Respekt, Sie 
sind bei Ihrer Position geblieben. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Bei der falschen!) 

Ich hoffe, die Union hat inzwischen Einsichten gewon- 
nen und ihre Meinung geändert. Die Regelung wird je- 
denfalls so bleiben. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Sie haben die Eins-zu-eins-Umsetzung angesprochen. 

Ich bin da sehr zögerlich; denn ich halte das für ein 
Stück politische Selbstkastration. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Wohl wahr!) 

Hier hätte man schon etwas mehr machen können. Der 
Bundesrat hat 56 Änderungsanträge gestellt. Sie sind der 
Bundesregierung willig gefolgt, indem Sie nur die 
Punkte in Ihre Änderungsanträge übernommen haben, in (D) 
denen sich Bundesrat und Bundesregierung einig waren. 

Sie haben keine einzige Anregung aus der Anhörung 
übernommen, die qualitativ sehr gut besetzt war. Etwas 
mehr Kreativität hätte ich von den Koalitionsfraktionen 
schon erwartet. Aber nach all dem, was ansonsten an 
Unsinn verbreitet wird, ist eine Eins-zu-eins-Umsetzung 
vielleicht doch das Beste für die deutsche Landwirt- 
schaft. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Wir sagen: Fortschritt ist möglich. Das Recht soll ein- 
facher, ökologischer und damit besser sein. Lassen Sie 
mich kurz vier Punkte ansprechen. 

Erstens: Abstand zu Gewässern. In der Anhörung sind 
unterschiedliche pauschale Abstände genannt worden. 

Der Bundesrat wollte 1 Meter - abgelehnt durch die 
Bundesregierung. Vorgeschlagen wurden auch 3 Meter, 

5 Meter und 10 Meter Abstand. Wir hielten - ich sage 
das bewusst - 3 Meter für opportun, um eine ganze 
Reihe von Pflanzenschutzmitteln in dieses Regelwerk 
aufzunehmen. Das wäre ein Beitrag zur Entbürokratisie- 
rung gewesen. 

Dass das Thema „Eintrag in Gewässer“ nach wie vor 
sehr wichtig ist, zeigt ein Beispiel: Im Oktober hat das 
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung eine Untersu- 
chung veröffentlicht, für die europaweit 750 000 Gewäs- 
seranalysen ausgewertet wurden. 73 chemo-organische 
Verbindungen sind als potenziell prioritäre Schadstoffe 
identifiziert worden, zwei Drittel davon waren Pestizide. 



16538 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Gustav Herzog 

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist für uns ein 
Alarmzeichen, dass wir uns intensiv darum zu kümmern 
haben. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Zweitens. Die gute fachliche Praxis darf nicht nur als 
Inhalt einer schönen Broschüre des Ministeriums verteilt 
werden, sondern muss als verbindliches Regelwerk, als 
Verordnung festgeschrieben werden. 

Dritter Punkt. Hier geht es um eine, wie ich finde, 
sehr gute Anregung aus der Industrie. Sie müssen sich 
vorstellen: Die Behälter, in denen sich die Pflanzen- 
schutzmittel befinden - das sind hochgiftige, konzent- 
rierte Substanzen -, werden nicht immer und überall dort 
zurückgegeben, wo sie anständig entsorgt werden; sie 
können auch einmal im Gelben Sack landen. Was heißt 
das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Sor- 
tierwerken, in denen die Kunststoffe sortiert werden? 
Was heißt es, wenn Reste von Pflanzenschutzmitteln an 
dem Kunststoff haften bleiben und aus dem recycelten 
Kunststoff zum Beispiel Kinderspielzeug hergestellt 
wird? Ich sage: Bei solchen wirklich gefährlichen Sub- 
stanzen ist es sinnvoll, sie sicher zu entsorgen. Sie sind 
unserer Anregung nicht gefolgt. Schade! 

Vierter Punkt. In der Frage der Pflanzenstärkungsmit- 
tel sind Sie uns aber gefolgt. Herr Kollege Bleser, jetzt 
muss ich Sie als Staatssekretär doch einmal loben. 
- Jetzt, wo ich ihn lobe, hört er nicht zu. - 

(B) (Ulrich Kelber [SPD]: Der gehört doch eigent- 

lich auf die Regierungsbank!) 

Herr Bleser hat eine erneute juristische Prüfung im Haus 
veranlasst. Das Ministerium ist zur Einschätzung ge- 
kommen, dass es doch möglich ist, die Pflanzenstär- 
kungsmittel weiterhin mit einer geeigneten Kennzeich- 
nung in den Vertrieb zu bringen. Dafür möchte ich mich 
bedanken. Ich glaube, das hilft einer Branche. 

(Beifall des Abg. Franz-Josef Holzenkamp 
[CDU/CSU]) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Nationalen 
Aktionsprogramm zur nachhaltigen Anwendung von 
Pflanzenschutzmitteln unterscheiden wir uns wieder. 
Früher hieß es einmal „Pflanzenschutzmittelreduktions- 
programm“. Ich glaube, dieser Titel war angemessener. 
Da ist noch einiges zu tun. Wir werden Ihnen kritisch auf 
die Finger schauen. 

Das Gesetz ist notwendig. Die Bundesregierung hat 
die Vorgaben der Europäischen Union eingehalten. Sie 
haben nichts kaputtgemacht. Wir können dem Gesetz 
zwar nicht zustimmen, aber wir werden uns der Stimme 
enthalten. Das gilt im Übrigen auch für den Entschlie- 
ßungsantrag der Grünen: Es gibt viel Übereinstimmung, 
aber auch ein paar Punkte, bei denen wir Ihnen nicht fol- 
gen können. 

(Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da 
interessieren uns aber die Details!) 


Wir haben aber noch ein paar parlamentarische Debat- (C) 
ten, in denen wir vielleicht doch noch mehr Einigkeit 
hersteilen können. 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Die Kollegin Christel Happach-Kasan ist die nächste 
Rednerin für die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Die Rede von Gustav Herzog war nach dem 
Motto: Nicht kritisiert ist genug gelobt. Herzlichen Dank 
dafür. 


(Gustav Herzog [SPD]: Ich war freundlich 
heute!) 

Wir sind da in einigen Punkten auch gar nicht sehr weit 
auseinander. 


(Ulrich Kelber [SPD]: Schon!) 


Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird zwar im- 
mer wieder kritisiert. Trotzdem wissen wir alle: Die Ver- 
braucherinnen und Verbraucher wollen Produkte, die frei 
von Blattläusen sind, und Erdbeeren, die keinen Schim- 
mel haben, weil sie keine Pilzvergiftung erleiden wollen. 
Vor diesem Hintergrund ist uns klar, dass wir in der mo- 
dernen Landwirtschaft, im Getreideanbau und im Ge- 
müse- und Obstanbau genauso wie im Ökolandbau 
Pflanzenschutzmittel brauchen; das ist unverzichtbar. 
Dies möchte ich festhalten. Gleichzeitig sind wir alle in 
diesem Hause uns einig, dass wir natürlich eine Mini- 
mierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln wol- 
len, weil wir die Natur schonen und schützen wollen. Ich 
glaube, auch jeder Landwirt ist sich bewusst, dass es 
wichtig ist, nur einen sehr maßvollen Einsatz von Pflan- 
zenschutzmitteln zu betreiben, weil dieser nämlich ex- 
trem teuer ist. 


(D) 


Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes 
zur Neuordnung des Pflanzenschutzrechtes setzen wir 
zwei Verordnungen und zwei Richtlinien der EU in na- 
tionales Recht um. Diese Verordnungen und Richtlinien 
stammen aus dem Jahre 2009; das Ziel ist die Harmoni- 
sierung der Zulassungen in der EU. 

(Gustav Herzog [SPD]: Lang ist’s her!) 

- Lieber Kollege Herzog, es gibt andere Richtlinien und 
Verordnungen, für deren Umsetzung Rot-Grün einen 
deutlich längeren Zeitraum gebraucht hat; ich glaube, 
das können wir gemeinsam festhalten. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Gustav Herzog [SPD]: Wir reden aber über 
dieses Gesetz!) 

Ein Ziel ist, dabei Wettbewerbsverzerrungen zu ver- 
meiden. Denn uns allen ist klar: Es ist nicht sehr glaub- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16539 


Dr. Christel Happach-Kasan 

(A) würdig, wenn ein Landwirt in Niedersachsen ein Pflan- 
zenschutzmittel nicht anwenden darf, wenn nebenan, 
hinter der Grenze zu den Niederlanden, der Einsatz 
durchaus erlaubt ist. 

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Oder umgekehrt!) 

- Oder umgekehrt; das ist ein Punkt, den ich sehr gerne 
aufnehme. 

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN] : Wir haben auch Mittel, die in Hol- 
land nicht zugelassen sind!) 

Wir sind uns auch darüber einig, dass neue Pflanzen- 
schutzmittel in aller Regel besser sind als alte, dass es in 
der Regel einen Entwicklungsfortschritt gibt. Insofern ist 
es gut, wenn wir die Forschung und die Entwicklung 
neuer Pflanzenschutzmittel unterstützen. Deswegen ha- 
ben wir uns entschieden, in § 20 des Gesetzentwurfs öf- 
fentliche Labore und öffentlich zertifizierte Labore 
gleichzusetzen, wenn sie eine Anzeige über den Versuch 
an das BVL geben und mitteilen, welchen Versuch sie 
unternehmen wollen. 

Wir haben ein relativ kompliziertes Gesetz geschaf- 
fen; das muss man deutlich sagen. Die Zulassung neuer 
Pflanzenschutzmittel erfolgt durch das Bundesamt für 
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Es hat 
im Benehmen mit dem RKI und dem BfR und im Ein- 
vernehmen mit dem Umweltbundesamt zu handeln; Kol- 
lege Herzog hat sich dazu schon geäußert. 

(Gustav Herzog [SPD]: Zutreffend geäußert!) 

(H) 

- Zutreffend geäußert, sehr richtig. - Im Verfahren gab 
es 50 Anträge der Bundesländer. Die Hälfte haben wir 
übernommen. 

Kollege Herzog, hinsichtlich der Behälter sollte man 
Folgendes zur Kenntnis nehmen: Neben den gesetzli- 
chen Regelungen gibt es auch eine handelnde Zivilge- 
sellschaft. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass einige 
Pflanzenschutzunternehmen diese Behälter eingesam- 
melt haben. Das scheint mir eine besonders sinnvolle 
Regelung zu sein, damit sie nicht wieder in die Entsor- 
gung kommen. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Gustav Herzog [SPD]: Frau Kollegin, aber 
diese Unternehmen haben uns gebeten, das 
Regelwerk zu verschärfen!) 

- Das mag so sein. Trotzdem freue ich mich, wenn Un- 
ternehmen eigenverantwortlich handeln. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Und die dann teurer 
sind als die, die unverantwortlich handeln! Das 
ist Marktwirtschaft! Die schwarzen Schafe 
sind billiger!) 

Weitere Änderungen haben wir beim Parallelhandel 
vorgenommen, weil wir uns beim Thema „kriminelles 
Handeln" einig sind. Wir haben hier eine Strafbeweh- 
rung geschaffen. 

Lassen Sie uns auch das Thema Gewässerabstand be- 
handeln. Man braucht sich nur anzuschauen, was beim 


Alten Land los ist, um festzustellen, dass dort für die un- 
terschiedlichen Pflanzenschutzmittel unterschiedliche 
Gewässerabstände definiert sind. Da heißt es, angepasst 
und angemessen mit Blick auf die standortliche Situation 
zu handeln. Genau das wollen wir tun. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Wir haben bei den Pflanzenstärkungsmitteln eine ge- 
änderte Situation aufgrund des EU-Rechts. Deswegen 
können wir damit nicht mehr ganz so einfach wie vorher 
umgehen. Trotzdem haben wir eine Sonderregelung für 
Pflanzenstärkungsmittel aufgenommen, nämlich eine ein- 
jährige Übergangsfrist. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Auch beim Import von Jungpflanzen werden wir an- 
ders handeln; denn wir können die Vorschläge des Bun- 
desrates so nicht gesetzlich Umsetzern Vielmehr werden 
wir in anderer Weise den Anliegen gerecht werden. 

Ich bedaure sehr, dass es uns nicht gelungen ist, für 
Landwirte eine Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Rechts 
hinzubekommen. 

Wir haben weiterhin eine verkürzte TÜV-Frist im 
Vergleich zu anderen Ländern. Wir haben gleichzeitig 
den Sachkundenachweis, der statt alle fünf Jahre alle 
drei Jahre erbracht werden muss. Wir werden darauf 
dringen müssen, dass die Behörden dies pragmatisch 
umsetzen. Ich bedaure, dass dies nicht gelungen ist. Das 
ist auf Anträge des Bundesrates hin so erfolgt. 

Ich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland ei- 
nen sehr verantwortlichen Umgang mit Pflanzenschutz- 
mitteln haben. Man kann dies gut daran sehen, dass das 
Lebensmittelmonitoring in jedem Jahr einen deutlichen 
Rückgang von beanstandetem Obst und Gemüse aus 
deutschem Anbau zeigt. Inzwischen werden weniger als 
2 Prozent beanstandet. In der letzten Untersuchung lag 
der Wert bei 1,4 Prozent. Das zeigt, wie verantwortlich 
damit umgegangen wird. Wir sehen es auch daran, dass 
sich beispielsweise die Lebensmittelwarnungen der EU 
nicht auf die Kontamination mit Pflanzenschutzmitteln 
beziehen, sondern beispielsweise auf Kontaminationen 
mit Pilzgiften oder mit Bakterien. 

(Gustav Herzog [SPD]: Naja!) 

Wir erinnern uns an die Ehec-Krise, die uns deutlich vor 
Augen geführt hat, welche Gefährdungen von gefährli- 
chen Bakterien ausgehen. Wir können auch feststellen, 
dass die Zahl der Schadensmeldungen der Imker in den 
letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Ich halte das 
für gut. Wir müssen daran arbeiten, dass es gar keine 
Schadensmeldungen mehr gibt. 

Insgesamt gesehen können wir feststellen, dass der 
Umgang mit Pflanzenschutzmitteln verantwortlich ist. 
Wir wollen ihn weiter verbessern. Wir wollen über den 
Nationalen Aktionsplan zu einer deutlichen Minimie- 
rung kommen. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem 
Gesetz auf einem guten Weg dahin sind. 

Danke schön. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 



16540 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Alexander Süßmair ist der nächste Redner für die 
Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Alexander Süßmair (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kei- 
ner von uns will Rückstände von chemischen Pflanzen- 
schutzmitteln im Salat mitessen, und keiner von uns will 
in einen Apfel beißen, aus dem er von einem Wurm an- 
gelächelt wird. Genau in diesem Dilemma befinden wir 
uns beim Thema Pflanzenschutzmittel. 

Pflanzenschutzmittel bewahren die Erträge aus Gar- 
ten und Ackerbau vor Schaden. Der Einsatz von Dünge- 
und Pflanzenschutzmitteln trägt zur betriebswirtschaft- 
lichen Effizienz und zu höheren Erträgen der landwirt- 
schaftlichen Produktion bei. Aber betriebswirtschaftli- 
che Effizienz bedeutet auch die Spezialisierung auf nur 
wenige Anbaukulturen und damit die Ausbreitung von 
Monokulturen. Das hat zur Folge, dass viele Pflanzen 
anfälliger für Schädlinge werden. Deshalb werden mehr 
Pestizide gespritzt, und die Umwelt wird stärker belastet. 
Genau das ist der Konflikt zwischen Ökonomie und 
Ökologie, der durch den Wunsch nach ständigem 
Wachstum verstärkt wird. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es einen eindeuti- 
gen Zusammenhang zwischen dem Verlust an Tier- und 
Pflanzenarten in der Natur und der Intensivierung der 
landwirtschaftlichen Erzeugung gibt. 

Die Anhörung im Ausschuss für Ernährung, Landwirt- 
schaft und Verbraucherschutz hat alle Fehler des vorlie- 
genden Gesetzentwurfs auf den Tisch gebracht. Mit die- 
sem Gesetzentwurf wird es keine Verbesserung beim 
Gewässerschutz geben, das steht jetzt schon fest. Hätten 
Sie den Willen der EU umgesetzt, wären konkrete gesetz- 
liche Vorgaben im Gesetz die Folge gewesen. Aber das 
Gegenteil ist der Fall. In Ihrem Gesetzentwurf ist zum 
Beispiel kein Mindestabstand zu Gewässern bei der An- 
wendung von Pflanzenschutzmitteln enthalten. Wasser- 
und Naturschutzgebiete hätten berücksichtigt werden 
müssen. Sie werden aber nicht berücksichtigt. Das ist für 
uns nicht akzeptabel. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Pestizide schädigen nicht nur Pflanzen und Tiere, 
sondern auch uns Menschen. Menschen verbringen be- 
sonders viel Zeit in Gärten und sind eng mit der Natur 
verbunden. Deshalb kann nicht jedes Mittel, das für den 
Acker zugelassen ist, für den Schrebergarten genehmigt 
werden. Besonders in diesem Bereich möchten wir Ar- 
tenvielfalt bewahren. Die Menschen sollen sich sicher 
erholen und Kinder gefahrlos spielen können. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 


Deshalb dürfen nur Mittel mit geringem Risiko ohne (C) 
Sachkundenachweis zugelassen werden. Das hätten Sie 
im Gesetzentwurf regeln müssen, haben Sie aber nicht. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Wir sind der Meinung: Pflanzenschutzmittel mit hohem 
Risiko gehören nicht in den Garten. 

(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE 
LINKE] und Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN]) 

Wird der vorliegende Gesetzentwurf zum Pflanzen- 
schutz den heutigen Anforderungen an eine nachhaltige 
und umweltgerechte Agrarwirtschaft gerecht? Wir mei- 
nen, nein. Mit Ihrem Gesetzentwurf zum Pflanzen- 
schutzrecht wird die Chance verspielt, klare Vorgaben zu 
machen und einen Schritt zum Erhalt der biologischen 
Vielfalt zu tun. Heute wird wieder einmal deutlich, wer 
Ihnen die Feder für den vorliegenden Gesetzentwurf ge- 
führt hat, nämlich eine Lobby aus Landwirtschafts- und 
Agrarindustrie. Dafür spricht auch, dass Naturschutz-, 
Wasserwirtschafts- und Umweltverbände den Gesetzent- 
wurf für ein Feigenblatt zugunsten der Agroindustrie 
halten. Damit haben Sie von der Koalition wieder einmal 
die Gelegenheit verpasst, eine nachhaltige Lösung im 
Sinne des Schutzes von Umwelt, Natur und Mensch zu 
finden. 

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Harald 
Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 

Die Linke wird deshalb den Gesetzentwurf ablehnen. 

Danke. 

(Beifall bei der LINKEN - Franz-Josef 
Holzenkamp [CDU/CSU]: Das überrascht 
mich!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächster Redner ist der Kollege Harald Ebner, Bünd- 
nis 90/Die Grünen. 

Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Die Kolleginnen und Kollegen von der Koali- 
tion haben hier und auch gestern im Ausschuss viel von 
Harmonisierung, beschleunigter Zulassung und Parallel- 
handel gesprochen. Das hört sich für mich fast so an, als 
ob der vorliegende Gesetzentwurf vor allem die Pro- 
bleme der Industrie lösen soll. So kann man natürlich an 
ein Gesetz herangehen - das erwarte ich schon fast von 
der Koalition -, man kann aber auch die Probleme der 
Menschen und der Umwelt lösen wollen. Da muss der 
Blick über den Ackerrand hinausgehen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wir finden heute im Blut von Eisbären in der Arktis 
Rückstände von Pflanzenschutzmitteln und deren Meta- 
bolite. Die WHO hat 1990 aufgehört, die Fälle der jährli- 
chen akuten Pestizidvergiftungen von Menschen zu zäh- 
len. Damals war man bei 3,5 bis 5 Millionen Fällen pro 
Jahr angelangt. Das heißt, die Stoffe gelangen in die hin- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16541 


Harald Ebner 

(A) tersten Winkel der Welt und entfalten auch dort ihre Wir- 
kung, wo wir es längst nicht mehr brauchen. Das ist die 
Problemlage. 

Weil es eben nicht um harmlose Substanzen geht 
- wir reden hier über Pestizideinsatz muss ein moder- 
nes Pflanzenschutzgesetz zum Ziel haben, den Einsatz 
von Pflanzenschutzmitteln zu reduzieren und diejenigen, 
die dennoch angewandt werden, vor ihrer Zulassung zu- 
verlässig und umfassend auf ihre Risiken für Mensch 
und Umwelt zu prüfen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Dass dies gegenwärtig nicht in ausreichendem Maß der 
Fall ist, zeigen die zahlreichen Fälle der erst viel zu spät 
erkannten Gefährlichkeit von Pestiziden: in der Vergan- 
genheit bei Atrazin oder aktuell bei Glyphosat und Tal- 
lowaminen. Weil in Ihrem Gesetzentwurf das Ziel der ef- 
fektiven Reduktion gar nicht zu finden ist und auch das 
Ziel einer wirklichen Risikovorsorge nicht zufriedenstel- 
lend angegangen wird, kann die Novelle nicht mit ein 
paar Änderungen geheilt werden. 

Welche Kernpunkte muss ein modernes Pflanzen- 
schutzgesetz abdecken? Diese Punkte haben wir in unse- 
rem Entschließungsantrag aufgeführt: Das beginnt bei 
einer gründlichen Zulassungsprüfung, die im Interesse 
von Verbrauchern, Landwirtschaft und Umwelt auf den 
Ergebnissen einer unabhängigen Risikoforschung basie- 
ren muss. Das Gegenteil ist heute der Fall. Es darf nicht 
weiter so sein, dass sämtliche Daten für die Zulassung 
von Pestiziden von den Herstellern dieser Mittel selber 

stammen. 

(B) 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Gerade hier gilt: „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ und 
nicht umgekehrt. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt sogar 
eine verbindliche Definition der guten fachlichen Praxis; 
das hat Herr Herzog schon dargestellt. Es fehlen Anga- 
ben über die Abstände zu Gewässern. Wir wollen einen 
Mindestabstand von 5 Metern und spezifische Risiko- 
minderungsmaßnahmen. Die Haus- und Kleingärten 
wurden vom Kollegen Siißmair schon angesprochen; 
hier sind wir ganz auf einer Linie. 

Die Ökobauern wollen ihre Pflanzen stärken, statt 
Schädlinge und Nützlinge zu vergiften. Deshalb brau- 
chen wir längere Übergangsfristen bei der Zulassung 
von Pflanzenstärkungsmitteln. Ja, Herr Kollege Gerig, 
da haben Sie völlig recht, aber Sie haben sich im Gesetz- 
entwurf nicht zu einer richtigen Lösung durchringen 
können. Aber was will man von dieser Bundesregierung 
schon erwarten, wenn Staatssekretär Bleser schon beim 
Wort „Ökolandbau“ eine „Stimmhemmung“ hat, wie 
gestern nach eigenem Bekunden im Ausschuss gesche- 
hen. 

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Wie peinlich! - Dr. Kirsten 
Tackmann [DIE LINKE]: So ist er!) 

Ich komme langsam zum Schluss. Wir waren schon 
einmal wesentlich weiter auf dem Weg zu einer umwelt- 
verträglichen und nachhaltigen Landwirtschaft. Nach 
2005 kam leider ein Rollback. Aus dem Reduktionspro- 


gramm Pflanzenschutz wurde ein unverbindlicher Ak- (C) 
tionsplan. Der vorliegende Gesetzentwurf verfestigt die- 
sen Rollback zum Dauerzustand. Damit verabschiedet 
sich die Bundesregierung leider von dem Ziel der EU, 
die Abhängigkeit vom Pestizideinsatz zu verringern. 
Frankreich geht einen anderen Weg. Dort sagt man: Wir 
wollen den Pestizideinsatz um 50 Prozent verringern. - 
Das könnte man sich zum Vorbild nehmen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der LINKEN - Gustav Herzog [SPD]: 

Und Frankreich hat eine Pestizidsteuer!) 

Sie legen zum wiederholten Male einen Gesetzent- 
wurf vor, der zwar vorgibt, dass im Sinne von Verbrau- 
chern und Umwelt gehandelt wird, in Wahrheit folgt 
man aber den Interessen einer Lobbygruppe. Die Frage 
ist doch, welche Landwirtschaft wir wollen: Eine billi- 
gere oder eine bessere? 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der LINKEN - Gustav Herzog [SPD]: 

Ich bin für die bessere! - Norbert Schindler 
[CDU/CSU]: Wir sind für die gute fachliche 
Praxis!) 

Wir wollen eine nachhaltige, zukunftsorientierte 
Landwirtschaft, die Umwelt und biologische Vielfalt, 
also unsere Lebensgrundlagen, auf Dauer schützt und er- 
hält, statt sie zu vergiften. Dafür müssen wir immer we- 
niger Pestizide einsetzen, und das immer sicherer. Diese 
Zielsetzung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf leider voll- 
kommen. 

Danke schön. (D) 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Lieber Kollege Ebner, das war Ihre erste Rede im 
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu- 
liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei- 
tere Arbeit. 

(Beifall) 

Nun hat der Kollege Max Lehmer das Wort für die 
CDU/CSU -F raktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): 

Danke. - Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr 
verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Ich begrüße 
wie Sie alle und wie meine Vorredner die Ziele des vor- 
liegenden Gesetzentwurfs, welcher der Umsetzung des 
EU-Pflanzenschutzpaktes dient. Ich unterstütze, auch als 
Praktiker, ausdrücklich die weitere Harmonisierung der 
Pflanzenschutzmittelzulassungen und der Gewährleis- 
tung eines hohen Schutzniveaus in der gesamten Euro- 
päischen Union. 

Bei der Umsetzung des Gesetzes in die Praxis muss 
aber noch auf einige unbürokratische Lösungen für un- 
sere Landwirte geachtet werden. Herr Herzog, da haben 
wir sicher noch einige Hausaufgaben zu machen. So be- 
steht zum Beispiel bei der Frage der TÜV-Fristen, also 



16542 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Max Lehmer 

(A) bei der technischen Prüfung von Spritzgeräten, noch 
Handlungsbedarf. 

(Gustav Herzog [SPD]: Aber Sie wollen jetzt 
nicht die Pflanzenschutzsteuer wie in Frank- 
reich einführen? - Gegenruf des Abg. Norbert 
Schindler [CDU/CSU]: Das kostet Geld!) 

- Nein. Darüber reden wir separat noch einmal. Darüber 
können wir gerne diskutieren. 

Allgemein ist zu sagen, dass die Regelungen in 
Deutschland ein hohes Niveau haben und die EU-Vorga- 
ben übertreffen, was der Sicherheit der Verbraucher, aber 
auch der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit unserer 
Landwirtschaft dient. Gleiches gilt für die hohe Sach- 
kunde unserer Anwender. 

Ich kann es mir nicht verkneifen, eines an die Adresse 
einiger meiner Vorredner zu richten: Sie müssen sich 
dringend einmal mit den zehnjährigen Zulassungsprü- 
fungen für ein Präparat befassen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Sie müssen einmal sehen - ich wende mich insbesondere 
an meinen Vorredner -, welche Prüfungen in ökotoxiko- 
logischer, toxikologischer, human- und umwelttoxikolo- 
gischer Hinsicht und zur Wassergängigkeit durchgeführt 
werden müssen. So ein Prozess dauert zehn Jahre und 
kostet 250 Millionen Euro. Ich sage Ihnen das nur. 

Alles, was Sie erst bei der Anwendung verlangen, 
wird schon vorher in weiten Bereichen - Herr Herzog 
weiß das - geprüft. Dass trotzdem - das gilt im Straßen- 
' ' verkehr genauso wie bei allen Anwendungen von Präpa- 
raten und Produkten - bei Anwendungen Unregelmäßig- 
keiten auftreten und Fehler passieren, die nachhaltig zu 
vermeiden sind, ist unstrittig. Aber Sie können uns nicht 
vorwerfen, man sei zugunsten der Agrarlobby und der 
Industrie bei der Zulassung von Präparaten großzügig. 
Das ist doch Unsinn pur. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Friedrich Ostendorff [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das aber!) 

Erlauben Sie mir, bei dieser Gelegenheit auf einige 
grundsätzliche Aussagen zu Pflanzenschutzmitteln ein- 
zugehen. In der Tat, Herr Herzog, geht Pflanzenschutz 
uns alle an; das ist aber leider nicht allen bewusst. Da- 
rum möchte ich auf ein paar Punkte zu sprechen kom- 
men, die vor allen Dingen den Verbraucher angehen. 
Pflanzenschutz ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil 
moderner Produktionstechnik; daran gibt es für mich in 
der Landwirtschaft keine Zweifel. Eines darf man uns 
nicht vorwerfen: Wir sind längst über das Prinzip „Viel 
hilft viel“ hinaus. Ich bin jetzt seit 50 Jahren gelernter 
Landwirt. Am Anfang konnte man die Mittel vielleicht 
nicht so genau dosieren; dies lag auch an der Technik. 
Schon seit vielen Jahren werden anspruchsvolle Pro- 
gnose- und Diagnosemodelle als Entscheidungsgrund- 
lage für Pflanzenschutzmaßnahmen in der Praxis viel- 
fach genutzt. 

Für nahezu alle Anwendungssegmente werden soge- 
nannte Schadschwellen definiert, wodurch sichergestellt 


wird, dass Pflanzenschutzmittel erst dann ausgebracht (C) 
werden, wenn Gefahr im Verzug ist und ein entsprechen- 
der Schaden prognostiziert werden kann. Diese an- 
spruchsvollen Anwendungsgrundlagen dienen sowohl 
dem Landwirt für einen kostengünstigen Pflanzenschutz- 
einsatz - ein Landwirt wird nicht beliebig viel, sondern 
möglichst wenig einsetzen; denn die Mittel sind sehr 
teuer; das muss klar sein - 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

als auch der Umwelt, indem nur die unbedingt notwen- 
dige Menge an Präparaten eingesetzt wird. Ein derart 
fachkundiger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, wie er 
in der Praxis gängig ist, hat auch dazu geführt, dass nur 
noch in Ausnahmefällen Rückstände in Ernteprodukten 
aus deutscher Produktion gefunden werden, die aber in 
aller Regel keine toxikologische Relevanz erreichen. 

Pflanzenschutz - das bedauere ich sehr - wird in der 
öffentlichen Wahrnehmung allgemein mit großer Skepsis 
begegnet. Gespräche mit Bürgern bestätigen eine sehr kri- 
tische Einstellung gegenüber dem chemischen Pflanzen- 
schutz - das muss man konstatieren -, welche meiner 
Auffassung nach - ich bin in der Diskussion immer an der 
Front - einem verbreiteten Informationsdefizit geschul- 
det ist. Dies liegt meines Erachtens unter anderem auch 
daran, dass viele Kritiker des Pflanzenschutzes - auch 
das haben wir heute wieder gehört - Begriffe wie „Pesti- 
zide“ und bösartige Worte, die negative Assoziationen 
hervorrufen sollen, verwenden. 

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN] : Sind es Pestizide oder nicht? Wo- ' 1 ! 
rüber reden wir denn?) 

Sie nehmen woanders auch nicht englische Begriffe. Wir 
sollten über Pflanzenschutzmittel sprechen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Friedrich Ostendorff [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist Pestizid eng- 
lisch?) 

Der Begriff „Pflanzenschutzmittel“ kommt der Sache 
viel näher als „Pestizid“. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - 
Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Falsch!) 

Pflanzenschutzmittel haben die Aufgabe, Pflanzen vor 
Schädlingen, Krankheiten und Konkurrenzpflanzen zu 
schützen; sonst wären weder Ertrag noch Menge noch 
Qualität erreichbar. Sie werden zum Schutz gegen 
Krankheiten und Schädlinge eingesetzt. 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Pesti- 
zide sind mehr als Pflanzenschutz!) 

- Ach, Frau Kollegin, Sie sind doch auch Agrarexpertin! 

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU - 
Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Eben!) 

Letztlich geht es beim Pflanzenschutz darum, Ernte- 
erträge zu sichern und die zum Teil erheblichen Ertrags- 
verluste durch Pilzerkrankungen und Schädlinge zu ver- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Max Lehmer 

(A) meiden. Es geht nicht immer darum, Erträge zu steigern, 
sondern darum, Schäden und Verluste zu minimieren. 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Herr Kollege. 

Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): 

Pflanzenschutzmittel leisten daher einen wichtigen 
Beitrag zur Ernährungssicherung und durch die Erzeu- 
gung gesunder und befallsfreier Ernteprodukte auch zur 
gesunden Ernährung. 

Wichtig ist ein Fall, den ich Ihnen schildern möchte. 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nein, Herr Kollege, das wird jetzt nicht mehr gehen, 
weil wir schon deutlich über die vorgesehene Zeit sind. 

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU 
und der FDP) 


(B) 


Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): 

Ich bin gleich fertig. Ein Beispiel sei mir noch er- 
laubt, Herr Präsident. - Es geht auch um die Bekämp- 
fung humantoxischer Stoffe, wie sie zum Beispiel durch 
Fusarien, also Schimmelpilze, im Getreide gebildet wer- 
den. Schließlich haben wir durch eine Mykotoxin- 
Höchstmengenverordnung dazu beigetragen, die Men- 
schen vor Schaden durch dieses natürliche Gift zu schüt- 
zen. Dies zeigt, dass auch natürliche Gifte erhebliche 
Probleme mit sich bringen. Ein geordneter Pflanzen- 
schutz, der Ökologie, Ökonomie und den Menschen 
schützt, ist unabdingbar. 


Vielen Dank. 


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Ulrich Kelber [SPD]: Das war das nachträgli- 
che Geburtstagsgeschenk! - Iris Gleicke 
[SPD]: Zwei Minuten zum Geburtstag!) 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Ja. Das war in der Tat der Zuschlag, den ich auch an- 
deren Kollegen einmal im Leben aus Anlass des 65. Ge- 
burtstages hiermit förmlich in Aussicht stelle. 

(Heiterkeit und Beifall) 

Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der 
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neu- 
ordnung des Pflanzenschutzrechtes. Der Ausschuss für Er- 
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt 
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der 
Drucksache 17/7671 (neu), den Gesetzentwurf der Bun- 
desregierung auf den Drucksachen 17/7317 und 17/7369 
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- 
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- 
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt 
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzent- 
wurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition 
gegen die Stimmen der Opposition angenommen. 


Wir kommen zur 

dritten Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der 
Gesetzentwurf in dritter Lesung mit den Stimmen der 
Koalition angenommen. 

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf 
der Drucksache 17/7671 (neu) empfiehlt der Ausschuss, 
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dieser Be- 
schlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer 
enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschlussemp- 
fehlung mit erkennbarer Mehrheit angenommen. 

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- 
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf 
Drucksache 17/7680. Wer stimmt für diesen Entschlie- 
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält 
sich? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mehrheit- 
lich abgelehnt. 

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: 

Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte 
Pothmer, Fritz Kuhn, Dr. Wolfgang Strengmann- 
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

Jetzt Voraussetzungen für die Einführung 
eines Mindestlohns schaffen 

- Drucksache 17/7483 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Haushaltsausschuss 

(Unruhe) 

- Dafür werden die Pflanzenschutzexperten offenkundig 
nicht alle benötigt. Vielleicht können wir den Personal- 
wechsel zügig durchführen. 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Aber es 
schadet auch nicht, Herr Präsident!) 

- Nein, es schadet überhaupt nicht. Im Gegenteil: Ge- 
rade der Blick aus einer anderen Perspektive tut dem 
Finden sachgerechter Lösungen meistens gut. 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Da sind 
wir einer Meinung, Herr Präsident!) 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu gibt 
es offenkundig keine Meinungsverschiedenheit. Dann 
können wir so verfahren. 

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der 
Kollegin Brigitte Pothmer flir die Fraktion Bündnis 90/ 
Die Grünen. 

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben 
uns entschieden, diesen Antrag hier und heute ins Ple- 
num einzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass 
es nicht nur in der Gesellschaft eine riesengroße Mehr- 



16544 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Brigitte Pothmer 

(A) heit für einen Mindestlohn gibt, sondern dass es diese 
Mehrheit in Wahrheit auch in diesem Parlament gibt. Es 
gibt eine Mehrheit dafür, Lohndumping zu stoppen und 
faire Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen. 

Wir haben ganz bewusst darauf verzichtet, in diesen 
Antrag Maximalforderungen zu schreiben. Wir betonen 
nicht das Trennende. Wir betonen die Gemeinsamkeiten, 
die sich herauskristallisiert haben. Wir haben deswegen 
auch darauf verzichtet, in unserem Antrag bereits die 
Höhe des Mindestlohnes festzulegen. Wir wollen, dass die 
Höhe des Mindestlohns von einer Mindestlohnkommis- 
sion festgesetzt wird und dass diese Mindestlohnkommis- 
sion bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns auch 
die sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen be- 
rücksichtigt. 

Meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, 
wenn ich Ihre Anträge für den Bundesparteitag, Ihre 
Stellungnahmen der letzten Tage und Wochen und das 
berücksichtige, was hier heute gesagt worden ist, dann 
komme ich zu dem Schluss, dass wir selbst Sie mit unse- 
rem Antrag nicht überfordern. 

(Lachen des Abg. Dr. Peter Tauber [CDU/ 

CSU]) 

Wo ist eigentlich Herr Weiß? Herr Weiß hat heute hier 
im Rahmen der Aktuellen Stunde nämlich gesagt, die 
CDU sei die Partei des Mindestlohnes. 

(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Hört! Hört! - 
Iris Gleicke [SPD]: Der Innenminister hat ges- 
tern genau das Gegenteil gesagt!) 

Herr Weiß, jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das waren wir 
doch schon immer, Frau Pothmer! Wir haben 
immer schon für einen Branchenmindestlohn 
gekämpft!) 

Sie können das unter Beweis stellen und zeigen, dass Sie 
nicht nur große Reden halten können, sondern dass Sie 
auch in der Lage sind, diesen Reden Taten folgen zu las- 
sen und das in Ihrer Partei und Ihrer Fraktion auch 
durchzusetzen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD - Hubertus Heil [Peine] 
[SPD]: Das wollen die nicht!) 

Ich sage Ihnen: Sie müssen sich jetzt einmal entschei- 
den, 


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben uns 
ja schon entschieden!) 

ob Sie weiterhin wollen, dass 3,4 Millionen Menschen 
nach getaner Arbeit mit weniger als 7 Euro pro Stunde 
nach Hause gehen. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie 
Lohngerechtigkeit wirklich wollen, und zwar für alle, 
unabhängig davon, ob sie für Hungerlöhne aufgrund ei- 
nes Tarifvertrages oder für Hungerlöhne außerhalb von 
Tarifverträgen arbeiten. Sie müssen sich entscheiden, ob 
Sie weiterhin Lohndumping zulassen oder faire Wettbe- 
werbsbedingungen durchsetzen wollen. 


Alle Umfragen zeigen, dass Sie von der Union unter (C) 
einem erheblichen Beweisdruck stehen. Die Bevölke- 
rung nimmt Ihnen Ihren Kursschwenk in Sachen Min- 
destlohn nämlich nicht ab. Sie müssen jetzt zeigen und 
können jetzt unter Beweis stellen, dass es Ihnen nicht 
einfach nur darum geht, politische Geländegewinne zu 
erzielen - mit der Zustimmung zu unserem Antrag kön- 
nen Sie diese Zweifel ausräumen -, sondern dass Sie 
auch die Menschen, die für Hungerlöhne arbeiten, im 
Blick haben. 

Ich danke Ihnen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion ist der 
nächste Redner. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 


Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine 
Herren! Es ist nach der Aktuellen Stunde das zweite Mal 
am heutigen Tage, dass wir über das Thema Mindestlohn 
sprechen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen 
wir so oft, bis er kommt!) 


Sie müssen damit leben: Wir halten uns an demokrati- 
sche Spielregeln. Es ist normalerweise so, dass man erst 
auf einem Parteitag diskutiert und dann in ein Parlament 
geht, um dort Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist 
das bei Ihnen anders, aber wir machen das so, und wir 
freuen uns natürlich, dass die innerparteilichen Debatten 
in der Union bei Ihnen auf ein so großes Interesse sto- 
ßen. 


(D) 


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was wollen Sie 
denn eigentlich?) 

Ich muss Sie allerdings ein bisschen aufklären. Viel- 
leicht beschäftigen Sie sich nicht intensiv genug mit 
dem, was die Union bei diesem Thema umtreibt. Ein 
Blick in unser Grundsatzprogramm hilft. Ich möchte Ih- 
nen gerne zwei Abschnitte daraus vorlesen, die ich Ihnen 
extra mitgebracht habe. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr schön!) 

Der erste Abschnitt lautet: 

Unser Leitbild für Deutschland ist die Chancenge- 
sellschaft, in der die Bürger frei und sicher leben. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Blabla!) 

Sie steht für Respekt vor Leistung und Erfolg. Und 
wir wollen die soziale Verankerung in die gesell- 
schaftliche Mitte auch für jene, die bisher davon 
ausgeschlossen sind. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warme Worte!) 

Jetzt können Sie aufschreien und sagen: Super, genau 
deswegen muss die Union jetzt ja für einen gesetzlichen 
Mindestlohn sein. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16545 


Dr. Peter Tauber 

(A) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das wäre mal 

konsequent!) 

So einfach ist es nicht. Sie werden es nicht erleben, dass 
die Union in einen Bieterwettstreit um den möglichst 
höchsten gesetzlichen Mindestlohn eintritt, nach dem 
Motto: Immer zweimal mehr als du. 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN] : Das steht in unserem Antrag auch nicht 
drin!) 

Das ist keine Lösung für die Probleme. 

Dass wir das so sehen, liegt an einem weiteren Satz, 
den Sie so wahrscheinlich in der Tat nur in unserem Par- 
teiprogramm und nicht in Ihrem finden. Er lautet: 

Die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen be- 
wahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren, 
und zeigt uns die Grenzen der Politik auf. 

Genau das tun Sie beim Thema Mindestlohn natürlich 
seit langer, langer Zeit. Sie ideologisieren 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ideologisieren 
tut immer der andere! Tolle Logik!) 

und verschieben die Grenzen der Politik in einen Be- 
reich, in dem wir uns tunlichst zurückhalten sollten; 
denn auch das ist eben eine Lehre aus den ersten 60 Jah- 
ren der Bundesrepublik Deutschland: Der Erfolg der so- 
zialen Marktwirtschaft ist maßgeblich auf der Grundlage 
der Tarifautonomie aufgebaut worden. Da hat sich die 
Politik aus dem einen oder anderen herauszuhalten. 

( ß ) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ludwig Erhard hat recht. Er hat einmal den schönen 
Satz gesagt: Die Sozialdemokraten habe ich schon 1948 
als Nachtwächter bezeichnet. Sie sind es bis zum heuti- 
gen Tage geblieben. - Das gilt unverändert fort, denn 
nachdem 1987 - hören Sie gut zu; ich glaube, das hat Ih- 
nen der Kollege Weiß heute auch schon erklärt - der 
erste branchenspezifische Mindestlohn eingeführt wor- 
den ist, sind seitdem zehn weitere Branchen gefolgt. Und 
man höre und staune: Jedes Mal war ein Christdemokrat 
Bundeskanzler. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. 
Deswegen brauchen wir da keine Nachhilfe. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Jetzt kann man fragen: Was haben Sie eigentlich ge- 
macht? Auch Sie haben einmal regiert. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sogar mit Ihnen 
zusammen, leider!) 

- Auch mit uns zusammen. - Dabei haben wir mit einer 
christdemokratischen Kanzlerin den einen oder anderen 
branchenspezifischen Mindestlohn eingeführt. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gegen Ihren 
Widerstand durchgesetzt! - Gabriele Hiller- 
Ohm [SPD]: Zum Jagen tragen!) 

Sie haben in Ihrer Regierungszeit andere Dinge ge- 
macht. Sie haben auch ohne Mindestlohn 5 Millionen 
Arbeitslose erreicht. Sie haben Griechenland in die 
Euro-Gruppe aufgenommen. Sie haben die Maastricht- 


Kriterien verletzt. Sie haben ein Körperschaftsteuerge- (C) 
setz geschaffen, bei dem die Konzerne Abschreibungs- 
möglichkeiten für Investitionen in Brasilien oder in 
Großkrotzenburg hatten. 

(Sebastian Blumenthal [FDP]: Eine Superbi- 
lanz ist das!) 

Sie haben am Ende ein Finanzmarktförderungsgesetz be- 
schlossen, anstatt sich um das zu kümmern, was Sie jetzt 
einfordern. 

Ich möchte einmal das vorlesen, was Franz 
Müntefering damals gesagt hat. Er hat zum Beispiel er- 
klärt, es sei darauf zu achten, dass unnötige Belastungen 
für die Unternehmen der Finanzdienstleistungsindustrie 
vermieden werden. Regulierung sei kein Selbstzweck. 

Die Bundesregierung solle weitere Maßnahmen zur 
Schaffung eines leistungsfähigeren, international wettbe- 
werbsfähigen Verbriefungsmarktes prüfen. Und Sie ha- 
ben Derivate, Hedgefonds etc. zugelassen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau! Wir ha- 
ben die Finanzkrise erfunden! Klar! Wo leben 
Sie denn?) 

Dass Sie bei diesen politischen Entscheidungen keine 
Zeit hatten, einen branchenspezifischen oder gar einen 
gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, das mag Ihnen 
nachgesehen werden. Sie hatten in der Tat ein volles Ar- 
beitsprogramm. Aber uns hier vorzuwerfen, wir seien 
untätig gewesen, das schlägt dem Fass den Boden aus. 

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sind Sie doch 

das ganze Jahr!) ^ 

- Nein, das sind wir eben nicht. - Wir haben elf bran- 
chenspezifische Mindestlöhne eingeführt. Wir reden 
jetzt darüber, eine Lohnuntergrenze dort einzuführen, wo 
es keinen tariflichen Lohn gibt. 

(Katja Mast [SPD]: Wie hoch ist denn der 
Lohn, der anständig ist? - Weiterer Zuruf von 
der SPD: Das war schwierig, nicht wahr?) 

- Für Sie reicht es intellektuell immer noch, Frau Kolle- 
gin. Ganz ehrlich: Diese Bemerkung kann ich mir nach 
diesem Zwischenruf nicht verkneifen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP - Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 
Bürgerliche Manieren? Unglaublich!) 

- Herr Heil, auch da gilt das, was ich Ihrer Kollegin ges- 
tern gesagt habe: Wer schreit, hat unrecht. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nehmen Sie 
das einmal zurück! Gehen Sie noch einmal zur 
Jungen Union!) 

Sie können sich zu einer Zwischenfrage melden. Sie 
können weiter toben. Aber trotzdem werde ich mich 
nicht auf Ihr Niveau in der Debatte herablassen. Da kön- 
nen Sie ruhig weiterschreien. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Es bleibt dabei: Wir haben elf branchenspezifische 
Mindestlöhne eingeführt. Wir streiten für eine Lohnun- 
tergrenze, die genau dies leisten soll. Dass sich die Tarif- 



16546 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Peter Tauber 

(A) partner, also starke Gewerkschaften gemeinsam mit Un- 
ternehmern, die sozialverantwortlich handeln, darauf 
verständigen, das ist soziale Marktwirtschaft. 

(Zuruf von der LINKEN: Märchenstunde!) 

Wir brauchen beide Seiten: starke Gewerkschaften und 
sozialverantwortlich handelnde Unternehmer. 

Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Diese 
gesellschaftlichen Kräfte müssen wir stärken. Wir dürfen 
nicht glauben, dass wir das in einem Bieterwettbewerb 
in der Politik besser machen. Dabei bleibt es. Das wer- 
den Sie am Montag und am Dienstag auf dem Bundes- 
parteitag der Union mitverfolgen können. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nichts kommt 
dabei heraus!) 

Ich lade Sie dazu herzlich ein. Der Lerneffekt kommt 
manchmal bei der Wiederholung. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Machen Sie ein 
Gesetz oder nicht?) 

Insofern ist es gut, dass Sie zugehört haben. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Gabriele Lösekrug-Möller ist die nächste Rednerin 
für die SPD-Fraktion. 

(B) (Beifall bei der SPD) 

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe 
Kolleginnen und Kollegen! Viele im Bundestag kennen 
das Struck’sche Gesetz. Das heißt: Kein Gesetz verlässt 
das Parlament so, wie es eingebracht wurde. Dieses Ge- 
setz zeigt, wie kraftvoll ein Parlament ist. 

Kennen Sie das Merkel’sche Gesetz? Es lautet: Je ve- 
hementer etwas abgelehnt wird, desto sicherer kommt es 
dann. Das haben wir beim Atomausstieg gesehen. Das 
haben wir bei der Abschaffung der Wehrpflicht erlebt. 
Auch beim Schuldenschnitt für Griechenland kam dieses 
Gesetz zum Tragen. 

(Beifall bei der SPD) 

Ich frage Sie: Wie lange müssen wir jetzt warten, bis das 
Merkel’sche Gesetz in Sachen Mindestlohn kommt? 

Ich sage Ihnen: Jeder Tag, der untätig vergeht, ist ein 
verlorener Tag für 1,6 Millionen Menschen, die hart ar- 
beiten, vollschichtig erwerbstätig sind und trotzdem am 
Ende nicht von ihrer Hände Arbeit leben können. Sie 
finden nicht, dass es ein Witz ist, wenn der Kollege Weiß 
heute sagt: „Mindestlöhne sind das Markenzeichen der 
CDU.“ Herr Kollege Weiß, darüber mögen Sie lachen 
können und sich freuen. Die Menschen, die am Ende des 
Monats nicht genug Geld haben, empören sich darüber. 
Denn sie fühlen sich in ihrer Lebenssituation nicht ver- 
standen. 


(Beifall bei der SPD) 

Sie haben die Hoffnung, dass ihnen bei dem Schauspiel, 
das gerade anfängt, in der nächsten Woche in Leipzig 
Hilfe zuteilwird. Wir können ihnen heute schon sagen: 
Vorsicht an der Bahnsteigkante! Aller Wahrscheinlich- 
keit kommt nichts dabei heraus. 

Herr Tauber, hatten nicht auch Sie kürzlich Post vom 
DGB? Ich habe einen Brief vom DGB bekommen mit 
der herzlichen Bitte, ganz dringend für einen gesetzli- 
chen Mindestlohn zu sorgen. Das sieht nicht nur der 
DGB so, sondern auch die Einzelgewerkschaften sehen 
es so. Sie halten das für unverzichtbar und sagen: Es hilft 
unserer Tarifpolitik, wenn es den gesetzlichen Mindest- 
lohn gibt. 

Wenn Sie meinen, dass Sie an der Seite der Tarifver- 
tragsparteien stehen, sollten Sie aufpassen, dass Sie nicht 
in Kürze ganz allein dastehen. Das sieht nämlich gar 
nicht gut aus, und es hilft auch den Menschen nicht. 

(Beifall bei der SPD) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Frau Lösekrug-Möller, darf der Kollege Weiß Ihnen 
eine Zwischenfrage stellen? 

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): 

Immer gern. 

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): 

Frau Kollegin Lösekrug-Möller, es gibt zwei Arten 
von Politik: Bei der einen redet man einfach viel, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wie bei Ih- 
nen!) 

und bei der anderen handelt man. Können Sie mir bestä- 
tigen, dass wir in Deutschland auf Vorschlag der Tarif- 
partner mittlerweile in zehn Branchen Mindestlohnrege- 
lungen haben, 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Auf unseren 
Druck!) 

dass diese zehn Mindestlöhne für über 4 Millionen Be- 
schäftigte in Deutschland allesamt unter der Kanzler- 
schaft von Helmut Kohl und Angela Merkel in Kraft ge- 
setzt worden sind und dass unter der Kanzlerschaft von 
Gerhard Schröder kein einziger Mindestlohn in Kraft ge- 
setzt worden ist und somit in der Kanzlerschaft eines so- 
zialdemokratischen Kanzlers, um mit Ihren Worten zu 
sprechen, eine besondere Zuneigung zu Menschen im 
Niedriglohnbereich offensichtlich nicht geherrscht hat? 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): 

Darauf antworte ich Ihnen besonders gerne, Herr Kol- 
lege Weiß. Denn wir haben viel gemeinsame Zeit im 
Fachausschuss verbracht, und meine Antwort lautet: Es 
gibt nur eine gute Politik, und zwar die, bei der Wort und 
Tat zusammenfallen. Das vermisse ich bei der CDU/ 
CSU. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Gabriele Lösekrug-Möller 

(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Wir haben all diese Lösungen organisiert - hören Sie 
mir schön zu! weil es mit Ihnen nicht möglich war, ei- 
nen gesetzlichen Mindestlohn durchzubringen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Zur Wahrheit gehört doch, dass Sie sich über Jahre hin- 
weg hinterher die Zähne geputzt haben, wenn Sie das 
Wort „Mindestlohn" in den Mund nehmen mussten. Wir 
sind zum Glück ein Stückchen weiter und sagen: Ja, wir 
wollen jede Hilfe geben, die möglich ist. 

Mehr war nicht drin. Wir sagen: Das reicht uns nicht. 
Auch die Gewerkschaften sagen: Das war in Ordnung, 
aber wir wollen mehr. Das wollen wir mit der Mehrheit 
in Deutschland. 

Ich bin fertig mit der Beantwortung der Frage. 

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: 

Frau Lösekrug-Möller, Sie reden nur, aber ge- 
handelt haben Sie nie!) 

- Falsch. Sie haben die Chance, das im Protokoll nach- 
zulesen. Dann werden Sie sehen, dass ich Ihnen sehr 
korrekt geantwortet habe. 

Ich wünsche mir, dass auch bei Ihnen Handeln und 
Reden zusammenfallen. Denn das haben die vielen Men- 
schen, die immer noch auf einen ordentlichen Lohn war- 
ten, verdient. Es reicht nicht aus, wenn man Tarifab- 

(B) Schlüsse mit Löhnen hat, die unter dem liegen, was zum 
Leben reicht. Wir haben heute Morgen lange darüber 
diskutiert. Auch diesen Menschen wollen wir helfen. Sie 
würden nämlich nicht mit der Lösung klarkommen, die 
Sie vorschlagen. 

(Beifall bei der SPD) 

Sie müssen bei der Wahrheit bleiben: Am Ende wäre 
Ihr Vorschlag ein Flickenteppich. Damit könnte man 
noch leben, auch wenn Herr Laumann sagt, 500 Lohnun- 
tergrenzen seien ein bisschen viel. Ich stehe sehr an sei- 
ner Seite. Aber das Allerschlimmste ist: Der Flickentep- 
pich hätte riesengroße Löcher. Das wollen wir in der Tat 
nicht hinnehmen. 

Es ist erwiesen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn gut 
für Deutschland insgesamt ist. Deshalb finden wir den 
Antrag der Grünen, den wir jetzt diskutieren, ausge- 
zeichnet. Das ist errechnet worden. Frau Kramme hat 
das heute Morgen im Plenum belegt. Es ist interessant, 
dass das Ministerium seit August auf Evaluierungser- 
gebnissen zu jenen Mindestlöhnen hockt, die wir immer- 
hin zustande gebracht haben; denn das waren nicht Sie 
allein, Herr Weiß, und auch nicht die CDU/CSU allein. 
Das Ergebnis dieser Evaluierung ist: Mindestlohn ist 
grundsätzlich richtig. 

Interessant ist, dass diese Ergebnisse uns als Parla- 
ment bis heute nicht vorliegen. Es gab ein unglaubliches 
Geeiere vom Staatssekretär Brauksiepe, der gerade die- 
sen Saal betritt. Wir haben eine Ausschusssitzung erlebt, 
in der es wirklich bitter zuging, nach dem Motto: Die 


Endfassung muss noch bearbeitet werden. - Wahrschein- (C) 
lieh bekommen wir das Ergebnis nach dem Bundespar- 
teitag der CDU. Wir würden uns gar nicht wundern, 
wenn das Ganze auf einmal zusammenpasst. 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gute Beschlüsse 
in Leipzig und den Menschen in Deutschland endlich ei- 
nen gesetzlichen Mindestlohn. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vögel für 
die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Liebe Kollegin Pothmer, auch ich danke Ihnen, dass wir 
dieselbe Debatte am gleichen Tag jetzt das zweite Mal 
führen dürfen. 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Dann sagen Sie aber mal was anderes!) 

Das ist eine ganz gute Gelegenheit, sich einmal anzu- 
schauen, wie Sie sich das vorstellen. Vielleicht erkennt 
man dann auch, dass die Befürchtungen, die wir haben, 
gerechtfertigt sind. 

(D) 

Ich will erst einmal an die Grundlage dieser Debatte 
erinnern; denn sie geht bei den Diskussionen unter den 
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern immer unter. Wir re- 
den gerne über das deutsche Jobwunder. Darüber freuen 
Sie sich hoffentlich genauso wie wir: unter 3 Millionen 
Arbeitslose, eine extrem niedrige Jugendarbeitslosigkeit. 

Die Frage ist ja: Kommt das von allein zustande, oder 
hat das Gründe? 

(Alexander Siißmair [DIE LINKE] : Leiharbeit, 

Zeitarbeit, Niedriglohn!) 

- Nein. - Das hat natürlich Gründe, und zwar drei: Klar, 
wir haben enorme, innovative, wettbewerbsfähige Un- 
ternehmen in Deutschland. 

Ja, wir haben einen flexiblen Arbeitsmarkt. Bei vielen 
anderen Debatten wird deutlich: Sie wollen gerne zu- 
rückdrehen, was Sie einmal erreicht haben. Darüber 
streiten wir gerne: über Befristungen, über andere Mög- 
lichkeiten der Flexibilisierung. Wenn Sie etwa die Zeit- 
arbeitsregelungen kaputtmachen wollen, dann wollen 
Sie das kaputtmachen, was durch mehr Flexibilität er- 
reicht worden ist. 

Aber zum Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt ge- 
hört eben auch die Tarifautonomie. Dazu gehört eben 
auch, dass in Deutschland Arbeitgeber und Arbeitneh- 
mer die Löhne vereinbaren. Und das ist gut so. Wenn 
man die Tarifautonomie achtet, dann kann man, glaube 
ich, in Anerkennung, dass es in einzelnen Branchen und 
in einzelnen Unternehmen natürlich Lohnprobleme gibt, 



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Johannes Vogel (Lüdenscheid) 

(A) die auch wir nicht wollen, nur zu dem Ergebnis kom- 
men: Wir gehen dreistufig vor. 

Der Regelfall ist: Die Tarifpartner bringen die Lohn- 
festsetzung ganz gut ohne die Politik zustande. Wenn die 
Tarifpartner einer Branche zu dem Ergebnis kommen, 
sie wollen einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich 
erklärt haben, dann ist das möglich. Der Kollege Weiß 
führt das immer wieder gerne aus - der Kollege Kolb hat 
daran schon in den 90er-Jahren mitgewirkt -: Dann wer- 
den Branchentarifverträge in der untersten Lohngruppe 
für allgemeinverbindlich erklärt. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie viel Min- 
destlohn hat das gebracht? Null!) 

Dies haben wir in dieser Legislaturperiode schon in vie- 
len Branchen gemacht. Nächster Schritt: Selbst wenn es 
dann noch Probleme geben sollte, gibt es die letzte Auf- 
fanglinie - das Mindestarbeitsbedingungengesetz. Das 
heißt, in Summe gibt es keinen Grund, diese Betrach- 
tung, die im Kern heißt: „Die Lohnfindung liegt in der 
Hand der Tarifpartner und nicht hier im Deutschen Bun- 
destag“, zu verlassen. 

(Beifall bei der FDP - Brigitte Pothmer 
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit 
der Mindestlohnkommission?) 

- Ich gehe auf Ihren Antrag gleich noch ein, Frau Kolle- 
gin Pothmer. 

Hier wird immer wieder auf die Evaluation der Bran- 
chenmindestlöhne verwiesen. 

(B) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die es ja nicht 

gibt!) 

Ich will noch einmal festhalten: Diese Evaluation muss 
von der Bundesregierung nicht vorgelegt werden; viel- 
mehr haben die Koalitionsfraktionen die Regierung auf- 
gefordert, sie vorzulegen. 

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, wir haben 
sie doch schon! Inoffiziell!) 

Deswegen gibt es auch keine Frist, bis zu der sie er- 
scheint. Wir werden sie in den nächsten Wochen noch 
ausführlich diskutieren. 

Sie zitieren immer wieder aus den vorläufigen Ergeb- 
nissen, die in der Presse schon kursieren. Selbst bei die- 
sen vorläufigen Ergebnissen ist eines klar - das erwarte 
ich auch -: Es ist überraschenderweise nicht alles 
schlecht, was wir gemacht haben. Noch etwas ist klar: 
Die Ergebnisse werden differenziert sein. Dann müssen 
aber auch die Lösungen differenziert sein. Warum Sie 
aus einer Evaluation von Branchenmindestlöhnen - die 
Tarifpartner haben die Lohnhöhe festgelegt - ableiten, 
wir könnten jetzt eine allgemeine Lohnuntergrenze für 
ganz Deutschland, für alle Branchen, für alle Altersgrup- 
pen festlegen, das werden Sie mir noch erklären müssen. 

(Alexander Siißmair [DIE LINKE]: Das ist 
ganz einfach! Das kann ich Ihnen ganz einfach 
erklären! Sie müssen nur zuhören!) 

Den Grund kann ich nicht erkennen. Ich glaube, das wird 
auch aus den Ergebnissen nicht abzuleiten sein. Aber 


warten wir ab, bis sie vorliegen; dann können wir sie in 
Ruhe diskutieren. 

Sie wollen aber eine allgemeine Grenze; das schrei- 
ben Sie auch ganz offen. Weil darüber nicht der Bundes- 
tag entscheiden soll, verkünden Sie seit, glaube ich, zwei 
Jahren die Umwegkonstruktion, das Ganze werde in ei- 
ner unabhängigen Kommission behandelt. 

(Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- 
frage) 

- Herr Kurth, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wol- 
len: sehr gerne. 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Gut. - Bitte schön, Herr Kurth. Sie dürfen eine Zwi- 
schenfrage stellen. 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Ich habe kurz auf meine Redezeit gesehen. Es ist mir 
daher sogar sehr lieb, wenn Sie eine Zwischenfrage stel- 
len. 

(Heiterkeit) 

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Vogel, Sie sagen, Sie könnten den Sinn einer all- 
gemeinen Lohnuntergrenze nicht erkennen. Stimmen Sie 
mir zu, dass die Einschätzung Ihres Parteikollegen 
Pascal Kober, der auch hier sitzt, zutrifft, der - so wird er 
zumindest in der Welt von heute zitiert - sagte: 

Unternehmen zahlen Niedrigstlöhne und wälzen 
ihre Kosten so aufSteuer- und Beitragszahler ab. 

Meinen Sie nicht, dass das ein hinreichender Grund ist, 
eine allgemeine Untergrenze einzuführen? 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Herr Kurth, sowohl der Kollege Kolb als auch ich ha- 
ben Ihnen heute Morgen schon gesagt: Was wir nicht 
wollen, ist, dass Unternehmer niedrigere Löhne zahlen 
als sie könnten. Niemand von uns wünscht sich niedrige 
Löhne. Nur, zur Wahrheit, Herr Kurth, gehört - auch das 
haben wir heute Morgen nicht zum ersten Mal hinläng- 
lich diskutiert -: Zu niedrige Löhne, also Löhne, von de- 
nen die Menschen nicht leben können, müssen ja Löhne 
sein, zu denen die Menschen ergänzende Hartz-IV-Leis- 
tungen bekommen. Das betrifft in Deutschland 300 000 
Menschen, die Vollzeit arbeiten. Die weit überwiegende 
Zahl dieser Menschen stockt doch nicht wegen der Lohn- 
höhe auf, sondern weil sie eine große Familie haben. Wir 
können das gerne hundertmal diskutieren. Wir glauben, 
dass es eine sozialpolitische Errungenschaft ist, dass Fa- 
milien unterstützt werden. Sie machen daraus ein Pro- 
blem der Lohnhöhe. Das ist es aber nicht. 

Es gibt nur wenige schwarze Schafe unter den Unter- 
nehmern, die zu niedrige Löhne zahlen. Dafür müssen 
wir eine Lösung finden. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Johannes Vogel (Lüdenscheid) 

(A) (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN: Aha!) 


Ich erkenne an, Frau Kollegin Pothmer, dass Sie sich 

für eine unabhängige Kommission aussprechen. 

(B) 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 
Genau! Das wäre der erste Schritt!) 


Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Gerne. 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Bitte schön. 

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): 

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel, dass Sie die Frage 
zulassen. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, 
dass die drei Oppositionsfraktionen den Vorschlag ge- 
macht haben, eine unabhängige Kommission für die 
Festlegung der Steigerungsraten des Mindestlohns ein- 
zusetzen, dass dieses Verfahren genauso in Großbritan- 
nien eingeführt worden ist, wo die Low Pay Commission 
einen Vorschlag für die Steigerungen vorlegt, und dass 
die Einführung des Mindestlohns selbst aber politisch 
festgesetzt worden ist? 

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): 

Ich kenne das Modell in Großbritannien gut. Darauf 
beziehen Sie sich in der Tat immer wieder. Wenn man ge- 
nau hinschaut, stellt man fest, dass die Kommission in 
Großbritannien nicht nur die Steigerungen festlegt, son- 
dern auch die Einstiegshöhe. Der Mindestlohn in Großbri- 
tannien gilt übrigens nicht für junge Menschen, ganz be- 
wusst nicht. Also, es gibt dort keine allgemeine, alles 
übergreifende Lohnuntergrenze. Der Mindestlohn in 
Großbritannien ist zudem in der wirtschaftlichen Boom- 
phase eingeführt worden und erlebt jetzt die erste Krise, 
interessanterweise ist die Arbeitslosigkeit in Großbritan- 
nien heute deutlich höher als in Deutschland; das wün- 
schen wir uns wohl nicht. Großbritannien hat zudem keine 
vergleichbare Tradition bei der Tarifautonomie. Groß- 
britannien hat zudem viel weniger starke Tarifpartner, die 
Flächentarifverträge festlegen. Die Frage ist doch - das 
habe ich bereits in der Aktuellen Stunde ausgeführt -: 
Wollen wir diese Tradition der Tarifpartner beibehalten 
oder nicht? 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Es geht 
um Mindestlöhne und nicht um Tarifautono- 
mie!) 

Wenn Sie den Tarifpartnern die Lohnfmdung entziehen, 
wenn Sie sagen, dass die Lohnfmdung nicht mehr in ers- 
ter Linie die Aufgabe der Tarifpartner ist, dann werden 
Sie die Tradition der deutschen Tarifautonomie schwä- 
chen. Davon bin ich fest überzeugt. 

Frau Kollegin Pothmer, ich erkenne natürlich an, dass 
Sie das alles jetzt weggelassen haben. Ich muss aller- 
dings dazusagen, dass das nicht besonders glaubwürdig 
ist. Sie legen uns seit zwei Jahren Anträge zur Höhe des 
Mindestlohns vor und verlieren nun kein Wort darüber. 
In der Begründung verweisen Sie aber auf Ihren eigenen 
Gesetzentwurf, der einen Mindestlohn in Höhe von 
7,50 Euro vorsieht, sowie auf die Gesetzentwürfe der an- 
deren Oppositionsfraktionen, die andere Lohnvorgaben 
machen. Darüber hinaus schreiben Sie, dass Sie einen 
mehrheitsfähigen Gesetzentwurf der Bundesregierung 
verlangen, auch was die Lohnhöhe angeht. 


Das habe ich gelesen. Wir sollten immer lesen, was wir 
uns gegenseitig Vorschlägen. Nur, seit zwei Jahren schla- 
gen alle drei Fraktionen, die für den Mindestlohn sind, 
die Einrichtung einer unabhängigen Kommission vor. 

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Wir schon seit fünf Jahren!) 

- Damals war ich noch nicht dabei. Ich erkenne gerne 
an: die Grünen schon seit fünf Jahren. - Das Problem ist: 
Sie wollen, dass diese von der Politik unabhängige 
Kommission bei der Festlegung der Mindestlohnhöhe 
eine bestimmte Grenze nicht unterschreitet. Sie von den 
Grünen nennen als Betrag 7,50 Euro, 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN] : Das steht ausdrücklich nicht drin, Herr 
Vogel!) 

Sie von der SPD aktuell 8,50 Euro und Sie von den Lin- 
ken 10 Euro. Eine Kommission, der von der Politik vor- 
gegeben wird, wie hoch der Lohn zu sein hat, ist alles 
andere als unabhängig. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Herr Kollege, möchten Sie eine weitere Zwischen- 
frage beantworten, und zwar vom Kollegen Birkwald? 


Das ist genau das, was ich eben beschrieben habe. Nur, 
es muss doch eine Lösung sein, mit der das Kind nicht 
mit dem Bade ausgeschüttet wird und gleich die ganzen 
Grundlagen der deutschen Tarifautonomie aufgegeben 
werden. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Deswegen kann es nur die dreistufige Lösung geben. 
Wenn die Tarifpartner das selber hinbekommen, besteht 
kein Handlungsbedarf. Wenn die Tarifpartner keine Eini- 
gung erzielen, können wir Tarifverträge für allgemein- 
verbindlich erklären - das haben wir in großer Zahl ge- 
tan -, und als letzte Möglichkeit haben wir das 
Mindestarbeitsbedingungengesetz. 

Die Frage ist, warum es, wie Sie sagen, etwas darüber 
hinaus geben muss. Damit sind wir bei einer allgemei- 
nen Lohnuntergrenze. Ich kann aus Ihren Anträgen der 
letzten Jahre nur schließen, dass Sie selber erkennen, 
dass dann, wenn die Politik das in der Hand hätte, wir 
ganz schnell einen Überbietungswettbewerb bezüglich 
der Lohnhöhe hätten. Dann wären wir ganz schnell in 
der Situation wie in anderen Ländern, in denen die 
Löhne so hoch sind, dass sie die Chancen der Menschen, 
einen Arbeitsplatz zu bekommen oder den Arbeitsplatz 
zu behalten, zerstören. Genau das wollen wir nicht. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Johannes Vogel (Lüdenscheid) 

(A) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN] : Machen Sie doch einen Änderungsvor- 
schlag!) 

Liebe Frau Pothmer, damit haben Sie sich von dem Ge- 
danken, dass die Politik bestimmen soll, welcher Lohn 
akzeptabel ist und welcher nicht, noch gar nicht verab- 
schiedet. Das zeigt, dass mit Ihnen - selbst dann, wenn 
man es wollte - kein überparteilicher Konsens über eine 
unabhängige Kommission zu erzielen wäre. Vielmehr 
wäre die Lohnfmdung wieder da, wohin sie nicht gehört, 
nämlich hier im Deutschen Bundestag, also auch bei Ih- 
nen und bei den Kollegen von der Linken. Da wollen wir 
sie im Interesse der arbeitenden und arbeitsuchenden 
Menschen in diesem Land nicht haben. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Deswegen - und weil Sie die Tarifautonomie damit 
kaputtmachen - kommt für die Koalitionsfraktionen in 
Summe eine Zustimmung zu Ihrem Antrag leider nicht 
infrage. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Michael Schlecht ist der nächste Redner für die Frak- 
tion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

(ß) Michael Schlecht (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die 
Gewerkschaften und die Linke wollen den Mindestlohn 
mit einem festen Betrag per Gesetz einführen. Die Ge- 
werkschaften wollen 8,50 Euro. Meine Gewerkschaft 
Verdi sagt mittlerweile dazu, dass in schnellen Schritten 
10 Euro kommen sollen, 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was für 
ein Zufall!) 

und 10 Euro sind auch der Betrag, den die Linke als ge- 
setzlichen Mindestlohn möglichst unverzüglich in die- 
sem Lande politisch festsetzen will. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Jetzt erleben wir plötzlich seit ein oder zwei Wochen, 
dass die CDU und - seit dem Antrag, der hier zur De- 
batte steht - auch die Grünen in trauter Eintracht diese 
Startmarke nicht mehr selbstständig hier im Parlament 
politisch setzen wollen, sondern dass für die Ermittlung 
eines Startmindestlohns eine Kommission eingesetzt 
werden soll. 

(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN] : Das hat doch auch Ihr Kollege ge- 
rade gesagt!) 

Nach Auffassung von Gewerkschaften und uns sollte 
eine solche Kommission nach einem politisch festge- 
setzten Startmindestlohn nur Vorschläge für weitere Stei- 
gerungen machen. Diese Kommission wird nun in Ihrem 
Konzept missbraucht, den Startmindestlohn festzuset- 


zen. In dieser Kommission sollen die Tarifvertragspar- (C) 
teien das Ganze aushandeln. 

(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP] : Das ist 
überparteilicher Konsens, Frau Pothmer!) 

Ich sage Ihnen ganz deutlich: So etwas kann sich nur je- 
mand ausdenken, der von der Tarifwirklichkeit keine 
Ahnung hat oder der die Öffentlichkeit über seine Vorha- 
ben bewusst täuschen will. 

(Beifall bei der LINKEN - Johannes Vogel 
[Lüdenscheid] [FDP] : Frau Pothmer, sehen Sie 
es endlich ein: Es gibt keine Mehrheit für eine 
unabhängige Kommission! Die wird es nie ge- 
ben!) 

Mit der Agenda 2010, die SPD und Grüne 2003 unter 
Applaus der rechten Seite beschlossen haben, ist der Ta- 
rifautonomie ein schwerer Schlag versetzt worden; zum 
Teil ist sie sogar zerstört worden. Wenn immer mehr 
Menschen befristet arbeiten und um die Verlängerung 
zittern, wenn immer mehr Menschen nur einen Leihar- 
beitsjob haben, wenn vor allem immer mehr Frauen in 
Minijobs die Arbeitswelt nur noch in einer zerstückelten 
Weise erleben, dann ist das eine Situation, in der es für 
die betroffenen Menschen sehr schwierig ist, sich zu 
wehren und gewerkschaftlich zu organisieren. Das ver- 
deutlicht, dass die anderen vier Parteien, diese ganz 
große Koalition, im letzten Jahrzehnt die gewerkschaftli- 
che Handlungsmacht für die Durchsetzung gerechter Ar- 
beitsbedingungen und gerechter Löhne durch die 
Agenda 2010 massiv beschädigt und zerstört haben. Das 
ist der Sachverhalt. (D) 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Matthias 
Zimmer [CDU/CSU]: Deswegen brauchen wir 
einen großen Bruder!) 

Hinzu kommt die allgegenwärtige Angst vor dem Ab- 
sturz in Hartz IV, die wie eine disziplinierende Peitsche 
über den Köpfen vieler kreist und die die gewerkschaftli- 
chen Handlungsmöglichkeiten zusätzlich eingeschränkt 
hat. 

Vor diesem Hintergrund ist es wirklich schon eine In- 
famie, zu sagen: Jetzt sollen doch die Tarifvertragspar- 
teien den Startmindestlohn festsetzen. - Den Schwarzen 
Peter den Tarifvertragsparteien zuzuschieben, ist bildlich 
gesprochen so, als würde man jemandem die Beine bre- 
chen und dann von ihm verlangen, 100 Meter in 10 Se- 
kunden zu laufen. Das ist natürlich vollkommen aben- 
teuerlich und zeigt nur Ihre Geisteshaltung: Sie wollen 
im Grunde genommen gar keinen Mindestlohn bzw. eine 
Lohnuntergrenze. 

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So einen 
Quatsch habe ich noch nie gehört! - Weiterer 
Zuruf von der CDU/CSU: Unfug!) 

- Sie kennen die Wirklichkeit nicht. Das ist das Problem. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Wenn CDU und Grüne jetzt Krokodilstränen ob des 
Schicksals der Hunger- und Niedriglöhner vergießen 
und die Einrichtung einer Kommission fordern. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Michael Schlecht 

( A) (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU] : Ver- 

schwörungstheorie! ) 

dann ist das im Grunde genommen nichts anderes als ein 
fauler Trick, mit dem man den Eindruck zu erwecken 
versucht, man wolle eine Lohnuntergrenze, man wolle 
einen Mindestlohn durchsetzen; aber in Wirklichkeit 
wird hier nur eine riesengroße Nebelkerze geworfen. 
Dass in Anbetracht der Not der Menschen - diese ist ja 
in diesem Hause heute weidlich dargestellt worden - mit 
einer solchen Nebelkerze operiert wird, ist wirklich eine 
Schweinerei. Damit werden die Menschen, die unter 
Hungerlöhnen und den Verhältnissen leiden, auch noch 
verhöhnt. 

Danke schön. 

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der 
CDU/CSU: Das war aber ganz schlecht, Herr 
Schlecht!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lange für die 
CDU/CSU -Fraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ulrich Lange (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 
Mindestlohn, die Zweite - so könnte man das heute nen- 
nen. Ich habe mich gefragt, welchen Erkenntnisgewinn 
wir heute Nachmittag erzielen werden. Mich erinnert das 
hier so ein bisschen an eine nachmittägliche Schulstunde 

(B) zur Wiederholung. Sie, Herr Schlecht, nehme ich aller- 
dings aus; denn das, was Sie da gerade vorgebracht ha- 
ben, war einfach unterirdisch. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Da muss ich sogar der Kollegin Pothmer zur Seite sprin- 
gen. Ich habe den Antrag der Grünen gelesen. Man kann 
da sicherlich über vieles diskutieren. Aber dass wir jetzt 
gemeinsam in einen Topf geworfen werden, finde ich 
wirklich bemerkenswert. Das schafft wirklich nur die 
Linke. 

(Hans-Joachim Otto, Pari. Staatssekretär: Das 
hat Frau Pothmer nicht verdient!) 

Ja, die Grünen haben sich von ihrem ursprünglichen 
Plan, einen staatlichen Mindestlohn festzulegen, ein we- 
nig wegbewegt und sich dem System einer Lohnunter- 
grenze genähert. Ich nehme einmal an, dass Sie eine An- 
leihe bei § 5 Tarifvertragsgesetz gemacht haben und 
diesen analog anwenden wollen, um hier irgendwo Bo- 
den zu finden. 

Ich möchte zunächst festhalten, nachdem vorhin et- 
was hart diskutiert wurde, dass es die Union war, die die 
Branchenmindestlöhne äußerst erfolgreich eingeführt 
hat. Wort und Tat haben bei der Union - da muss ich 
dem Kollegen Weiß recht geben - über die Jahrzehnte 
sozialer Marktwirtschaft zusammengepasst. 

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Kirsten 
Tackmann [DIE LINKE]: Das ist ja das Pro- 
blem!) 


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Nach- (C) 
hilfe in diesem Bereich brauchen wir von Ihnen nicht. 

Wir haben von Rot-Grün einen Scherbenhaufen in Form 
von 5 Millionen Arbeitslosen übernommen. Seitdem die 
christlich-liberale Koalition unter Angela Merkel regiert, 
reparieren wir eine arbeitsrechtliche bzw. arbeitsmarkt- 
politische Baustelle nach der anderen. Ich nenne als Bei- 
spiel für den Themenkomplex Zeitarbeit nur den Fall 
Schlecker mit dem Drehtüreffekt. All die Missstände, 
die die Koalition zu beseitigen versprochen hat, hat diese 
Koalition in den letzten zwei Jahren angepackt und alles 
solide, auf verfassungsmäßiger Grundlage zu einem gu- 
ten und seriösen Ende gebracht. Das bitte ich in der jetzi- 
gen Diskussion um Einführung einer Lohnuntergrenze in 
die Überlegungen einzubeziehen. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Ich will nicht zum fünften Mal auf die Agenda 2010 
eingehen. Ich bleibe allerdings dabei: Sie war in vielen 
Punkten nicht falsch, auch wenn Sie heute davon nichts 
mehr hören wollen. Aber den Mindestlohn, liebe Kolle- 
ginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie damals 
nicht eingeführt. 

Dass wir - auch darauf ist heute schon mehrfach ein- 
gegangen worden - seit Ludwig Erhard die soziale 
Marktwirtschaft stringent fortentwickelt haben, möchte 
ich am Beispiel eines Gesetzes deutlich machen. - 
Wieso leuchtet der Präsident? 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Weil der Kollege Schlecht Ihnen gerne eine Zwi- 
schenfrage stellen möchte und ich Sie fragen muss, ob 
Sie diese zulassen wollen. 

Ulrich Lange (CDU/CSU): 

Das machen wir danach. 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Was heißt „danach“? 

Ulrich Lange (CDU/CSU): 

Ich muss meine Redezeit heute nicht unnötig verlän- 
gern. Wenn er danach intervenieren will, kann er das tun. 

Dann antworte ich oder auch nicht; jetzt mache ich wei- 
ter. 

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der 
CDU/CSU - Iris Gleicke [SPD]: Seien Sie 
doch nicht so unfreundlich zum Präsidenten!) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Gut. 

Ulrich Lange (CDU/CSU): 

Wir haben heute lange genug über das Thema gespro- 
chen. 

1952 wurde unter Ludwig Erhard das Mindestarbeits- 
bedingungengesetz eingeführt, und seitdem haben wir 
die soziale Marktwirtschaft stringent weiterentwickelt. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ulrich Lange 

(A) Heute diskutieren wir über Lösungen in tariffernen Be- 
reichen, weil auch wir natürlich erkennen, dass es Tarif- 
flucht gibt, dass es Branchen gibt, in denen die Tarifpart- 
nerschaft nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen. 
Das heißt aber nicht - das möchte ich in aller Deutlich- 
keit sagen -, dass wir den Grundsatz der Tarifautonomie 
auch nur im Geringsten aufzuweichen oder gar aufzuge- 
ben gedenken. 

Die Allgemeinverbindlichkeit - das ist auch vom 
Kollegen Vogel schon angesprochen worden - war bis- 
her ein sehr gutes und sehr schlüssiges Mittel, Mindest- 
löhne und tarifliche Bedingungen festzuschreiben. Ich 
erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es überwiegend 
christlich-liberale Regierungen waren, die Tarifverträge 
für allgemeinverbindlich erklärt haben. Also tun wir 
bitte heute nicht so, als ob das alles neu und quasi eine 
Erfindung aus irgendeiner Richtung wäre. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Union wird 
eine ernste und an den Werten unserer sozialen Markt- 
wirtschaft orientierte Debatte geführt, die berücksichtigt 
und berücksichtigen muss, dass zum Beispiel ein flexib- 
ler Arbeitsmarkt als Motor und als wesentliches Erfolgs- 
rezept unseres Jobwunders, unseres Wirtschaftswunders 
erhalten bleiben muss. Geringe Jugendarbeitslosigkeit 
und weniger als 3 Millionen Arbeitslose insgesamt - das 
sind Erfolge, die wir nicht durch fahrlässige Diskussio- 
nen in Gefahr bringen dürfen. Unnötige staatliche Ein- 
griffe in die Lohnfindung gefährden die Tarifautonomie. 
Politik darf Löhne nicht diktieren. Die Lohnfindung ist 
zunächst Aufgabe der Tarifpartner. Nur dort, wo eine 

(B) Nachjustierung notwendig ist, soll und darf die Politik 
eingreifen. 

Ich sage ganz deutlich: Wir werden nicht mitmachen 
bei einer billigen Mindestlohnwahldemokratie nach dem 
Motto „Wer bietet mehr?“. 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das tut kein Mensch!) 

Wir sind für soziale Marktwirtschaft mit fairen Löhnen. 
Das ist wirklich christlich-sozial. 

Danke schön. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht 
das Wort. 

Michael Schlecht (DIE LINKE): 

Danke. - Sie haben sich unverständig gezeigt, warum 
ich die Grünen plötzlich an Ihrer Seite sehe. Haben Sie 
den Antrag der Grünen denn nicht gelesen? Dort heißt 
es: 


Die Mindestlohnhöhe wird durch eine unabhängige 
Kommission festgelegt. 

Das ist im Prinzip O-Ton mindestens der Sozialaus- 
schüsse. 


Die Kommission setzt sich aus Vertreterinnen und (C) 
Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und 
der Wissenschaft zusammen. 

Da erkenne ich höchstens die Differenz, dass hier auch 
die Wissenschaft vertreten sein soll, was bei der CDU/ 

CSU nicht der Fall ist. Aber das ist, glaube ich, eine zu 
vernachlässigende Größe. 

Im vierten Punkt wird ausgeführt, dass der von der 
Kommission beschlossene Mindestlohn durch eine von 
der Bundesregierung zu erlassende Rechtsverordnung 
wirksam wird. Auch das ist Originalton der Sozialaus- 
schüsse. Zudem verweigert man sich im Antrag der Grü- 
nen genau wie bei Ihnen generell, irgendeine Zahl und 
einen Mindestlohnbetrag als Startmarke zu nennen. Von 
daher verstehe ich nicht, weshalb Sie so unverständig 
sind, wenn ich sage, dass die Grünen an Ihre Seite getre- 
ten sind. 


(Beifall bei der LINKEN) 


Ulrich Lange (CDU/CSU): 

Herr Kollege Schlecht, diese Frage hätten Sie viel- 
leicht besser der Kollegin Pothmer gestellt. Was wir im- 
mer gesagt haben - dazu steht diese Koalition weiter- 
hin -, ist, dass es keine staatlich festgesetzten Mindest- 
löhne in einer bestimmten Höhe geben wird. Punkt 4 des 
Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, den Sie gerade zi- 
tiert haben, beinhaltet im Endeffekt nichts anderes als 
das, was ich angesprochen habe. Diese Formulierung 
lehnt sich an § 5 des Tarifvertragsgesetzes, also an die 
Allgemeinverbindlichkeit, an. Daher, Herr Kollege 
Schlecht, kann man sagen, dass diese Forderung zum 
größten Teil schon heute durch das Gesetz erfüllt wird. 


(D) 


Danke schön. 


Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der 
Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Ottmar Schreiner (SPD): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich 
habe selten eine Debatte erlebt, in der so viel geheuchelt 
worden ist wie in dieser Debatte. 

(Beifall bei der SPD) 

Es geht los bei der FDP, die sich jetzt zum Sachwalter 
der Tarifautonomie aufspielt. 

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was denn sonst?) 

Das ist schon eine groteske Veranstaltung. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Ich sehe, dass Ihr früherer Parteivorsitzender, Herr 
Westerwelle, anwesend ist, der vor wenigen Jahren die 
Gewerkschaften als die größte Plage der Bundesrepublik 
bezeichnet hat. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16553 


Ottmar Schreiner 

(A) Jetzt erklären Sie sich zum Sachwalter der Tarifautono- 
mie. 

(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Soll 
ich Ihnen jedes Zitat von Herrn Schröder Vor- 
halten? Das wollen Sie doch auch nicht!) 

Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Gewerk- 
schaften unisono einen allgemeinen Mindestlohn, eine 
Lohnuntergrenze fordern. Die Gewerkschaften weisen in 
diesem Zusammenhang darauf hin, dass der gegenwär- 
tige Zustand das gesamte Tarifgefüge quer durch alle 
Bereiche erschüttert. Sie wissen, dass wir etwa mit dem 
Bundesurlaubsgesetz und dem Bundesarbeitszeitgesetz 
Regelungsfelder haben, in denen der Gesetzgeber Rah- 
menbedingungen formuliert, die nicht unterschritten 
werden dürfen und die durch die Tarifparteien ausgefüllt 
werden sollen. Das funktioniert in Deutschland seit Jahr- 
zehnten ganz hervorragend. Warum soll dies ausgerech- 
net bei den Tarifen nicht funktionieren, wo es doch in 
anderen Regelungsfeldem, wie gesagt, gute Ergebnisse 
gezeitigt hat? 

Die zweite Bemerkung geht an die Adresse des Kolle- 
gen Weiß. Der Kollege Weiß hat heute eine Formulierung 
gebraucht, die mich fast umhaut. Er hat nämlich gesagt, 
dass das Markenzeichen der Union der Mindestlohn ist. 

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Recht hat er!) 

Das hat er wirklich gesagt. Herr Kollege Weiß, nicht der 
Mindestlohn ist das Markenzeichen der Union, sondern 
platteste Geschichtsfälschung ist das Markenzeichen der 
Union. 

(B) 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!) 

Warum, das will ich Ihnen in aller Kürze erklären. 

Sie haben auf die Einführung der branchenbezogenen 
Mindestlöhne während der Zeit der Großen Koalition 
hingewiesen. 

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: 

Herr Kollege Schreiner, Sie haben doch keinen 
eingeführt!) 

In der Großen Koalition sind alle branchenbezogenen 
Mindestlöhne - es waren deren acht - vom sozialdemo- 
kratisch geführten Bundesarbeitsministerium gegen den 
teilweise erbitterten Widerstand der Union durchgesetzt 
worden. Das ist die Wahrheit. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Sie wissen gar nicht mehr, was in Ihren Wahlpro- 
grammen steht, Herr Kollege Weiß. In Ihrem Wahlpro- 
gramm 2005 ist folgende Formulierung enthalten: 

Für die Arbeitnehmer sichern wir durch eine ausge- 
wogene Kombination aus Arbeitslohn und ergän- 
zender Sozialleistung ein angemessenes Auskom- 
men. 

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Hört! Hört!) 


Das heißt, Armuts- und Hungerlöhne sollen durch Staat- (C) 
liehe Leistungen aufgestockt werden, damit die Men- 
schen in irgendeiner Weise leben können. Das war Ihre 
Linie über Jahre hinweg. 

(Beifall bei der SPD) 

Jetzt zu behaupten, Mindestlöhne seien der Markenkern 
der Union, ist geradezu eine Verarsche auf gut Deutsch 
gesagt. Das kann man Ihnen wirklich nicht durchgehen 
lassen, Herr Kollege Weiß. Das ist des Guten eindeutig 
zu viel. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Herr Kollege Schreiner. 

Ottmar Schreiner (SPD): 

Herr Präsident, mir ist klar, dass der gerade von mir 
benutzte Ausdruck nicht sehr parlamentarisch war. Aber 
„Wat mutt, dat mutt!“ hat ein anderer immer gesagt. 

Präsident Dr. Norbert Lammert: 

Gut. Aber deswegen habe ich Sie gar nicht unterbro- 
chen, zumal die Einsicht Sie schnell eingeholt hat. 

(Heiterkeit) 

Ich habe Sie fragen wollen, ob Sie sich vorstellen kön- 
nen, eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger zu 
beantworten. 

Ottmar Schreiner (SPD): (°) 

Er ist schon in Lauerstellung. Bitte. 

Max Straubinger (CDU/CSU): 

Herr Kollege Schreiner, Sie haben gerade der Äuße- 
rung des Kollegen Weiß widersprochen, dass die Union 
die Hüterin des Branchenmindestlohns ist. Sie haben 
auch lobend gesagt, dass die meisten dieser Löhne von 
einem SPD-Minister eingeführt worden sind. Deshalb 
frage ich Sie: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass 
dies unter Bundeskanzlerin Angela Merkel geschehen 
ist, die zugleich CDU-Vorsitzende ist? 

(Zurufe von der SPD: Oh!) 

In diesem Sinne hat der Kollege Weiß mit seiner Aus- 
sage durchaus recht. 

(Anette Kramme [SPD]: Wer hat denn Verein- 
barungen zur Leiharbeit damals nicht umge- 
setzt?) 

Ottmar Schreiner (SPD): 

Die Frau Bundeskanzlerin musste sich wohl der Ver- 
nunft der Zwänge beugen. Anders ist das gar nicht zu er- 
klären. 

(Lachen bei der CDU/CSU) 

Auch in der Großen Koalition mussten Kompromisse 
gemacht werden. Die CDU/CSU wollte ausweislich ih- 
res Wahlprogramms Kombilöhne, 

(Anette Kramme [SPD]: So ist es!) 



16554 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ottmar Schreiner 

(A) das heißt die Hinnahme von Armutslöhnen, die durch 
staatliche steuerfinanzierte Leistungen aufgestockt wer- 
den. Das war Ihre Ausgangsposition. 

Die Ausgangsposition der SPD im Jahr 2005 - lesen 
Sie die Wahlprogramme! - war die Forderung nach ei- 
nem gesetzlichen Mindestlohn, ln den Bereichen, in de- 
nen das nicht durchsetzbar sein sollte, sollten dann bran- 
chenbezogene Mindestlöhne eingeführt werden. Das war 
exakt der Kompromiss zwischen dem klaren Nein der 
Union und dem ebenso klaren Ja der SPD zum gesetz- 
lichen Mindestlohn. Dieser Kompromiss konnte auf 
Druck der sozialdemokratischen Abteilung in der Gro- 
ßen Koalition herbeigeführt werden. 

(Beifall bei der SPD) 

Wenn Sie das nun bestreiten wollen, dann wird es hier 
allmählich finster, was die Wahrheit anbelangt. - Bitte 
bleiben Sie noch einen Moment stehen, Herr 
Straubinger, dann gewinne ich noch ein paar Sekunden. 

Auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerk- 
schaftsbundes im Mai 2010 hat Frau Merkel - bezogen 
auf den Mindestlohn - gesagt: Ich glaube, dass das nicht 
die richtige Antwort der Politik ist. - Das waren die 
Worte von Frau Merkel zum Mindestlohn noch im Mai 
2010 . 

Die berüchtigte Frau Kollegin Connemann, die heute 
bedauerlicherweise nicht hier sein kann, hat im April des 
Jahres 2010 gesagt: Ein Mindestlohn in Deutschland 
hätte nur ein Ergebnis: Jobvernichtung. 

(ß) Der ehemalige Ministerpräsident von Baden- 
Württemberg hat gesagt: Von einem flächendeckenden 
Mindestlohn halte ich gar nichts. 

Der Vorsitzende der CDU in Nordrhein- Westfalen, 
Herr Röttgen, hat gesagt: Ich bin gegen eine Politisie- 
rung der Lohnfindung. Die Lohnhöhe richtet sich nach 
Angebot und Nachfrage. Der Markt definiert den Lohn. 

Ich könnte diese Aussagen beliebig fortführen. Sie 
alle zeugen von einem: Wenn Sie sagen, dass es in Sa- 
chen Mindestlohn irgendeinen Markenkern der Union 
gibt, dann ist das die platteste Geschichtsfälschung. Das 
ist die Wahrheit. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Werfen wir einen Blick auf die Ausgangslage für Ih- 
ren Parteitag: Einige von Ihnen fordern jetzt flächen- 
deckende Mindestlöhne. Hier hat sich der Kollege 
Laumann ohne jeden Zweifel Verdienste erworben. Das 
ist sehr zu unterstützen, und wir beobachten das mit viel 
Respekt. 

Herr Kollege Weiß, im Übrigen geht bei uns nicht die 
blanke Angst um, dass uns etwa ein Thema abhanden- 
käme. Vielmehr geht es uns darum, dass Millionen von 
Menschen ein Stück menschlicher Würde zurückgege- 
ben wird. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 


Wenn jemand für seine Arbeit mit 2, 3, 4 oder 5 Euro in 
der Stunde entlohnt wird, dann ist das ein grober Verstoß 
gegen die menschliche Würde. Es ist ein Angriff auf das 
Selbstwertgefühl der Menschen. Was ist ihre Arbeit ei- 
gentlich wert? Das hat nichts mit vermeintlich blanker 
Angst vor dem Verlust eines Themas zu tun. Es hat aber 
sehr wohl etwas damit zu tun, dass wir dazu beitragen 
wollen, dass Menschen ihre Würde in der Arbeitswelt 
zurückgewinnen. Ich fordere Sie dazu auf, hierzu einen 
vernünftigen Beitrag zu leisten; das würde ich sehr be- 
grüßen. 

Als letzte Bemerkung möchte ich Ihnen das Gleichnis 
vom verlorenen Schaf aus Lukas, Kapitel 15, mit auf den 
Weg geben. Herr Kollege Weiß, dort lesen wir: 

Also wird auch Freude im Himmel sein über einen 

- reuigen - 

Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerech- 
ten, die der Buße nicht bedürfen. 

Hier sitzen eine Menge Leute, die der Buße nicht be- 
dürfen. Wenn Sie am Montag oder Dienstag auf Ihrem 
Parteitag entsprechende Beschlüsse fassen, dann können 
Sie, Herr Kollege Weiß, davon ausgehen, dass ich Ihnen 
das Gleichnis vom verlorenen Schaf eingerahmt schen- 
ken werde. 

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7483 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: 

Beratung des Antrags der Bundesregierung 

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- 
scher Streitkräfte an der EU-geführten Opera- 
tion „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung 
des Friedensprozesses in Bosnien und Herze- 
gowina im Rahmen der Implementierung der 
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensverein- 
barung sowie an dem NATO-Hauptquartier 
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage 
der Resolution des Sicherheitsrates der Ver- 
einten Nationen 1575 (2004) und Folgeresolu- 
tionen 

- Drucksache 17/7577 - 

Überweisungsvorschlag: 

Auswärtiger Ausschuss (f) 

Rechtsausschuss 

Verteidigungsausschuss 

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 
Entwicklung 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16555 


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- 
derspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das 
so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- 
ner das Wort dem Bundesaußenminister Dr. Guido 
Westerwelle. 

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus- 
wärtigen: 

Flerr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 
ren! Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Interesse 
an der Stabilisierung von Bosnien und Herzegowina ist 
unverändert groß. Unser Ziel bleibt ein friedliches, de- 
mokratisches, rechtsstaatliches Bosnien und Herzego- 
wina, das aus eigener Kraft in der Lage ist, den Weg der 
EU-lntegration erfolgreich zu beschreiten. 

Bei aller Vorsicht und aller zurückhaltenden Bewer- 
tung können wir heute sagen, dass die militärischen Si- 
cherungsaufgaben der Operation zum gegenwärtigen 
Zeitpunkt erfüllt sind. Die Sicherheitslage ist stabil. Das 
zeigt, wie viel wir erreicht haben. Gerade weil wir in die- 
sem Hause sehr oft kontrovers diskutieren - zum Bei- 
spiel gerade eben mit Leidenschaft und fast mit Atemlo- 
sigkeit der Redner -, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, 
dass hier seit vielen, vielen Jahren eine große Überein- 
stimmung in diesem Hause besteht. Ich denke, ich spre- 
che im Namen aller Anwesenden, wenn ich hier den 
Frauen und Männern der Bundeswehr, die vor Ort ihren 
verantwortungsvollen Dienst tun, unseren Dank zum 
Ausdruck bringe. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Meine Damen und Herren, das militärische Engage- 
ment der Europäischen Union bleibt aber weiter nötig. 
Es muss insbesondere noch mehr getan werden, um die 
Kompetenz und Professionalität der bosnischen Streit- 
kräfte weiter zu stärken. Der Rat für Außenbeziehungen 
der Europäischen Union hat daher am 10. Oktober 
beschlossen, dass der Schwerpunkt der Operation 
ALTHEA, für die ich jetzt hier das Mandat einbringe, 
künftig auf Ausbildung und Training liegen soll. Unsere 
Bundeswehr beteiligt sich an dieser Ausbildung und am 
Personal des Hauptquartiers in Sarajevo. Ansonsten sind 
keine deutschen Soldatinnen und Soldaten mehr in Bos- 
nien und Herzegowina eingesetzt. Damit konnte das um- 
gesetzt werden, was ich hier vor einem Jahr, bei der letz- 
ten Einbringung des Mandates, in Aussicht gestellt und 
formuliert habe. 

Im letzten Jahr konnten wir die Personalobergrenze 
des Mandates von 2 400 auf 900 absenken. Auch jetzt 
können wir eine Senkung der Personalobergrenze vor- 
nehmen, und zwar von 900 auf 800. Gemessen an der 
Zahl der tatsächlich vor Ort eingesetzten Soldaten, bleibt 
eine hohe Personalobergrenze des Mandates, denn wie 
bislang wird für die Operation ein Reservebataillon be- 
reitgehalten. Deutschland stellt den Löwenanteil an die- 


sem Bataillon, das im Falle einer Lageverschlechterung (C) 
kurzfristig in das Einsatzgebiet verlegt werden kann. Im 
Kosovo hat sich bedauerlicherweise gerade gezeigt, wie 
wichtig eine solche Vorsorge ist; denn auch wenn wir 
hier gemeinsam eine sehr erfreuliche Entwicklung fest- 
stellen können, so wissen wir doch, dass die Unwägbar- 
keiten noch lange nicht überwunden sind. Dementspre- 
chend ist es notwendig, dass wir diesen Weg weiter 
vorsichtig und verantwortungsvoll beschreiten. 

Ebenso hält die Bundeswehr eine größere Zahl von 
Kräften bereit, die zur vorübergehenden logistischen und 
technischen Unterstützung der Mission entsandt werden 
können. Beides zusammengenommen erklärt die Perso- 
nalobergrenze des Mandates; beides ist Ausdruck unse- 
res fortgesetzten Engagements und unserer Solidarität 
mit unseren Partnern. 

Für die Bundesregierung bitte ich um Zustimmung 
zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der EU-ge- 
fiihrten militärischen Operation ALTHEA zur weiteren 
Stabilisierung des Friedensprozesses in Bosnien und 
Herzegowina. Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rah- 
men von ALTHEA erfolgt unverändert auf Grundlage 
der Resolution 1575 aus dem Jahre 2004 des Sicherheits- 
rates der Vereinten Nationen und ihrer Folgeresolutio- 
nen; er ist also völkerrechtlich eindeutig abgedeckt. 

Ich denke, viele wissen nicht mehr, warum seinerzeit 
dieser Einsatz begonnen worden ist, warum das Engage- 
ment überhaupt notwendig war. Wer sich noch an die 
90er-Jahre erinnern kann, an das, was in unserer unmit- 
telbaren Nachbarschaft stattgefunden hat, der wird zu (D) 
dem Ergebnis kommen, dass es auch sehr erfolgreiche 
Friedenseinsätze der Frauen und Männer unserer Bun- 
deswehr gibt. Wenngleich alles immer kritisch beäugt 
werden muss - das ist erste Bürgerpflicht in der Demo- 
kratie so kann man, denke ich, doch feststellen: Es ist 
schon eine sehr beeindruckende Erfolgsgeschichte. Dass 
wir Deutsche einen Beitrag zu Frieden und Stabilität ge- 
leistet haben, das gereicht unserem Land zur Ehre. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. 

Die stabile Sicherheitslage ist das eine; die innenpoliti- 
sche Lage birgt jedoch nach wie vor Risiken. Fast ein 
Jahr nach den Wahlen konnte noch immer keine neue 
Regierung auf Gesamtstaatsebene gebildet werden. Ich 
kann dies nicht aussparen, weil auch das natürlich zu ei- 
ner umfassenden Lagebetrachtung gehört. 

Diese Lähmung des Landes verhindert, dass die auf 
dem Weg nach Europa dringend notwendigen Reformen 
angegangen werden. Diese politische Stagnation muss 
unbedingt überwunden werden. 

Deshalb macht die Bundesregierung das in all ihren 
Gesprächen mit den Verantwortlichen immer wieder 
deutlich. Wir bieten eine europäische Perspektive. Wir 
wissen um die positive Dynamik, die der Annäherungs- 
prozess an die Europäische Union im Land entfalten 
kann. Wir erwarten aber, dass die notwendigen Schritte 
vor Ort gegangen werden. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Bundesminister Dr. Guido Westerwelle 

(A) Die auf die Europäische Union bezogenen Reformen 
müssen eindeutig Priorität erhalten. Ethnische Einzel- 
interessen müssen dahinter zurückgestellt werden. 

Die EU soll in Bosnien und Herzegowina zentraler 
Akteur sein. Es ist deshalb gut, dass die Trennung der 
Funktion des Hohen Repräsentanten von dem Amt des 
EU-Sonderbeauftragten vollzogen ist. Der Amtsantritt 
des neuen eigenständigen EU-Sonderbeauftragten ist 
Ausdruck der Neuaufstellung der internationalen Ge- 
meinschaft in Bosnien und Herzegowina. Auch dies 
zeigt, dass wir einen entsprechenden Fortschritt ver- 
zeichnen können. 

Es bleibt das Ziel der Bundesregierung, ALTHEA 
mittelfristig zu einer nichtexekutiven Beratungs- und 
Unterstützungsmission weiterzuentwickeln. Dazu ist 
noch weitere Abstimmung mit unseren Partnern erfor- 
derlich. Bis es so weit ist, bleiben wir in Loyalität und 
Verlässlichkeit gegenüber unseren Partnern und in unse- 
rer Verantwortung gegenüber den Menschen in Bosnien 
und Herzegowina diesem Mandat verpflichtet. 

Deswegen bitte ich Sie im Namen der Bundesregie- 
rung um Zustimmung zu diesem Mandat. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der 
SPD-Fraktion. 


(Beifall bei der SPD) 

Dietmar Nietan (SPD): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 
24. November des vergangenen Jahres haben wir hier 
über die damalige Mandatsverlängerung für ALTHEA 
diskutiert. An dieser Stelle habe ich meiner Hoffnung 
und vielleicht auch meinem Wunsch Ausdruck verlie- 
hen, dass sich Dinge in Bosnien-Herzegowina zum Bes- 
seren wenden werden. 

Ich hatte das damit begründet, dass die dortigen Wah- 
len am 3. Oktober vergangenen Jahres die moderaten 
Kräfte ausdrücklich deshalb gestärkt haben, weil diese 
moderaten Kräfte nicht Nationalismus, sondern soziale 
Aspekte und Themen des Landes in den Vordergrund des 
Wahlkampfs gestellt hatten. 

Ich hatte auch die Hoffnung, dass die Regierungsbil- 
dung eine neue Chance eröffnet, die dringend notwendi- 
gen Verfassungsreformen in Gang zu setzen, die das 
Land auf dem Weg nach Europa braucht; der Außen- 
minister hat daraufhingewiesen. 

Ich hatte mir erhofft, dass die Visaliberalisierung auch 
ein Zeichen dafür ist, dass wir Bosnien auf seinem Weg 
nach Europa unterstützen. 

Heute, ein Jahr später, kann ich nicht verhehlen, dass 
ich von den politischen Eliten in Bosnien-Herzegowina 
sehr enttäuscht bin, die bis jetzt das Ziel ihrer Verant- 
wortung, eine stabile Regierung zu bilden und die not- 
wendigen Verfassungsreformen auf den Weg zu bringen, 
eindeutig verfehlt haben. 


Ich habe den Verdacht, dass sich ein Großteil der poli- (C) 
tischen Eliten in Bosnien-Herzegowina sehr gut in der 
derzeitigen Situation eingerichtet hat, die der Dayton- 
Rahmen gibt, sich gegenseitig zu blockieren. Das bringt 
das Land nicht voran, aber das scheint dem einen oder 
anderen zu genügen, um seine Claims abzustecken. 

Mit diesen Fehlern verspielen die dort Verantwortung 
Tragenden die Zukunft ihrer Bürgerinnen und Bürger, 
die sie bei den letzten Wahlen schon deshalb gewählt ha- 
ben, damit sie genau diese Zukunft positiv gestalten. 

Die Frage ist, welche Schlussfolgerung wir aus die- 
sem unwürdigen Spiel ziehen, das wir dort sehen. Ich 
sage Ihnen sehr deutlich: Die Schlussfolgerung kann 
nicht sein, das Mandat jetzt einfach zu beenden. Denn 
das würde gerade für die Menschen, die dort Verände- 
rungen zum Guten haben wollen, das Zeichen in sich tra- 
gen, dass wir uns abwenden und unserer Verantwortung 
nicht nachkommen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Ich finde es auch richtig, dass sich die Bundesregie- 
rung dafür einsetzt - der Europäische Rat hat das am 
10. Oktober beschlossen -, das Mandat zu modifizieren, 
von einem exekutiven Mandat hin zu einer Beratungs- 
und Unterstützungsmission für die Streitkräfte Bosnien- 
Herzegowinas, die eine der Klammern sind, in denen 
eben nicht nach Ethnien getrennt Verantwortung über- 
nommen werden soll. 

Ich finde weiter, dass wir die Bundesregierung bei ih- 
rem Ansinnen unterstützen sollen, die Zahl der statio- 
nierten Soldatinnen und Soldaten auf insgesamt 200 zu (D) 
reduzieren, um deutlich zu machen, dass es nicht mehr 
um eine exekutive Mission geht, sondern um eine Unter- 
stützungsmission. Aber Sie alle wissen: Das reicht nicht 
aus. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns sowohl 
in Bosnien-Herzegowina als auch in der gesamten Re- 
gion noch stärker politisch engagieren wollen. In diesem 
Zusammenhang danke ich der Bundesregierung aus- 
drücklich dafür, dass sie sich bemüht hat, bei der Regie- 
rungsbildung in Bosnien-Herzegowina eine konstruk- 
tive, vermittelnde Rolle zu spielen. 

Für die Reformkräfte, die es gerade in der jungen Ge- 
neration in Bosnien-Herzegowina gibt, ist es deshalb 
wichtig, dass wir die Beitrittsperspektive verlässlich er- 
neuern, die wir mit dem Versprechen von Thessaloniki 
allen Staaten in der Region gegeben haben. Ich will auch 
darauf hinweisen, dass wir überlegen müssen, welche 
Möglichkeiten wir haben, durch ein möglichst geschlos- 
senes Auftreten der Europäischen Union den Druck auf 
die sogenannten politischen Führer bestimmter Ethnien 
zu erhöhen. Sie sollen ihrer Verantwortung gerecht wer- 
den, nicht nur bei der Regierungsbildung, sondern auch 
bei der notwendigen Verfassungsreform, die eine wirkli- 
che Demokratie bringt und nicht nur ein Vetosystem und 
eine pervertierte Form der Fixierung auf die ethnische 
Herkunft. 

Nicht nur die EU, sondern auch die Nachbarn müssen 
sich stärker engagieren. Unsere Freunde in Kroatien 
müssen ihre Möglichkeiten nutzen, die HDZ in Bosnien- 
Herzegowina davon zu überzeugen, dass sie bei den Ge- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dietmar Nietan 

(A) sprächen zur Regierungsbildung ihren Alleinvertretungs- 
anspruch für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina auf- 
geben muss. Serbien muss seinen Druck dahin gehend 
erhöhen, dass Herr Dodik endlich zu einer konstruktiven 
Politik zurückkehrt, weg vom Nationalismus. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Deshalb ist es gut, dass Kroatien hoffentlich bald Mit- 
glied der Europäischen Union ist. Es ist auch gut, dass 
wir im Fortschrittsbericht der Europäischen Union nach- 
lesen konnten, dass Serbien auf dem Weg nach Europa 
große Fortschritte gemacht hat. Ich würde mir deshalb 
wünschen, dass der Europäische Rat im Dezember ein 
klares Zeichen in Richtung Serbien setzt und Serbien 
den Kandidatenstatus, so wie von der Kommission vor- 
geschlagen, einräumen wird. Ich finde, dass Präsident 
Tadic, der für seine Reformpolitik nicht nur ein hohes 
politisches, sondern auch ein hohes persönliches Risiko 
eingeht, unser aller Unterstützung verdient hat. Ich würde 
mich freuen, wenn die Bundesregierung schon vor dem 
Europäischen Rat das klare öffentliche Signal geben 
würde, dass die Bundesregierung den Vorschlag der 
Kommission, Serbien den Kandidatenstatus einzuräu- 
men, mit aller Kraft unterstützt. Bisher vermisse ich die- 
ses öffentliche Signal. 

Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger Eu- 
ropa. - Das hat Polens Ministerpräsident Tusk in einer 
bemerkenswerten Rede zum Antritt der EU -Ratspräsi- 

(B) dentschaft Polens vor dem Europäischen Parlament ge- 
sagt. Ich finde, diese Maxime darf nicht nur bei der Ret- 
tung unserer gemeinsamen Währung gelten, sondern sie 
muss auch gelten, wenn es jetzt darum geht, auf dem 
Westbalkan, mitten in Europa - das will ich betonen -, 
endlich die Folgen des schrecklichen Bürgerkrieges zu 
überwinden. Aus dieser Verantwortung können wir uns 
nicht stehlen. 

Als der Bürgerkrieg in den 90er-Jahren ausbrach, war 
das Handeln der Europäer - das wissen Sie - kein Ruh- 
mesblatt. Wir haben dort versagt und sind unserer politi- 
schen Verantwortung nicht gerecht geworden. Deshalb 
will ich noch einmal betonen, was ich schon im letzten 
Jahr gesagt habe: Es geht nicht nur um eine Mandatsver- 
längerung, sondern es geht darum, dass wir deutlich ma- 
chen: Die Bundesrepublik Deutschland will sich ge- 
meinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Union 
stärker engagieren. Es wird nach Kroatien kein Ende der 
Erweiterungsfähigkeit und der Offenheit für Erweite- 
rung geben. Die, die die Reformen erfüllen, die die Re- 
gion in eine Region des Friedens und der Demokratie 
verwandeln wollen, haben unsere Unterstützung und 
können der Europäischen Union beitreten. In diesem 
Sinne würde ich mir wünschen, dass wir über die Dis- 
kussion des Mandats hinaus unsere Anstrengungen ver- 
stärken, damit diese Region mitten in Europa Frieden 
findet und die Menschen dort eine wirkliche Perspektive 
bekommen. 

Herzlichen Dank. 


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär 
Thomas Kossendey. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Thomas Kossendey, Pari. Staatssekretär beim Bun- 
desminister der Verteidigung: 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 
16 Jahren, am 6. Dezember 1995, stimmte der Bundes- 
tag in einer sehr bedeutsamen Debatte erstmals der Ent- 
sendung deutscher Streitkräfte nach Bosnien und Herze- 
gowina zu. Die Zustimmung erfolgte damals unter dem 
Eindruck der schockierenden Ereignisse, unter anderem 
in Srebrenica. Heute beraten wir die erneute Verlänge- 
rung dieses Mandats. Zwar hat die Führung dieses Man- 
dats gewechselt - die Mission steht heute unter europäi- 
scher Verantwortung -, die Ziele jedoch sind unverändert. 

Deutschland kommt seiner Verantwortung für die Sta- 
bilisierung in Bosnien und Herzegowina nunmehr seit 
1995 nach, zunächst im Rahmen der NATO-Operation 
IFOR - das war von 1995 bis 1996 -, dann im Rahmen 
von SFOR - von 1996 bis 2004 - und seit Dezember 
2004 im Rahmen der EU-gefiihrten Operation ALTHEA 
und des NATO-Hauptquartiers in Sarajevo. Das zeigt: 
Deutschland ist ein verlässlicher Partner und steht zu sei- 
ner Verantwortung - in Bosnien-Herzegowina wie auch (D) 
an den anderen Einsatzorten. Das heißt: Verantwortung 
für den Einsatz von Soldaten, wenn es notwendig ist, 
und Verantwortung für den zivilen Übergang, sobald das 
möglich ist. 

ALTHEA umfasst derzeit noch insgesamt 1 300 Sol- 
datinnen und Soldaten in Bosnien und Herzegowina. Zu- 
sätzlich werden zwei Bataillone als operative Reserve 
für den Balkan bereitgehalten, um auf Lageverschärfun- 
gen schnell reagieren zu können. Wie wichtig und wie 
unverzichtbar so eine Vorsorge ist, haben die jüngsten 
Entwicklungen im Kosovo sehr deutlich gezeigt. Des- 
halb sind und bleiben Reservekräfte für KFOR und für 
ALTHEA ein wichtiger Bestandteil unserer Planungen. 

Insgesamt hat Deutschland seit 1995 mit mehr als 
50 000 Soldaten in Bosnien und Herzegowina gearbeitet 
und damit wesentlich zum Erreichen des Friedens bei- 
getragen. Aktuell beteiligen wir uns im Rahmen des 
ALTHEA-Mandats nur noch mit fünf Soldaten in den 
Stäben. Wir stellen gemeinsam mit Österreich eines der 
beiden genannten Reservebataillone. Aktuell ist dieses 
Bataillon im Kosovo stationiert. Dort wird es wegen der 
nicht ganz sicheren Lage voraussichtlich bis zum Jahres- 
ende bleiben. 

Ich will die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle den 
Soldatinnen und Soldaten, die nun aus der Reserve in 
Deutschland in den Einsatz auf dem Balkan gerufen 
wurden, wie auch den Soldaten in den anderen Einsätzen 
ausdrücklich zu danken. Sie leisten einen wichtigen Bei- 



16558 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Pari. Staatssekretär Thomas Kossendey 

(A) trag zur Stabilisierung des Friedens und damit letztend- 
lich für den zivilen Übergang. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- 
SES 90/DIE GRÜNEN) 

Nachdem wir bereits 100 deutsche Soldatinnen und 
Soldaten aus Bosnien und Flerzegowina abziehen konn- 
ten, geht es nun um die Fortsetzung des Einsatzes mit in- 
haltlich unverändertem Mandat, allerdings unter Absen- 
kung der personellen Obergrenze von 900 auf 800 Sol- 
daten. Diese Zahl bietet uns die Möglichkeit, flexibel zu 
reagieren. Sie beinhaltet einen Anteil von ungefähr 
500 Soldaten in dem Reservebataillon. Das gibt uns 
Spielraum, um gegebenenfalls, bei Verstärkungsnotwen- 
digkeiten, im logistischen Bereich nachzusteuern. 

Wenn wir uns die Entwicklung der Gesamtzahlen bei 
dieser Operation anschauen - von mehr als 50 000 
NATO-Soldaten im Jahr 1996 zu 1 300 Soldaten im Rah- 
men von EUFOR -, dann wird deutlich, dass sich die Si- 
cherheitslage dramatisch verbessert hat. Bosnien und 
Flerzegowina macht im Augenblick sogar den ersten 
Schritt, um selber internationale Verantwortung zu über- 
nehmen. Das Land beteiligt sich im Augenblick mit 
54 Soldaten am Einsatz in Afghanistan, entlastet damit 
die Verbündeten, auch uns. 

Dennoch hat Bosnien und Herzegowina ein gutes 
Stück des Weges noch vor sich; der Außenminister hat 
darauf hingewiesen. Wir müssen auch im Interesse der 
Menschen vor Ort weiter politischen Druck ausüben. Es 

(B) fehlt noch immer an den notwendigen Reformen, ein- 
schließlich einer Verfassungsreform. Es fehlt vor allen 
Dingen auch an dem Willen zur Bildung einer gesamt- 
staatlichen Regierung. Ich bekräftige deswegen aus- 
drücklich den Appell des Außenministers: Ja, die Zu- 
kunft dieses Landes liegt langfristig in der NATO und in 
der Europäischen Union, aber dafür bedarf es der Kom- 
promissbereitschaft und letztendlich auch des Dialoges 
zwischen den Volksgruppen, und es bedarf des gemein- 
samen Willens zur Gestaltung einer gemeinsamen 
Zukunft. Deswegen sind die aktuellen Aufträge von 
ALTHEA neben Ausbildungs- und Trainingsaufgaben 
auch weiterhin exekutive Aufgaben zum Erhalt eines si- 
cheren Umfeldes und zur Unterstützung der bosnisch- 
herzegowinischen Autoritäten. 

Außerdem gewährleistet ALTHEA die Unterstüt- 
zung für den EU-Sonderbeauftragten und für den Inter- 
nationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugosla- 
wien sowie - auch darauf sind wir vorbereitet - 
gegebenenfalls die Durchführung von Evakuierungs- 
maßnahmen der internationalen Gemeinschaft. Auch das 
ist Teil unserer Verantwortung, die nicht mit dem Abzug 
der Soldaten endet und letztendlich nicht an den Einsatz 
von Streitkräften gebunden ist. 

Dieses exekutive Mandat der Operation wird mit re- 
duzierter Präsenz in Bosnien und Herzegowina zunächst 
einmal fortgesetzt werden. Ab 2012 wird sich die Opera- 
tion vornehmlich auf die Unterstützung der Ausbildung 
und die Entwicklung der Fähigkeiten der bosnisch-her- 
zegowinischen Streitkräfte konzentrieren. Der Einsatz 


von EUFOR/ALTHEA bleibt somit ebenso wichtig wie 
richtig, auch wenn er nicht im Fokus der öffentlichen 
Wahrnehmung steht. 

Ich bitte Sie deswegen um eine breite Unterstützung 
für das Mandat, für unsere Frauen und Männer von der 
Bundeswehr, die dort ihren wichtigen Dienst tun. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger von der 
Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Inge Höger (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Land 
Bosnien-Herzegowina ist eine moderne Kolonie. - Die- 
ser Satz stammt nicht von mir. Er stammt von Ismet 
Bajramovic, dem Vorsitzenden des Bundes unabhängi- 
ger Gewerkschaften im bosnisch-kroatischen Landesteil 
Bosnien-Herzegowinas. Herr Bajramovic ist nicht der 
Einzige, der das vor Ort so sieht. Ich war im Juni dieses 
Jahres dort und habe mich mit den Menschen in Sarajevo 
und Srebrenica unterhalten. Dabei habe ich festgestellt, 
dass es eine tiefe Kluft gibt zwischen der lokalen Bevöl- 
kerung und denen, die nicht gern Besatzer genannt wer- 
den wollen, aber als solche wahrgenommen werden. 

In den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern 
der NATO und der EU hatte ich den Eindruck, dieses 
Land würde längst in Schutt und Asche liegen, wenn es 
nicht selbsternannte Helferinnen und Helfer aus den rei- 
chen Ländern gäbe, die hier mit Militär und Investitio- 
nen für Ordnung sorgen. Bei Gesprächen mit Bosnierin- 
nen und Bosniern hörte sich alles ganz anders an. Die 
EUFOR-Truppen werden mit Befremden wahrgenom- 
men, nicht nur wegen der nächtlichen Truppenübungen, 
mit denen sie in Wohngebieten in Sarajevo für Unmut 
sorgen. Schüsse und Kriegslärm kennen die Leute dort 
aus den schlimmen Zeiten der 90er-Jahre nur zu gut. Die 
EUFOR verbessert die unerträgliche Situation im Lande 
nicht; vielmehr zementieren die Truppen diese Situation. 
Auch deshalb fordert die Linke immer wieder den Ab- 
zug der Bundeswehr aus Bosnien. 

(Beifall bei der LINKEN - Michael Brand 
[CDU/CSU]: Ich habe den Eindruck, Sie wa- 
ren nicht in Sarajevo!) 

Banken aus dem Ausland, vorrangig aus Österreich 
und Deutschland, kaufen einen Großteil des Landes auf. 
Fabriken werden nach den Vorgaben von EU und IWF 
privatisiert. Die Arbeitslosigkeit steigt. Nicht nur die 
7 Millionen Euro, die dieser Einsatz im nächsten Jahr 
kosten wird, sind an der falschen Stelle ausgegeben, 
auch ein Teil der knapp 100 Millionen Euro im zivilen 
Bereich richtet Schaden an; denn dieses Geld dient auch 
als Druckmittel für neoliberale Wirtschaftsreformen. 

Wer Privatisierungen, Sozialabbau und die Zerschla- 
gung des öffentlichen Dienstes auf dem Balkan durch- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Inge Höger 

(A) drückt, der hat nichts, aber auch gar nichts von den Ursa- 
chen der aktuellen Wirtschaftskrise verstanden. Es ist 
mehr als fragwürdig, in Bosnien die gleiche Politik 
durchzusetzen, die Griechenland und Italien gerade in 
den Ruin treibt. 

(Michael Brand [CDU/CSU]: Sind Sie sicher, 
dass Sie in Bosnien waren?) 

Im Übrigen sehen die Menschen auf dem Balkan am 
Beispiel Griechenlands, was ihnen blüht, wenn die von 
Minister Westerwelle propagierte euro-atlantische Inte- 
gration kommt. Sie sollten zumindest so mutig sein, den 
Leuten nicht länger Sand in die Augen zu streuen. 

Auch gemessen an den Maßstäben der Bundesregie- 
rung ist dieser Einsatz völlig unnötig. 16 Jahre nach 
Kriegsende brauchen die Bosnier keine militärischen 
Bewacher. Die Vorstellung, dass sich Mitglieder der ei- 
nen Ethnie sicherer vor den Mitgliedern der anderen Eth- 
nie fühlen, weil die Bundeswehr dort stationiert ist, ent- 
behrt jeder realen Grundlage. 

(Beifall bei der LINKEN - Dietmar Nietan 
[SPD]: Sie müssen einmal mit den Bosniaken 
sprechen!) 

- Ich war vor kurzem in Bosnien; das habe ich Ihnen ge- 
rade gesagt. 

(Dietmar Nietan [SPD]: Die sagen mir genau 
das Gegenteil! Ich nehme Sie einmal mit, 
wenn ich mit denen spreche!) 

Genau das haben sie gesagt: Die Militärpräsenz verstärkt 

(B) den Eindruck, Bosnien-Herzegowina werde von der EU 
fremdbeherrscht. Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch. 
EUFOR bildet die bosnische Armee aus, damit sich 
diese in Afghanistan an einem neuen Krieg beteiligen 
und neue Probleme schaffen kann. Diese Spirale von 
Militarisierung und Krieg muss endlich durchbrochen 
werden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Auch die EU-geführte Polizeitrainingsmission dient 
letztlich dem Aufbau einer Polizei, die Proteste nieder- 
schlägt und somit den Ausverkauf des Landes unter- 
stützt. 

(Michael Brand [CDU/CSU]: Ach du meine 
Güte! - Florian Hahn [CDU/CSU]: Kommen 
Sie doch mal in der Realität an! - Dietmar 
Nietan [SPD]: Jetzt wird es wirklich billig!) 

So wurden zum Beispiel im vergangenen Jahr Demon- 
strationen gegen Kürzungen im Gesundheitswesen von 
der Polizei brutal niedergeschlagen. Damit muss endlich 
Schluss sein. 

(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie waren doch 
gar nicht in Bosnien! Sie sind doch ganz wo- 
anders gelandet! Ich glaube, auf einem ande- 
ren Planeten!) 

Das Geld, das für den Bosnien-Einsatz ausgegeben 
wird, könnte viel nützlicher für Aufbauprogramme aus- 
gegeben werden. Gut angelegt wäre das Geld unter an- 
derem bei der Minenräumung. Minen sind in Bosnien 


ein echtes Problem, und es ist gut, dass sich auch Minen- (C) 
räumerinnen und Minenräumer aus Deutschland hier en- 
gagieren. Den Einsatz deutscher Minenfachleute befür- 
worten wir. Den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien 
lehnt die Linke jedoch entschieden ab. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ziehen Sie die Soldaten ab! Die Menschen in Bosnien- 
Herzegowina werden es Ihnen danken. 

(Beifall bei der LINKEN - Dietmar Nietan 
[SPD]: Da habe ich aber andere Erfahrungen 
gemacht! - Michael Brand [CDU/CSU]: Wie 
viele Soldaten haben wir denn in Bosnien, 

Frau Höger? Sie sind irgendwo anders ausge- 
stiegen, aber nicht in Bosnien-Herzegowina!) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Keul vom 
Bündnis 90/Die Grünen. 

Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina 
mit gerade noch zwölf Soldaten vor Ort. Wir hoffen alle 
gemeinsam, dass der Militäreinsatz nach 16 Jahren ir- 
gendwann sein Ende finden wird. Einige EU-Staaten ha- 
ben ihre Soldatinnen und Soldaten bereits vollständig 
abgezogen. 

Allerdings findet dieser Rückzug gleichzeitig mit ei- 
ner sich ständig verschärfenden politischen Krise statt. 

Der diesjährige EU-Fortschrittsbericht zeichnet ein düs- ^ 
tcres Bild. Seit den letzten Wahlen im Oktober 2010 
konnten sich die Parteien nicht auf die Bildung einer ge- 
samtstaatlichen Regierung einigen. Die Spaltung zwi- 
schen den drei ethnischen Entitäten hat sich weiter ver- 
schärft. Vermittlungsversuche, ob vonseiten der EU oder 
vonseiten der Bundesregierung, sind allesamt geschei- 
tert. Nun haben auch die Kroaten innerhalb der Födera- 
tion im April dieses Jahres ihre eigene Nationalver- 
sammlung gegründet - ein verheerendes Signal für die 
Einheit des Staates. 

Der Präsident der Republik Srpska unterstützte offen 
die Absetzbewegung der kroatischen Bosnier und drohte, 
im serbischen Teilstaat ein Referendum abhalten zu las- 
sen. Dabei ging es ihm um den Ausstieg aus dem gemein- 
samen Justizsystem - eine der wenigen gesamtstaatlichen 
Strukturen überhaupt. Catherine Ashton reiste im letzten 
Moment nach Banja Luka und musste Dodik für die Ab- 
sage des Referendums auch noch Zugeständnisse ma- 
chen. Nicht auszudenken, was ein solches Referendum 
für die Existenz des Staates Bosnien-Herzegowina hätte 
bedeuten können! 

In Anbetracht dieser Spannungen ist es nach wie vor 
angemessen, für den Krisenfall 500 Einsatzkräfte in ei- 
nem Reservebataillon bereitzuhalten. Die Höchstgrenze 
laut Mandat beträgt vor diesem Hintergrund immer noch 
800 Soldatinnen und Soldaten, und das akzeptieren wir. 

Klar ist aber auch, dass die Konflikte nur auf politi- 
schem Wege gelöst werden können. Kanzlerin Merkel 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Katja Keul 

(A) hat sich persönlich Anfang des Jahres engagiert, aller- 
dings ohne Erfolg. Das dürfte unter anderem daran lie- 
gen, dass bisher eine konsistente politische Strategie 
fehlt, die den ganzen Raum des westlichen Balkans um- 
fasst. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich 
auf, sich in der EU für ein solches Konzept starkzuma- 
chen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Ganz vorne muss dabei weiterhin die Reform der 
Staatsverfassung stehen. Die im Vertrag von Dayton 
festgeschriebene Verfassung hat das Land nicht befrie- 
det, sondern die Aufteilung in Volksgruppen befördert. 
Dadurch verhindert sie eine integrierte nationale Regie- 
rung. Leider müssen wir konstatieren, dass die EU durch 
ihre nichtkonsistente Politik ein gutes Stück Verantwor- 
tung dafür trägt, dass sich die Kluft zwischen den Volks- 
gruppen immer mehr vertieft hat. 

Wir müssen uns dieser Verantwortung stellen und den 
Bosniern signalisieren, dass ihnen weiterhin eine Bei- 
trittsperspektive offensteht. Deshalb war es richtig und 
wichtig, dass Ende letzten Jahres die Visumfreiheit auch 
für Bosnien eingeführt wurde. 

Weiterhin müssen wir die Bosnier beim Kampf gegen 
das organisierte Verbrechen und die Korruption wirksam 
unterstützen. Denn diese kriminellen Strukturen nutzen 
die bestehenden Konflikte aus, um aus der Instabilität 
Profit zu schlagen, und leider stehen sie oft in enger Ver- 
bindung zur Politik. 

An diesem Punkt ist es wichtig, dass die EU ihre Un- 

(B) terstützung fortsetzt, auch wenn EUPM, die Polizeimis- 
sion, bis Mitte nächsten Jahres eingestellt wird. Wir for- 
dern die Bundesregierung auf, daraufhinzuwirken, dass 
die EU neue Projekte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit 
und der Strafverfolgung auf den Weg bringt. Es darf in 
Bosnien nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Eu- 
ropäische Union angesichts der Krise resigniert zurück- 
zieht. Dies wäre eine fatale Ermutigung für all jene 
Kräfte, die darauf hinarbeiten, dass das Land auseinan- 
derbricht. 

Die Bundesregierung sollte im nächsten Jahr endlich 
ein starkes politisches Signal setzen und den Westbalkan 
in das Zentrum ihrer Außenpolitik rücken. Hier kann sie 
mit ihrem politischen Gewicht wirklich etwas bewegen. 
Dabei muss sie auch wagen, Druck auf die politischen 
Kräfte auszuüben. Die EU darf sich nicht mehr von 
plumpen Drohungen der Rassisten und Separatisten be- 
eindrucken lassen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
CDU/CSU) 

Das führt zu fragwürdigen Kompromissen, die nur die 
Instabilität verstärken. 

Seit den Balkankriegen wissen wir wieder, dass der 
Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Diese 
Erkenntnis sollte auch 16 Jahre nach Kriegsende An- 
sporn sein, uns weiter für Frieden und Stabilität auf dem 
westlichen Balkan einzusetzen. 

Vielen Dank. 


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der CDU/CSU und der SPD sowie der 
Abg. Helga Daub [FDP]) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat 
das Wort der Kollege Florian Hahn von der CDU/CSU- 
Fraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Florian Hahn (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle- 
gen! Auch wenn uns in bewegten Zeiten wie diesen nicht 
jeden Tag Nachrichten aus Bosnien und Herzegowina er- 
reichen, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass wir 
dort ein wichtiges Mandat erfüllen. Gerade in diesem 
Zusammenhang dürfen wir vor allem nicht den Einsatz 
unserer Soldatinnen und Soldaten, der zivilen Helfer und 
der Polizisten vergessen. Sie alle sind mit dafür verant- 
wortlich, dass die Region als weitestgehend stabil einge- 
stuft werden kann. Sie bündeln die zivil-militärische Zu- 
sammenarbeit vor Ort und leisten somit einen wichtigen 
Beitrag zum Friedenserhalt. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN]) 

Das haben Sie, Herr Bundesminister Westerwelle, noch 
einmal deutlich gemacht. Dafür möchte ich Ihnen herz- 
lich danken. 

Ein stabiles Bosnien-Herzegowina liegt in unserem 
wie auch im elementaren Interesse der Europäischen 
Union. Daher müssen und wollen wir das Land auch 
weiterhin auf dem Weg zu einem demokratischen 
Rechtsstaat begleiten. Unser Ziel muss dabei auch in Zu- 
kunft sein, dass dort ein Staat entsteht, in dem alle Eth- 
nien - Bosniaken, Serben und Kroaten - in Frieden mit- 
einander leben können. Die Region muss hierfür durch 
bi- und multilaterale Hilfe langfristig und nachhaltig sta- 
bilisiert werden. Nur so können sich Zukunftsperspekti- 
ven, Wohlstand und Demokratie entwickeln. Das ist die 
Voraussetzung dafür, dass irgendwann ethnische Aus- 
einandersetzungen für immer der Vergangenheit angehö- 
ren können. 

Deutschland engagiert sich seit 1995 im Friedenspro- 
zess. Wir unterstützen dabei nachhaltig die zivilen und 
politischen Bemühungen der internationalen Gemein- 
schaft. So können wir heute über eine Aufnahme in die 
NATO und auch in die Europäische Union zumindest an- 
satzweise nachdenken. Ich stehe auch dazu, dass es für 
den gesamten westlichen Balkan eine EU-Perspektive 
geben muss. 

Doch trotz aller Erfolge ist es bis dahin noch ein wei- 
ter Weg; denn Bosnien und Herzegowina ist nach wie 
vor ein großes Sorgenkind auf dem Balkan. So wurde 
dort am 3. Oktober 2010 gewählt, doch gibt es seit über 
400 Tagen keine Regierung, und eine Einigung ist bisher 
auch nicht in Sicht. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Florian Hahn 

(A) Beim Dialog zu Fragen der Justizreform wollen füh- 
rende Politiker möglichst wenig Rechtsprechung auf der 
Ebene Bosnien-Herzegowinas akzeptieren. Dies stellt in 
meinen Augen einen deutlichen Rückschritt auf dem 
Weg hin zu einem demokratischen Rechtsstaat dar. 
Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht im Interesse der Verant- 
wortlichen dort liegt, 

(Michael Brand [CDU/CSU]: Nur einiger! 

Nicht von allen!) 

so liegt ein EU-Beitritt auch nicht in unserem Interesse. 
Ein glaubhaftes Bemühen, Mitglied der Europäischen 
Union zu werden, beinhaltet deshalb für mich eine solide 
Regierungsbildung, das Bearbeiten der längst überfälli- 
gen Verfassungsreform sowie die wirtschaftliche Inte- 
gration nach den Regeln der EU. 

Bei der Verfassungsreform muss beispielsweise die 
menschenrechtswidrige Praxis, dass Minderheiten nicht 
gewählt werden können, umgehend geändert werden. 
Bei der wirtschaftlichen Integration in den EU-Binnen- 
markt gilt es, das Beihilfeverbot der EU einzuhalten. 
Hierzu ist eine Aufsichtsbehörde notwendig, die das 
auch nachvollziehbar überwachen kann. 

Da sich in Bosnien und Herzegowina aber noch große 
Teile der Wirtschaft in öffentlicher Hand befinden, ver- 
laufen Auftragsvergaben nicht immer zweifelsfrei. Im 
Gegenzug sind öffentliche Unternehmen eine Versor- 
gungseinrichtung für bestimmte Cliquen. Auch hier 
braucht es mehr Transparenz, hier sind entsprechende 
Gesetze notwendig. Vetternwirtschaft und Korruption 

(B) 

muss Einhalt geboten werden; denn auf Korruption kann 
man keinen modernen Staat aufbauen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Als weiterer Punkt ist für mich die Durchführung ei- 
nes Haushaltszensus von großer Wichtigkeit. Der letzte 
Zensus wurde 1991 durchgeführt. Die damals erhobenen 
Daten sind obsolet und können keine Basis für die Ge- 
genwart und die Zukunft sein. Gerechtigkeit in der Ver- 
teilung und beim Mitspracherecht kann so niemals her- 
gestellt werden. Technisch ist die Durchführung eines 
Zensus kein Problem. Das Problem liegt allein im politi- 
schen Willen. 

Meine Damen und Herren, Bosnien und Herzegowina 
braucht für eine chancenreiche Zukunft dringend weitere 
Erfolge. Mit einer Mandatsverlängerung werden wir 
auch künftig dazu beitragen, dass das Land diese Erfolge 
realisieren kann. Wir wissen, dass Bosnien und Herzego- 
wina die internationale Präsenz selbst wünscht. Die 
Menschen haben den Wunsch, dass im Notfall eine Re- 
serve da ist, die für sie und ihre Sicherheit sorgt. 

Wir haben das Ziel, die exekutive Operation ALTHEA 
zu beenden und in eine nichtexekutive Ausbildungs- und 
Unterstützungsmission umzuwandeln. Die Reduzierung 
der Mandatsobergrenze ist dafür ein Indikator. Ich werbe 
für die Verlängerung dieses Mandats. Unseren Soldatin- 
nen und Soldaten, den Polizisten und zivilen Helfern 


wünsche ich auf diesem Weg viel Erfolg und Gottes Se- (C) 
gen. 

Danke sehr. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7577 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung 
so beschlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 0 auf: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, 
Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Rechtsextremistische Einstellungen im Sport 
konsequent bekämpfen - Toleranz und Demo- 
kratie nachhaltig fördern 

- Drucksachen 17/5045, 17/7597 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Klaus Riegert 
Martin Gerster 

Dr. Lutz Knopek ^ 

Katrin Kunert 

Viola von Cramon-Taubadel 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- 
derspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. 

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers- 
tem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatsse- 
kretär Dr. Christoph Bergner. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Dr. Christoph Bergner, Pari. Staatssekretär beim 
Bundesminister des Innern: 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl 
ich aufgefordert bin, hier für die Bundesregierung Stel- 
lung zu nehmen, sei es mir gestattet, ein Beispiel aus der 
Vereinspraxis anzuführen. 

Mein eigener Sportverein hat auf seiner letzten Dele- 
giertenversammlung eine Satzungsänderung beschlos- 
sen. Die Satzung lautet - ich darf zitieren -: Unser Ver- 
ein 

ist offen für alle sportinteressierten Bürger, unab- 
hängig von ihrer Religion, Weltanschauung, Partei- 
zugehörigkeit und gesellschaftlichen Stellung. 

So weit war das schon bisher Satzungstext. Nun kommt 
hinzu: 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Pari. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner 

(A) Er wendet sich entschieden gegen jede Form von 

Rassismus, Chauvinismus, Extremismus und politi- 
scher Willkür. 


(B) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 

NEN]: Aber was ist daraus geworden?) 


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Ich verweise mit Blick auf die neuen Bundesländer 
darauf, dass es dem Bundesinnenministerium ein wichti- 
ges Anliegen war, das Programm „Zusammenhalt durch 
Teilhabe“ zu einem Programm zu machen, das die Lan- 
dessportbiinde bei der Bekämpfung extremistischer Ein- 
flussnahmen und Bestrebungen im Sport unterstützt. 

So wichtig das Anliegen ist, so sehr ist zu bemängeln, 
dass sich die Antragsteller nicht über den Stand der Ar- 
beit hinreichend informiert bzw. nicht daran angekniipft 
haben. Im Lichte der bereits bestehenden Kampagne ist 
manche der Forderungen, die im Antrag erhoben wer- 
den, als wenig zielführend zu bewerten. 

Das gilt zunächst einmal für die Forderung, zeitnah 
einen Bericht über verfassungsfeindliche extremistische 
Bestrebungen im Sport, mit konkreten Fallzahlen nach 
Bundesländern und Sportarten, vorzulegen. Die Umset- 
zung dieser Forderung bedeutet nicht mehr und nicht 
weniger als die Einführung eines verbindlichen Melde- 
systems für die Vereine, bei dem bereits unterhalb der 
Strafbarkeitsschwelle entsprechende Meldungen zu ma- 
chen sind. Sie alle, jedenfalls die Mitglieder des Sport- 
ausschusses, stecken tief im Thema Vereinsverantwor- 
tung und Vereinsarbeit und wissen, was das für den 
einzelnen Verein und die ehrenamtlichen Leitungen be- 
deutet. 

Die zweite Forderung, die Aufnahme eines Kapitels 
„Extremismus und Sport“ in künftigen Sportberichten, 
ist mit dem 12. Sportbericht bereits erfüllt. Wir werden 
bei der Diskussion des nächsten Sportberichts die Gele- 
genheit haben, festzustellen, ob die Forderungen ent- 
sprechend umfänglich und vollständig umgesetzt wur- 
den. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Ich erwähne schließlich eine ganze Reihe von Forde- 
rungen, die auf eine finanzielle Unterstützung der Ver- 
eine abzielen. Ich muss an diesen Forderungen zum ei- 
nen kritisieren, dass sie haushaltsrelevant sind. Sie 
sollten an anderer Stelle und weniger pauschal gestellt 
werden. Zum anderen muss ich aber vor allen Dingen 
kritisieren, dass sie die Zuständigkeits- und Kompetenz- 
fragen außer Acht lassen, die für die jeweiligen Finan- 
zierungsmodelle nicht ohne Bedeutung sind. 

Es gibt eine Anzahl von Forderungen, die ich als auf 
dem Wege, wenn auch nicht als erfüllt betrachte. Die Ein- 
führung eines Gütesiegels ist Teil der Handlungsempfeh- 
lungen. Die geforderten Ansprechpartner im LSB gibt es 
bereits. Fortbildungsveranstaltungen mit LSB-Vertretern 
sind schon im Herbst dieses Jahres durch die Deutsche 
Sportjugend entsprechend terminiert. 

Ich will noch einmal deutlich machen: Ich glaube, es 
gibt gegen das Anliegen des Antrags keinerlei Ein- 
wände. Im Gegenteil, wir wissen, dass wir es mit einem 
wichtigen Anliegen zu tun haben. 


die nicht allein, wie der Antragsteller sagt, eine Kampa- 
gne der Bundesregierung ist. Kampagnenträger sind ne- 
ben dem Bundesinnenministerium und dem Bundes- 
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche 
Sportjugend im Auftrag des DOSB, der Deutsche Fuß- 
ball-Bund, die Sportministerkonferenz, die kommunalen 
Spitzenverbände und die Landessportbünde. 

Sie alle - das wird bei der weiteren Beratung des An- 
trags noch bedeutsam werden - wirken bei der Umset- 
zung der Empfehlungen des Handlungskonzepts mit, das 
der Kampagne zugrunde liegt. Dabei steht die Bekämp- 
fung von Rechtsextremismus zwar im Vordergrund, aber 
der Initiative geht es um viel mehr: Sie richtet sich auch 
gegen jegliche Form von Diskriminierung im Umfeld 
des Sports und legt deshalb einen besonderen Schwer- 
punkt auf die Prävention. 

Ich will nur kurz auf die drei wichtigsten Punkte der 
Kampagne verweisen. Es geht darum, die Vereine für 
rechtsextremistische Einflussnahmen, die subtil erfolgen, 
zu sensibilisieren, sie zu motivieren, konsequent gegen 
rechtsextremistische Erscheinungsformen und Diskrimi- 
nierung vorzugehen, sich entsprechend fortzubilden und 
gegen Rechtsextremismus zu positionieren und durch 
eine Bündelung von Informationen und Vernetzung von 
externen Unterstützungsangeboten Vereinen eine ent- 
sprechende Hilfestellung zu geben. 


Die Satzungsänderung, die wir in unserem Verein be- 
schlossen haben, hat einen Hintergrund. Wir haben aus 
den Erfahrungen gelernt, die ein anderer Verein unseres 
Bundeslandes machen musste, als ein Trainer und 
Übungsleiter, der Mitglied der NPD war, seine Vereins- 
mitarbeit für Werbung im extremistischen Sinne - 

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Rechtsextremistisch, muss man sagen!) 

- im rechtsextremistischen Sinne - genutzt hatte und der 
Verein große Schwierigkeiten hatte, sich von diesem 
Trainer und Übungsleiter auf der Basis der bestehenden 
Satzung zu trennen. 

Ich nenne dieses Beispiel, um deutlich zu machen, 
dass die Sportvereine und -verbände im Rahmen ihrer 
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung hier vor beson- 
deren Herausforderungen stehen, dass also das Anliegen, 
das mit dem Antrag der SPD-Fraktion zum Ausdruck ge- 
bracht wurde, durchaus als berechtigt gelten kann. 

Aber allein diese Feststellung sollte uns bei der Be- 
wertung und der Behandlung dieses Antrages nicht ge- 
nügen. Denn was aus meiner Sicht im Antrag unzurei- 
chend zum Ausdruck kommt, ist die Anknüpfung an 
entsprechende Bemühungen. Ich nenne insbesondere die 
Kampagne „Sport und Politik verein(t) gegen Rechts- 
extremismus“, 


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Dann können Sie ja zustimmen!) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Kommen Sie bitte zum Schluss. 

Dr. Christoph Bergner, Pari. Staatssekretär beim 
Bundesminister des Innern: 

Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Gut. Bitte. 

Dr. Christoph Bergner, Pari. Staatssekretär beim 
Bundesminister des Innern: 

Ich möchte an dieser Stelle an Sie alle appellieren, da- 
für zu sorgen, dass wir die in der Kampagne verfolgten 
Ziele nicht durch ein vordergründiges Einfordem von 
Erfolgsmeldungen, nicht erfüllbaren Beitragspflichten 
oder unpräzise formulierten Finanzierungsmaßnahmen 
konterkarieren, sondern dass wir die Maßnahmen dieser 
gemeinsamen Kampagne, die von der Bundesregierung 
nur zu einem Teil betrieben wird, gemeinsam unterstüt- 
zen. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Martin Gerster (SPD): 

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! 
Gestern war der 9. November - ein ganz besonderer Tag, 
in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Tag in der 
deutschen Geschichte. Mit Blick auf die Reichspogrom- 
nacht ist dieser Tag für uns natürlich eine immerwäh- 
rende Mahnung, entschlossen gegen Antisemitismus, ge- 
gen Rassismus, kurz: gegen Menschenfeindlichkeit mit 
all ihren Erscheinungsformen einzutreten und klarzuma- 
chen: Nein, so etwas nie wieder! 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über 
Sport sprechen, dann beschwören wir oft die Fähigkeit 
des Sports, Menschen zusammenzubringen, Vorurteile 
abzubauen und an ihrer Stelle Fairness und Toleranz zu 
fördern. Viel weniger sprechen wir über die Gefahren, 
die damit verbunden sind, wenn Sport missbraucht wird: 
Dann kann das exakte Gegenteil von dem entstehen, was 
wir uns vom Sport wünschen. Seit Jahren ist bekannt, 
dass Rechtsextremisten gezielt versuchen, den Sport vor 
ihren ideologischen Karren zu spannen, und die ehren- 
amtliche Tätigkeit im Sportverein nutzen, um ganz ne- 
benbei ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten. 
Sportstätten sehen sie als Bühne, um zu provozieren, um 
rassistische und antisemitische Inszenierungen irgend- 
wie zustande zu bringen. Die Politik darf dabei nicht 


wegsehen. Politik muss handeln und muss Vorschub (C) 
leisten, damit das nicht weiter um sich greifen kann. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es ge- 
schafft, solche Aktivitäten zuweilen aus den großen 
Sportarenen zu verbannen. Aber die Frage ist ja: Wie ist 
es uns gelungen? Hier muss man ganz klar sagen: Das ist 
das Verdienst all derjenigen, die sich in den Fanprojek- 
ten engagieren, die engagierte Arbeit an der Basis leisten 
und andererseits oftmals nicht die notwendige Unterstüt- 
zung aus der Politik erfahren, weil es noch immer viel zu 
viele Kommunen gibt, die nicht erkennen, welcher Wert 
dahintersteckt, weil es noch immer viel zu viele Bundes- 
länder gibt, die sich letztendlich schwertun, sich hierbei 
zu engagieren. 

Ich will nur das Beispiel Baden-Württemberg nennen: 

Die schwarz-gelbe Landesregierung hat ganz lange ge- 
braucht, um endlich einzusehen, wie wichtig Fanpro- 
jekte an dieser Stelle sind. Die neue Landesregierung aus 
Grünen und SPD hat es im Koalitionsvertrag festge- 
klopft: Fanprojekte sind ein ganz wichtiger Bestandteil 
ihrer Politik. Das ist so, und das wird auch so bleiben in 
Baden- Württemberg. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Seit Jahren fordern wir, die Aufbauarbeit der Koordi- 
nationsstelle Fanprojekte, KOS, in Frankfurt stärker zu 
unterstützen. 

Unverständlich für uns ist, dass diese Woche in der 
Presse zu lesen war, dass Bundesinnenminister Friedrich 
die Finanzierung dieser Projekte infrage stellt. Wir wis- 
sen nicht, ob zutrifft, was dort berichtet wurde. Aber ich 
hätte mir schon gewünscht, Herr Staatssekretär 
Dr. Bergner, dass Sie die heutige Debatte genutzt hätten, 
um klarzustellen, dass eine Reduzierung der Mittel nicht 
angestrebt wird. Schade! Eine verpasste Chance an die- 
ser Stelle. 

Wir finden, dass es irgendwie unglaubwürdig ist, 
wenn einerseits im Januar der Vorgänger des jetzigen 
Bundesinnenministers, Herr Thomas de Maiziere, und 
die Familienministerin Frau Schröder sich bei einer gro- 
ßen Veranstaltung feiern lassen, wenn sie bei diesem 
Event viel ankündigen, wir aber andererseits jetzt in den 
Zeitungen lesen: Die Finanzierung wird infrage gestellt. 
Schade! Vielleicht wird das einer der folgenden Redner 
noch klarstellen. Wir haben jedenfalls nicht vergessen, 
dass vor zehn Monaten zwei Minister in Berlin die Ini- 
tiative „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ mit einem 
großen Bahnhof vorgestellt haben, und stellen fest, dass 
bis jetzt eigentlich noch gar nichts passiert ist. Ich 
glaube, hier wird etwas verwechselt. Ankündigung ist 
noch nicht gleich Handeln. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Wenn in der Diskussion im Sportausschuss gesagt 
wird, der Antrag der SPD-Fraktion habe sich durch Han- 
deln erledigt, dann muss ich sagen, dass das einfach 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Martin Gerster 

(A) nicht zutrifft; denn schon vor über zehn Monaten wurde 
zum Beispiel angekündigt, dass ein Gütesiegel für Ver- 
eine eingeführt wird. Bislang ist noch nichts passiert. 
Wir haben im Sportausschuss bei den Vertretern des 
Ministeriums nachgefragt. Da hieß es, in den nächsten 
Wochen wolle man sich so langsam zusammensetzen 
und überlegen, wie man das irgendwie hinbekommen 
könne. Dazu muss ich sagen: Es dauert ganz schön 
lange, bis irgendetwas auf die Reihe gebracht wird. Die 
Regierung kündigt viel an, aber es passiert letztendlich 
viel zu wenig. Das kritisieren wir. Deswegen haben wir 
den Antrag eingebracht. Wir sagen nicht, dass alles 
falsch ist, was im Januar angekündigt wurde, aber mit 
der Umsetzung hapert es gewaltig. 

Im Übrigen muss man ganz klar sagen: Sie könnten 
eigentlich jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es 
darum geht, Demokratie und Wertevermittlung voranzu- 
bringen, indem Sie uns zugestehen, dass wir auch im 
Sportausschuss wieder öffentlich über ein solches 
Thema diskutieren. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat jetzt der Kollege Lutz Knopek von der 
FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 

( B ) der CDU/CSU) 

Dr. Lutz Knopek (FDP): 

Könnten Sie das Pult hochdrehen? 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das müssen Sie selber machen. 

Dr. Lutz Knopek (FDP): 

Mein Vorredner und ich, wir unterscheiden uns in der 
Größe, aber nicht in unserem Engagement für den Sport. 

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Ich begrüße es, dass die SPD mit ihrem An- 
trag auf die ernstzunehmende Gefahr hinweist, dass 
Rechtsextremisten Sportvereine gezielt zur Verbreitung 
ihres rassistischen, antidemokratischen und menschen- 
verachtenden Gedankenguts nutzen, sei es als aktiver 
Sportler, Trainer, Vorstandsmitglied oder Sponsor. Es 
freut mich daher, dass dieses wichtige Thema heute 
Nachmittag im Plenum öffentliches Gehör finden kann. 

(Beifall im ganzen Hause) 

Gerade der Sport, der Menschen verschiedenster Kul- 
turen miteinander verbindet, innerhalb der Gesellschaft 
die Integration fördert und Werte wie Toleranz, Respekt 
und Fairness vermittelt, muss unbedingt vor antidemo- 
kratischem und rassistischem Gedankengut geschützt 
werden. Immer wieder blicken wir hier als Erstes auf 
den Fußball. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, 
dass Rechtsextremismus im Sport kein reines Problem 


des Fußballs ist. Rechtsextremisten fokussieren sich auf (C) 
diesen Sport, da der Fußball in unserer Gesellschaft be- 
sonders stark wahrgenommen wird und sie ein Höchst- 
maß an Öffentlichkeit suchen. Aber auch Kampfsport- 
vereine und die Kraftsportszene können beispielsweise 
betroffen sein. 

Die Gefahr wurde von den Sportverbänden und der 
Bundesregierung erkannt, und gute Maßnahmen wurden 
bereits getroffen. So hat das Innenministerium Anfang 
dieses Jahres mit der Auftaktveranstaltung „Foul von 
Rechtsaußen - Sport und Politik verein(t) für Toleranz, 
Respekt und Menschenwürde“ eine Initiative gestartet. 
Gemeinsam mit dem organisierten Sport hat die Bundes- 
regierung tragfähige Handlungskonzepte vorgelegt, um 
rechtsextremistische Tendenzen im Sport abzuwehren. 

Auch hat das Innenministerium gegenüber den Lan- 
dessportbiinden, wie im Antrag der SPD gefordert, be- 
reits die Empfehlung ausgesprochen, Ansprechpartner 
und Hilfe zur Verfügung zu stellen, was diese teilweise 
auch schon umgesetzt haben. Insbesondere der Fußball 
zeigt sich auf der Ebene der Landesverbände für diese 
Problematik sensibilisiert. 

Auch die klassischen Fanprojekte leisten auf diesem 
Feld bereits hervorragende Arbeit. Des Weiteren gibt es 
inzwischen zahlreiche Faninitiativen wie die „Bunte 
Kurve“ oder „Fare Network“, die sich gezielt gegen Ras- 
sismus und Diskriminierung im Allgemeinen wehren; 
denn auch Homophobie stellt ein großes Problem im 
Sport dar. 

Die Europäische Kommission vergibt Zuschüsse an 
zwölf transnationale Initiativen - neun davon in (qj 
D eutschland - zur Bekämpfung von Gewalt und Intole- 
ranz im Sport, insbesondere auf der Basisebene. Zusätz- 
lich gibt es eine europaweite Aktionswoche gegen Ras- 
sismus, und Vereine und Spieler positionieren sich 
öffentlich gegen Rassismus und nutzen ihre Möglichkei- 
ten, in ihren Stadien gegen Rassismus vorzugehen. 

Die von der SPD im Antrag geforderten Initiativen 
seitens der Regierung, Verbände, Vereine und Fanclubs 
existieren also bereits: organisationsübergreifend und 
sogar konkreter und zielgerichteter als nun gefordert und 
sind bis zum haushaltsrechtlich zulässigen Maß umge- 
setzt. Ich denke nicht, dass es bei einer so großen und 
breiten gesellschaftlichen Gegenbewegung Aufgabe des 
Bundes ist, hier noch weitere Modellprojekte oder Güte- 
siegel zu schaffen. Eher sehe ich hier die Länder und 
Kommunen in der Pflicht, die die Gegebenheiten und 
Gefahren vor Ort viel besser kennen, antiextremistische 
Initiativen zu unterstützen, zu fördern und eng mit ihnen 
zusammenzuarbeiten. In diesem Punkt kann ich dem 
Antrag zustimmen, und ich begrüße es ausdrücklich 
- anders als die Linke dass die SPD an dieser Stelle ei- 
nen geweiteten Blick auf andere Formen des Extremis- 
mus lenkt. 

Natürlich liegt im Bereich der Vereine der Schwer- 
punkt klar beim Rechtsextremismus. Allerdings darf 
man vor anderen Formen des gewaltbereiten Extremis- 
mus, wie Linksextremismus und Islamismus, grundsätz- 
lich nicht die Augen verschließen. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Lutz Knopek 

(A) Wir hoffen sehr, dass die heutige Debatte alle, also 
Politik, Verbände, aber auch die Vereine selbst mit ihren 
Vereinsmitgliedern stärker für die Problematik des 
Rechtsextremismus im Sport sensibilisiert und zum Han- 
deln motiviert. Wir brauchen noch stärker eine Kultur 
des Hinsehens und der Zivilcourage. Je mehr Menschen 
von den Kampagnen und Maßnahmen sowie den An- 
laufstellen bei Betroffenheit erfahren, umso stärker kön- 
nen wir alle gemeinsam Rechtsextremismus im Sport 
Vorbeugen und bekämpfen. 

Mit Blick auf ihren Antrag muss sich die SPD aller- 
dings die Frage gefallen lassen, ob sie der Bundesregie- 
rung unterstellt, hier etwas versäumt zu haben. Dabei ist 
das Gegenteil der Fall. Das ist unfair und unsportlich. 
Meine Fraktion wird diesen Antrag daher leider ableh- 
nen. 

Ich bedanke mich. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Michael Groschek [SPD]: Der Start war so 
gut! - Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Jetzt können wir leider nicht mehr 
klatschen!) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat der Kollege Jens Petermann von der 
Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Jens Petermann (DIE LINKE): 

(B) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen 
und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die 
Zahlen sind erschreckend: In den letzten 20 Jahren ha- 
ben 137 Menschen ihr Leben durch rechtsextremistische 
Straftaten verloren. Sie wurden Opfer antisemitischer, 
fremdenfeindlicher und rassistischer Gesinnungstäter. 
Derartige Einstellungen finden sich in vielen gesell- 
schaftlichen Bereichen - leider auch im Sport. Sie stel- 
len eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Darum müs- 
sen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen - 
auch hier und heute im Deutschen Bundestag. 

Die Zusammenarbeit von Politik und zivilgesell- 
schaftlichen Strukturen ist hier ein erfolgreiches Agieren 
gegen die Gefahr von rechts außen und ohne Alternative. 
Ein Beispiel dafür ist die thüringische Kreisstadt Hild- 
burghausen. Dort hatte ein bekennender Neonazi einen 
Fußballverein gegründet, der als rechtes Sammelbecken 
diente. Durch zivilgesellschaftliches Engagement ist es 
gelungen, den Verein von der Bildfläche zu verbannen. 
Die Stadt Hildburghausen - übrigens mit einem linken 
Bürgermeister an der Spitze - hat dem Verein den Zu- 
gang zu Sportanlagen untersagt. Der Kreissportbund hat 
dem Zusammenschluss die Anerkennung als Verein ver- 
wehrt, und das örtliche Bündnis gegen Rechtsextremis- 
mus, in dem unter anderem Vertreter von Kirchen, Par- 
teien und Gewerkschafter organisiert sind, hat vorbild- 
liche zivilgesellschaftliche Aufklärungsarbeit geleistet. 

Rechtsextremismus im Sport ist ein sehr ernstzuneh- 
mendes Phänomen. Das zeigt eine endlose Kette von 
Vorfällen insbesondere im Umfeld des Fußballs; Kollege 


Knopek, Sie hatten es bereits erwähnt. Meine Fraktion (C) 
begrüßt darum den Antrag der SPD als Schritt in die 
richtige Richtung. Umso bedauerlicher ist es allerdings, 
dass Union und FDP selbst diesen kleinen Schritt mit fa- 
denscheinigen Begründungen ablehnen. Anstatt mit kon- 
kreten Maßnahmen dem Rechtsextremismus im Sport 
Paroli zu bieten, belässt es die Koalition leider bei Lip- 
penbekenntnissen. 

„An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren 
Worten“, heißt es sinngemäß bei Matthäus. 

(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Matthäus war 
ein Fußballer! Lothar Matthäus!) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das 
Feld überlasse ich Ihnen gerne. Auch die heutige Politik 
muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Die Linke 
wird darum dem Antrag der SPD zustimmen. Die Forde- 
rung, dauerhafte Förderstrukturen für Verbände und Ver- 
eine zu schaffen, unterstützen wir. Das ist ein ganz kon- 
kreter Vorschlag, auch wenn der Antrag in der Wahl der 
Begriffe nicht ganz konsistent ist. 

Ich erinnere an dieser Stelle an die Erkenntnisse, die 
der Sportausschuss bereits im Jahre 2008 gewonnen hat. 
Damals erklärte der Sachverständige Martin Endemann 
vom Bündnis Aktiver Fußballfans in der Anhörung zu 
Extremismus im Sport: Mir ist nicht bekannt, dass es in 
Deutschland ein großartiges Problem mit linksextremis- 
tischen Fußballfans gebe. Insofern halte ich den Titel 
dieser Veranstaltung für falsch; es sei denn, man macht 
den Fehler, antirassistisches Engagement in irgendeiner 
Weise mit linksextremistischer Politik verknüpfen zu 
wollen. - Übrigens hat sich der DFB-Präsident Theo (D) 
Zwanziger diese Position in der gleichen Sitzung zu ei- 
gen gemacht. 

Im Bereich Fußball bestehen sicherlich die größten 
Probleme, aber Rassismus und Diskriminierung gibt es 
auch in anderen Sportarten, manchmal offensichtlich, 
manchmal aber auch im Verborgenen. Bedingungsloser 
Einsatz gegen den Rechtsextremismus in unserer Gesell- 
schaft muss über Konzepte auf geduldigem Papier hin- 
ausgehen. Ich empfehle darum Union und FDP, einmal 
beim Bürgermeister in Hildburghausen zu hospitieren. 

Ich setze mich gerne dafür ein, dass Sie dort kurzfristig 
einen Termin bekommen, und bedanke mich für Ihre 
Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. 

Sönke Rix [SPD]) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bünd- 
nis 90/Die Grünen. 

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es 
wurde schon gesagt: Neonazismus und Rechtsextremis- 
mus sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im- 
mer wieder auch im Sport vorkommt. Deshalb bin ich 
den Kolleginnen und Kollegen der SPD dankbar, dass 
sie diesen Antrag eingebracht haben. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Monika Lazar 

(A) Sie haben den Ball aufgenommen, den wir ihnen in der 
letzten Wahlperiode mit unserem Antrag zugespielt ha- 
ben. 


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Abgeschrieben!) 

Unseren damaligen Antrag „Alle Formen von Diskrimi- 
nierungen thematisieren" hatten Sie leider abgelehnt. Al- 
lerdings sehen wir mit Freude, dass Sie in Ihrem jetzt 
vorgelegten Antrag durchaus viele unserer damaligen 
Forderungen teilen. 

Der Sport hat einen hohen Stellenwert in unserer Ge- 
sellschaft - da sind wir uns wahrscheinlich alle einig. Al- 
lerdings ist der Sport nicht automatisch tolerant und inte- 
grativ. Wir müssen uns da immer wieder engagieren. Ich 
persönlich habe schon häufig erlebt, wie Initiativen, die 
sich für Toleranz im Sport einsetzen, von anderen Verei- 
nen oder Verbänden argwöhnisch beäugt werden. Sie 
werden sehr schnell als Nestbeschmutzer beschimpft, 
oder es wird gesagt, sie würden unnötigerweise die Poli- 
tik in den Sport hineintragen. Deshalb möchte auch ich 
auf das Engagement von Theo Zwanziger verweisen, der 
sich diesbezüglich immer sehr explizit äußert: ob in der 
Anhörung des Sportausschusses oder auch sonst bei vie- 
len anderen Gelegenheiten. Diese Appelle müssen insbe- 
sondere im Breitensport gehört und umgesetzt werden. 
Viel zu häufig wird vor Ort gesagt, das schaffe man nicht, 
es wird auf das Prinzip der Subsidiarität verwiesen oder 
auf die Überlastung des Ehrenamtes hingewiesen. 


(B) 


Politik ist bei dieser Thematik ebenso gefragt. Die 
Initiative „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ wurde ja 
schon von verschiedenen Vorrednern angesprochen. 
Auch ich kann allerdings nur sagen: Außer markigen 
Worten ist bis jetzt leider nichts weiter erfolgt. 


(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 


Der Präsident des DOSB, Thomas Bach, schilderte, dass 
man gegen rechtsextreme Einstellungen im Sport konse- 
quent vorgehe. Der DOSB hätte - ich zitiere - „diesen 
Tendenzen bereits vor Jahren den Krieg erklärt“. Das 
waren klare Worte, doch nach fast einem Jahr müssen 
wir konstatieren: Es waren wohl eher, um im Jargon zu 
bleiben, leere Patronenhülsen. Das Programm mag noch 
so schön zu lesen sein; wir würden im Bundestag gerne 
mehr über die Umsetzung erfahren. Wenn die entspre- 
chenden Ministerien der Bundesregierung mehr wissen, 
könnte man uns ja in den Ausschüssen dahin gehend in- 
formieren. 


Wir haben in den vergangenen Jahren insbesondere 
auch bei den Fanprojekten sehr viel gemacht, mittler- 
weile in allen Bundesländern. In Sachsen hat es wie in 
Baden-Württemberg - Letzteres wurde ja schon ange- 
sprochen - lange Jahre gedauert, bis etwas unternommen 
wurde. Es musste erst etwas Schlimmes passieren, bis 
sich die sächsische Landesregierung dazu durchgerun- 
gen hat. Von daher sind die geplanten Kürzungen bei der 
KOS in keiner Weise nachvollziehbar. Es kann einfach 
nicht sein, dass man sagt, hier werde Geld verschwendet. 
Hier wird gute Arbeit geleistet. Wir brauchen eher mehr 
davon als weniger. Von daher ist insbesondere die sozial- 
pädagogische Arbeit in diesen Bereichen auszuweiten. 
Hier darf es keine Kürzungen geben. 


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- 
KEN) 

Das Förderprogramm „Zusammenhalt durch Teil- 
habe“ ist ebenfalls schon angesprochen worden. Die da- 
zugehörigen Modellprojekte unterstützen wir. Allerdings 
ist auch bei diesem Programm zu kritisieren, dass der 
unklare, unwissenschaftliche Extremismusbegriff immer 
wieder verwendet wird. Dieser Umstand erschwert die 
ohnehin schwierige praktische Arbeit. Ebenso ist zu kri- 
tisieren, dass die Dauer des Programms nur befristet ist. 
Das ist ein generelles Problem. Ich erinnere nur an das 
ausgelaufene Modellprojekt „Am Ball bleiben“. Dort 
wurden tolle Sachen gemacht, aber das Programm läuft 
aus; alles wird abgeheftet, und es folgt leider nichts. 

Wir müssen nicht jedes Mal das Rad neu erfinden; 
aber wir sollten uns endlich alle zusammensetzen und 
nachhaltige Konzepte entwickeln, inklusive Finanzie- 
rung. 

Ganz zum Schluss an all diejenigen, die den Antrag 
heute ablehnen werden: Ihnen empfehle ich die Lektüre 
des Buches „Angriff von Rechtsaußen - Wie Neonazis 
den Fußball missbrauchen“ von Ronny Blaschke. Dort 
können Sie alle möglichen Beispiele noch einmal nach- 
lesen, zum Beispiel den von Herrn Bergner erwähnten 
Fall Battke und den Fall in Hildburghausen, den der Kol- 
lege Petermann genannt hat. Es gibt auch ein großes Ka- 
pitel zum Thema Leipzig, wo es in der Auseinanderset- 
zung große Probleme gibt. Lesen bildet! Wenn Sie heute 
nicht zustimmen, kommen wir vielleicht zu einem ande- 
ren Zeitpunkt zu einer gemeinsamen Position. 

Vielen Dank. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frank Steffel von 
der CDU/CSU-Fraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 
ren! Wir begrüßen es, um das gleich vorneweg zu sagen, 
dass es seit Anfang dieses Jahres das gemeinsame Pro- 
gramm „Verein(t) gegen Rechtsextremismus“ gibt - ein 
Programm der Bundesregierung, mehrerer Ministerien, 
der Sportminister der 16 Bundesländer, der Landessport- 
biinde, des DOSB, des DFB, der Deutschen Sportjugend, 
der kommunalen Spitzenverbände und vieler anderer. 
Unabhängig davon, was wir im Detail kritisieren können 
- das mag ja zum Teil sogar einen -, sind wir dankbar, 
dass sie alle sich darauf verständigt haben, diesem wich- 
tigen Thema die Bedeutung beizumessen, die wir ihm 
heute zu Recht auch im Deutschen Bundestag zuerken- 
nen. 

Es gibt Themen, die sich wenig für parteipolitischen 
Dissens eignen. Deswegen haben wir Ihren Antrag, Herr 
Gerster, im Sportausschuss sehr ausführlich beraten. Wir 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Frank Steffel 

(A) sind in der Tat in einigen der acht Punkte, die Sie ergän- 
zend Vorschlägen, nicht Ihrer Auffassung und werden 
den Antrag heute ablehnen müssen, weil das nun einmal 
das parlamentarische Verfahren ist. Wir lassen uns des- 
wegen aber nicht unterstellen, wir würden das Thema 
nicht ernst nehmen oder gar uns nicht ernsthaft darum 
bemühen, unseren Vereinen dabei zu helfen, sich vor 
Rechtsradikalen und Rechtsextremen zu schützen. 


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Nun gibt es offensichtlich ein Problem. Viele junge 
Menschen engagieren sich sehr stark in Vereinen; 
50 Prozent unserer Jugendlichen sind in Sportvereinen. 
Diese jungen Menschen sind natürlich ein guter Nährbo- 
(B) den für politische Strömungen, die versuchen, Menschen 
in die Irre zu führen, die mit Fremdenfeindlichkeit, mit 
Ausgrenzung, mit all den Dingen, die wir in unserem de- 
mokratischen Spektrum eben nicht wollen, versuchen, 
diesen Menschen einfache Antworten zu geben und da- 
mit vielleicht auch von Alltagsproblemen abzulenken. 
Insofern sind wir gut beraten, den Vereinen zu helfen 
- die Bundesregierung und die Initiative tun das - und 
sie übrigens auch zu ermutigen - auch diesen Aspekt 
möchte ich herausarbeiten sich dazu zu bekennen, 
wenn sie ein solches Problem in ihrer ehrenamtlichen 
Trainer- oder Betreuerschaft haben. Das ist doch ein 
wirkliches Problem bei diesem Thema. Wenn ein Verein 
sagt, er habe bei einem Jugendtrainer festgestellt, dass er 
beispielsweise Mitglied der NPD ist und dass er mit jun- 
gen Menschen nicht so arbeitet, wie der Verein sich das 
vorstellt, dann führt das zu einer medialen Ächtung und, 
möchte man fast sagen, zu einer gesellschaftspolitischen 
Flinrichtung des Vorstandes des Vereins und der anderen 
ehrenamtlichen Trainer. Es entsteht außerdem der Ein- 
druck, der gesamte Verein habe jahrelang bewusst weg- 
geschaut, was dazu führt, dass Eltern ihre Kinder aus 
dem Verein herausnehmen. So dürfen wir uns nicht wun- 
dern, dass die Vereine sagen: Wenn das die Konsequenz 
ist, dann vertuschen wir diese Vorkommnisse und 
schweigen das Thema lieber tot. - Daher möchte ich 
heute meine Rede dazu nutzen, nicht nur allgemeine Be- 
kenntnisse abzugeben, sondern an uns und an die Me- 
dien zu appellieren, die Vereine, die den Mut haben, ein 
solches Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, zu un- 
terstützen. Das ist ein wichtiger Aspekt dieser Debatte. 


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ich möchte noch einen Punkt aufgreifen, bei dem ich 
manchmal das Gefühl habe, wir laufen ein wenig in die 
falsche Richtung. Wir haben in den Vereinen Ehrenamt- 
liche, die sich mit vielen Dingen hoffentlich gut ausken- 
nen: mit den Regeln, mit Trainingsmethoden und damit, 
wie man die Vereinskasse ordentlich führt. Wir sollten 
uns aber alle gemeinsam davor hüten, diesen Ehrenamt- 
lichen, die für unsere Gesellschaft eine wichtige Arbeit 
leisten, durch immer neue Auflagen, durch immer neue 
Prüfungen und durch immer neue Bürokratie die Erfül- 
lung ihrer Aufgaben zu erschweren. 

Ich empfehle, sehr genau hinzuschauen sowie für To- 
leranz, Fairness und Respekt zu werben. Wir müssen die 
integrierende Bedeutung des Sports für unsere Gesell- 
schaft betonen und die Initiative, auf die der Herr Staats- 
sekretär schon hingewiesen hat, unterstützen. Wo es Pro- 
bleme gibt, müssen wir sie gezielt in Zusammenarbeit 
mit den Landessportbünden und den Fachverbänden an- 
gehen. 

Sie haben es vielleicht mitbekommen, dass während 
eines Auswärtsspiels von Tennis Borussia, einem Berli- 
ner Fußballverein mit jüdischen Wurzeln, das am vor- 
letzten Wochenende stattfand, Leute auf den Platz gelau- 
fen sind, rechtsradikale Parolen geschrien und Gewalt 
ausgeübt haben. Diese waren übrigens nicht Mitglieder 
des gastgebenden Vereins. Deswegen dürfen wir nicht 
den Eindruck erwecken - ich nenne deshalb den Namen 
des betroffenen Vereins nicht dass der Verein, der 
Gastgeber dieser Veranstaltung war, für irgendetwas, 
was auf dem Sportplatz passiert ist, verantwortlich ist. 

Der Sport und die Sportvereine werden missbraucht; 
ihnen wird Schaden zugefügt. Wir müssen gemeinsam 
schauen, wie wir den Vereinen helfen können. Es handelt 
sich um ein bedauerliches gesellschaftliches Phänomen. 
Wenn die Berichte des Bundesinnenministeriums zutref- 
fen, können wir feststellen, dass der Rechtsradikalismus 
in Deutschland insgesamt deutlich abgenommen hat. 
Das ist gut so. Aber in den Vereinen müssen wir die Ju- 
gendlichen vor diesen Gefahren schützen. Deshalb un- 
terstützen wir die Bundesregierung und die Verbände bei 
ihrer Arbeit. 

Wir halten es für angezeigt, dass wir über dieses 
Thema nicht streitig diskutieren. Wir müssen vielmehr 
deutlich machen, dass wir gemeinsam alles dafür tun, 
dass sich unsere Vereine gegen diese Menschen, die 
keine Toleranz, keine Fairness und keinen Sportsgeist 
zeigen, aktiv wehren können. Ich habe den Eindruck, 
dass wir da auf einem besseren Wege sind als in den letz- 
ten Jahren. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat 
das Wort der Kollege Sönke Rix von der SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 


Denn, meine Damen und Herren, darum geht es im 
Wesentlichen. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, 
der deutsche Sport, gar der deutsche Vereinssport oder 
wesentliche Teile der Ehrenamtlichen, die im deutschen 
Vereinssport tätig sind, seien rechtsradikal oder hätten 
verdeckt rechtsradikale Empfindungen. 

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 

Das sagt ja niemand!) 

- Ich will das nur klarstellen, Frau Kollegin. Ich habe da 
überhaupt keinen Dissens gehört. Aber viele Hundert- 
tausend Menschen hören heute zu oder erfahren das, was 
wir hier besprechen, auf anderem Wege. Insofern will 
ich deutlich machen: In den Vereinen sind zu 99,9 Pro- 
zent Menschen tätig, die für Toleranz, für Menschen- 
rechte, für Respekt, für Fairness und für all das werben, 
was uns auch hier verbindet. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Sönke Rix (SPD): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Erst einmal möchte ich feststellen, dass es heute nicht 
darum geht, dass Fußballfans - teilweise handelt es sich 
um Hooligans - bei Bundesligaspielen Spieler mit Mi- 
grationshintergrund beleidigen, wie wir es öfter im Fern- 
sehen beobachten können. Es geht vielmehr darum, wie 
gerade bei den kleinen Vereinen vor Ort mit dem Thema 
Menschenverachtung, Rassismus und Rechtsextremis- 
mus umgegangen wird. Dass das im Sport genauso wie 
in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen ein wichti- 
ges Thema ist, muss uns allen bewusst sein. 

Herr Bergner und Herr Steffel, Sie haben auf die gu- 
ten Ansätze, die mit den Projekten verbunden sind, hin- 
gewiesen. Sie haben das Programm „Zusammenhalt 
durch Teilhabe“ und die Fanprojekte gelobt. Sie spre- 
chen von einer guten Arbeit vor Ort. Dem schließen wir 
uns an und danken den Ehrenamtlichen herzlich für ihre 
Arbeit. 

(Beifall bei der SPD und der LINKEN) 

Ich sage auch einen herzlichen Dank dafür, dass wir 
diese Arbeit hier gemeinsam unterstützen. Wir sind uns 
darin einig, dass es sich um eine Aufgabe handelt, der 
wir uns ständig stellen müssen. Aber weil wir uns dieser 
Aufgabe ständig stellen müssen, ist unser Antrag ein 
Beitrag dazu, neue Impulse zu setzen. Diese vermisse 
ich aber auf der Seite der schwarz-gelben Koalition. Hier 
hätten Sie doch sagen können: Wunderbar, die Sozialde- 
mokraten haben einen Antrag eingebracht. In der Bewer- 
tung der Lage sind wir uns einig und auch darüber, dass 
wir gute Projekte haben. Wie aber machen wir gemein- 
sam weiter? - Das fehlt auf der schwarz-gelben Seite. 
Hierzu hätte ich heute etwas mehr von Ihnen erwartet. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Die Frage, wie wir für Menschlichkeit und Toleranz 
werben können, ist nicht nur im Sport wichtig, sondern 
insbesondere auch in der Jugendpolitik. Das ist ein sehr 
wichtiges Thema. Ich vermisse in der Debatte über diese 
Frage aber noch ein Zweites, nämlich die Gesamtstrate- 
gie der Bundesregierung dazu. In den einzelnen Häusern 
gibt es viele unterschiedliche und gute Ansätze, was 
meistens in den Haushaltstiteln zum Ausdruck kommt. 
Wie aber die Gesamtstrategie der Bundesregierung für 
diesen Bereich aussieht, ist auch heute wieder nicht 
deutlich geworden. Ich bitte Sie, hier noch einmal nach- 
zuarbeiten. Dann freuen wir uns auf die weitere Diskus- 
sion. 

(Beifall bei der SPD) 

Schließlich ist heute noch einmal deutlich geworden, 
dass den Projekten die Nachhaltigkeit fehlt. 

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Ganz genau!) 

Nicht umsonst wollen wir die neuen Impulse starten und 
erneut über das Thema reden; denn es passiert immer 
wieder, dass gute Projekte auslaufen und leider nicht 
weitergeführt werden. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen 


Sie unserem Antrag zu. Machen Sie mit. Arbeiten Sie (C) 
diese Punkte gemeinsam mit uns ab, wenn sie doch so 
schlecht gar nicht sind. Dann können wir ein gemeinsa- 
mes Zeichen gegen Rechtsextremismus im Sport setzen. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus- 
schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem 
Titel „Rechtsextremistische Einstellungen im Sport kon- 
sequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhal- 
tig fordern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- 
schlussempfehlung auf Drucksache 17/7597, den Antrag 
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5045 abzuleh- 
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- 
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- 
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen — 

(Unruhe) 

- Wollen Sie Ihr Abstimmungsvotum ändern? - Ich wie- 
derhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Be- 
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- 
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den 
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen 
der Oppositionsfraktionen angenommen. 

(D) 

Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- 
nung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des 
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- 
schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur 
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und 
diese jetzt als Zusatzpunkt 15 aufzurufen. Sind Sie damit 
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so be- 
schlossen. 

Somit rufe ich den Zusatzpunkt 1 5 auf: 

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- 
schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- 
schäftsordnung (1. Ausschuss) 

Antrag auf Genehmigung zur Durchführung 
eines Strafverfahrens 

- Drucksache 17/7682 - 

Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss 
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung 
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 
sache 17/7682, die Genehmigung zur Durchführung eines 
Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be- 
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - 
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf: 

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- 
schuss) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 

- zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, 
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- 
deswehr und der ehemaligen NVA 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer 
Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Dr. h. c. 
Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der 
Fraktion der SPD 

Ausgleich für Radargeschädigte der Bun- 
deswehr und der ehemaligen NVA voran- 
bringen 

- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes 
Malczak, Katja Keul, Tom Koenigs, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Umfassende Entschädigung für Radar- 
strahlenopfer der Bundeswehr und der 
ehemaligen NVA 

-Drucksachen 17/7354, 17/5365, 17/5373, 17/7553 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Karin Strenz 
Ullrich Meßmer 
Burkhardt Müller-Sönksen 
Inge Höger 
Agnes Malczak 

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- 
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge 
Höger, Paul Schäfer (Köln), Kathrin Vogler, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

Umfassende Entschädigung für Radarstrah- 
lenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen 
NVA und ziviler Einrichtungen 

-Drucksachen 17/5233, 17/6556 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Karin Strenz 
Ullrich Meßmer 
Burkhardt Müller-Sönksen 
Paul Schäfer (Köln) 

Agnes Malczak 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- 
derspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- 
schlossen. 

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem 
Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Christian 
Schmidt das Wort. 

Christian Schmidt, Pari. Staatssekretär beim Bun- 
desminister der Verteidigung: 

Herr Präsident! Mein Kolleginnen und Kollegen! Die 
heutige Debatte des gemeinsamen Antrags der Fraktio- 
nen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die 
Grünen ist eine wichtige Debatte. Die Bundesregierung 
begrüßt ausdrücklich das Ergebnis der vorangegangenen 


Beratungen in den Fachausschüssen des Deutschen Bun- (C) 
destages unter Federführung des Verteidigungsausschus- 
ses, mit der sie aufgefordert wird, zu prüfen, ob zur 
umfassenden Wahrung der Fürsorgepflicht für alle Bun- 
deswehrangehörigen - aber auch für die ehemaligen An- 
gehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR - eine 
Stiftung oder ein Fonds eingerichtet werden kann, um in 
besonderen Härtefällen auch außerhalb des geltenden 
Rechts finanzielle Unterstützung leisten zu können. 

Nach Auffassung der Bundesregierung sollten mit 
dem beabsichtigten Ausgleich auch Härtefälle erfasst 
werden, die außerhalb der Radarproblematik in Aus- 
übung des Dienstes in der Bundeswehr entstanden sind 
und vermutlich bedauerlicherweise entstehen werden. 

Ich denke hier vor allem an Schädigungen, die im Rah- 
men der Auslandseinsätze der Bundeswehr entstanden 
sind, hier vor allem an diejenigen, die unter psychischen 
Erkrankungen wie zum Beispiel einer Posttraumatischen 
Belastungsstörung leiden. Ich darf bei dieser Gelegen- 
heit stellvertretend für alle Mitglieder des Hauses der si- 
cherheitspolitischen Sprecherin der FDP-Fraktion, Frau 
Hoff, danken, die sich beim Thema PTBS sehr intensiv 
eingebracht hat. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Um eine solche Unterstützung bei individuellen Här- 
tefällen zu ermöglichen, ist die Errichtung einer Stiftung 
geplant. Das Soldatenhilfswerk der Bundeswehr, eine 
bekannte guttätige Einrichtung, hat sich in Vorgesprä- 
chen grundsätzlich bereit erklärt, bei Vorliegen der Vo- 
raussetzungen eine solche Stiftung unter seinem Dach 
und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesministe- (D) 
rium der Verteidigung zu errichten. Hierfür spreche ich 
dem Soldatenhilfswerk an dieser Stelle meinen aus- 
drücklichen Dank aus. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der 

SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE 

GRÜNEN) 

Eine solche Tätigkeit ist nicht ganz einfach, weil erheb- 
liche finanzielle Volumina bewegt und Entscheidungen 
im Einzelfall getroffen werden müssen, die von erheb- 
licher Tragweite für die Betroffenen sind. 

Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages 
hat in seiner Sitzung vom 27. Oktober dieses Jahres 
empfohlen, im Haushalt des Jahres 2012, in unserem 
Einzelplan 14, eine Summe von 7 Millionen Euro für 
eine mögliche Stiftungslösung vorzusehen. Ich komme 
gerade von der Bereinigungssitzung des Haushaltsaus- 
schusses und durfte die frohe Nachricht mitnehmen, dass 
zwischenzeitlich die letzten Hürden genommen worden 
sind. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Kollegin Hoff, es ist ein Zufall, dass diese Bereinigungs- 
sitzung vor unserer Debatte stattgefunden hat und ich 
dem Hauptberichterstatter Ihrer Fraktion, Herrn 
Koppelin, sowie den Kolleginnen und Kollegen der 
Fraktionen der Koalition, aber auch der Opposition für 
die Unterstützung danken darf. Ich möchte sowieso sa- 
gen: Bei diesem Thema, das sich seit 12 oder 13 Jahren 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Pari. Staatssekretär Christian Schmidt 

in der politischen Diskussion befindet, stehen wir alle in 
einer Verantwortung, sei es eine parlamentarische Ver- 
antwortung oder eine Regierungsverantwortung; wir ha- 
ben mit erheblichem Engagement und Maß versucht, uns 
den entsprechenden Fragen zu stellen. 

Die Diskussionen sind nun zu einem gewissen Ab- 
schluss gekommen; das ist erfreulich. Wir werden nicht 
nur die Empfehlungen der Radarkommission eins zu 
eins umsetzen; es kommt ein weiteres Instrument hinzu, 
das mit Blick auf die Fürsorge angewendet werden kann. 
Die entsprechenden Gelder müssen sicherlich mit Au- 
genmaß und verantwortungsbewusst verteilt werden; sie 
müssen ihre Wirkung entfalten können. Wir werden über 
eine reine Stiftungslösung hinausgehende Vorschläge 
zur Verbesserung der Situation von Radargeschädigten 
sorgfältig prüfen. Ohne das Ergebnis vorwegnehmen zu 
wollen, möchte ich zu der Aufforderung, eine finanzielle 
Beteiligung der Gerätehersteller an solch einer Stiftung 
zu erreichen, jedoch sagen, dass dies zwar angestrebt 
und gefordert wird, wir uns aber, wie ich meine, nicht 
von unserem Weg abbringen lassen dürfen, indem wir 
Bedingungen aufstellen, die ein baldiges Wirken der 
Stiftung verhindern würden. 

Hinsichtlich der Empfehlungen aus dem Bericht der 
Radarkommission kann ich versichern, dass wir diese 
eins zu eins umsetzen. Wir haben eine erhebliche Zahl 
von Fällen, die bereits verbeschieden sind. Darüber hi- 
naus kann ich versichern, dass wir Entscheidungsspiel- 
räume, beispielsweise bei Doppelkausalitäten, im Sinne 
der Betroffenen nutzen, ohne im Einzelfall nachzuprü- 
fen, ob wirklich eine Kausalität besteht. Das ist eine 
Frage, die sich über das soziale Entschädigungsrecht hi- 
naus entwickelt. Das müssen wir wissen. 

Genauso gehört dazu, dass sich der jetzige Sachver- 
ständigenbeirat „Versorgungsmedizin“ beim Bundes- 
ministerium für Arbeit und Soziales fortentwickelt und 
dort neue Prüfungen von über das evidenzbasierte Wis- 
sen hinausgehenden Vorgaben erforderlich sind, um bei- 
spielsweise bei der CLL, der chronischen lymphatischen 
Leukämie, oder bei benignen Tumoren zu möglicher- 
weise neuen Bewertungen zu kommen. Diese werden 
dann selbstverständlich einfließen. 

Ich hoffe, dass wir aus dem Bereich Radar nicht wei- 
tere neue Fälle von Soldatinnen und Soldaten dazube- 
kommen, die Schäden davongetragen haben. Ich meine, 
dass das Instrument einer Stiftung für die Fürsorge, die 
wir unseren Soldatinnen und Soldaten angedeihen lassen 
müssen, eine ganz wichtige Errungenschaft ist. 

Dafür möchte ich mich noch einmal bei allen Bericht- 
erstatterinnen und Berichterstattern sowie beim Haus für 
die Unterstützung und die Aufforderungen bedanken. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 


Ullrich Meßmer (SPD): (C) 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben 
innerhalb kürzester Zeit jetzt zum zweiten Mal Gelegen- 
heit, eine parlamentarische Initiative auf den Weg zu 
bringen, die den Menschen nützt. 

Nach dem Einsatzversorgungs- Verbesserungsgesetz 
bringen wir jetzt eine Initiative auf den Weg, die weite- 
ren Menschen, die vielleicht nicht im Auslandseinsatz 
waren - Herr Staatssekretär, das reicht zum Teil weiter 
zurück -, helfen soll, ihre Ansprüche zu befriedigen. 

Seit über elf Jahren beschäftigen sich die Fraktionen 
dieses Hauses mit einem Ausgleich für radargeschädigte 
Soldatinnen und Soldaten der ehemaligen NVA und der 
Bundeswehr. 2003 veröffentlichte die Radarkommission 
ihren Bericht, entwickelte dazu Kriterien und Vorschläge 
und zeigte Wege auf. 

Problematisch gestaltete sich, wie mir als Parlaments- 
neuling berichtet worden ist, allerdings nicht die Frage 
des Willens, sondern, wie es so oft der Fall ist, der Um- 
setzung. Besonders gut wissen das unsere Kolleginnen 
und Kollegen aus dem Petitionsausschuss. Immer wieder 
schreiben ehemalige Soldatinnen und Soldaten, wie 
schwierig und vor allem wie langwierig es ist, eine 
Wehrdienstbeschädigung nachzuweisen oder anerken- 
nen zu lassen. 

Deshalb gibt es eine Erwartungshaltung der Geschä- 
digten an uns - ich finde: zu Recht. Sie verweist auf un- 
sere Fürsorgepflicht. Ich zitiere aus unserem vorliegen- 
den fraktionsübergreifenden Antrag: 

Der politische Wille, den auf Grund ihrer Strahlen- (D) 
exposition Erkrankten möglichst zügig und unbüro- 
kratisch zu helfen, ist fraktionsiibergreifend vorhan- 
den. 

Ich sage deutlich: Jeder fraktionsiibergreifende An- 
trag, meine Damen und Herren, ist ein Kompromiss, 
aber auch ein fraktionsiibergreifender Konsens. Ich 
glaube, dass er auch ein Stück weit in die Zukunft ge- 
richtet ist. Angesichts der schon angesprochenen Zeit- 
knappheit war dies ein notwendiger Weg. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Vor uns liegen klare Verbesserungen der jetzigen Si- 
tuation: 

Erstens. Die Möglichkeit, dass bereits abgelehnte 
Fälle als Härtefälle positiv im Sinne der Antragsteller 
beschieden werden können. 

Zweitens. Eine mögliche Beteiligung der Geräteher- 
steller an einem Ausgleich. 

Drittens. Eine klare Aufforderung auch an die Ver- 
waltung, die Umsetzungspraxis weiter im Interesse der 
Betroffenen zu verbessern. 

Viertens. Die Absicht, auch weiterhin neue wissen- 
schaftliche Erkenntnisse in der Anerkennungspraxis zu 
berücksichtigen. 

Fünftens. Die Aufforderung, ein Expertengremium 
für Zweifelsfälle einzurichten, das auch vermitteln kann. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Ullrich Meßmer 

(A) Sechstens. Eine jährliche Berichtspflicht der Bundes- 
regierung zur Kontrolle der Fortschritte. 

Was bedeutet das konkret? Erstens. Bereits abge- 
lehnte Anträge - ich hatte bereits darauf hingewiesen - 
erhalten erneut eine Chance. Hier fordert der Antrag ein- 
deutig, dass im Zweifelsfall großzügig verfahren werden 
soll - ich zitiere 

um in besonderen Härtefällen, die auf Grund der 
Ausübung der dienstlichen Pflichten entstanden 
sein könnten, eine gewisse Unterstützung - auch 
außerhalb des geltenden Versorgungsrechts - er- 
möglichen zu können. 

Sie haben auf die Problematik hingewiesen. 

Zweitens ermöglicht der Antrag ungeachtet rechtli- 
cher Verpflichtungen eine Beteiligung der Geräteherstel- 
ler an einer solchen Stiftung oder einem Fonds, der dann 
notwendig wäre. Ich weiß auch - ich will das so deutlich 
sagen -, dass das sicherlich einer der schwierigsten Teile 
ist. Niemand wird sich jubelnd darauf stürzen. Aber ich 
denke, es ist es durchaus wert und Aufgabe der Bundes- 
regierung, ein Stück weit auf die Gerätehersteller einzu- 
wirken, dass auch sie als Produzenten eine Verantwor- 
tung für die durch Strahlung geschädigten Opfer haben. 

Drittens. Besonders wichtig ist es mir, festzuhalten, 
dass der Wille, den Opfern zu helfen, im Vordergrund 
steht, und zwar möglichst unbürokratisch und möglichst 
zügig. Ich gebe zu, das wir uns als SPD bei diesen For- 
mulierungen ein bisschen mehr Biss gewünscht hätten. 

(B) Aber wir sind uns einig, es gilt die Feststellung: Es man- 
gelt in diesem Haus nicht am politischen Willen. Die 
Umsetzung ist vielleicht - hier hilft der Antrag - noch 
verbesserungsfähig. 

Viertens. Es ist wichtig, neuere wissenschaftliche Er- 
kenntnisse in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. 
Das ist im Interesse der Betroffenen; denn manche 
Krankheitsbilder werden möglicherweise erst in den 
nächsten Jahren so weit untersucht sein, dass man ioni- 
sierende Strahlung als Auslöser ansehen oder sicher aus- 
schließen kann. Deshalb müssen auch weitere Untersu- 
chungen erfolgen. Radioaktive Leuchtfarbe wird im 
Antrag explizit genannt. Es geht um Klarheit für ehema- 
lige Bordmechaniker und Wartungspersonal, die Leucht- 
farben ohne Schutzvorrichtungen erneuert haben. 

Fünftens. Bei strittigen Fällen sollen unabhängige Ex- 
perten zurate gezogen werden. Dadurch können Verfah- 
rensdauern verkürzt werden; denn die Zeit wird knapp. 

All diese Vorschläge wurden fraktionsübergreifend 
- ich will das so deutlich sagen - erarbeitet. Das war 
eine positive Erfahrung für mich, deshalb möchte ich 
mich bei allen Beteiligten der Fraktionen für die sehr 
kollegiale und zielorientierte Zusammenarbeit herzlich 
bedanken. Mein Dank geht auch in Richtung der Interes- 
senverbände der Opfer und des Deutschen Bundeswehr- 
Verbandes. Ihrem unablässigen Wirken - das muss man 
so ehrlich sagen - ist es zu verdanken, dass das Thema 
Radarschädigung nicht vergessen, sondern auf der politi- 
schen Tagesordnung gehalten wurde. 


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP 
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Ich weiß, dass in dem Antrag nicht alle Wünsche bis 
zum Letzten erfüllt worden sind, zum Beispiel in der 
Frage der Beweislastumkehr bzw. der Erleichterung von 
Anerkennung weiterer Krankheitsbilder oder der Aus- 
weitung der Gruppe der Betroffenen. Ich will hinzufü- 
gen: Es ist nicht alles eins zu eins umsetzbar. Man muss 
sich fragen: Entscheide ich mich für den schönsten An- 
trag im Interesse der Verbände, der aber keine Mehrheit 
im Parlament findet, oder entscheide ich mich für einen 
Antrag im Sinne der Opfer, der die Mehrheit im Parla- 
ment findet? Ich denke, wir haben uns richtig entschie- 
den. 

Ich weiß, dass viele Dinge problematisch sind. Man 
könnte in Abwandlung des deutschen Sprichwortes von 
Spatz und Taube die irische Variante nehmen, die da lau- 
tet: Ein Vögel in der Hand ist ungefähr so viel wert wie 
zwei Vögel im Busch. Dieser Antrag ebnet den Weg zu 
etwas besseren Lösungen. Die derzeitige Entschädi- 
gungspraxis wird verbessert. 

(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Ich kenne 
nur den mit dem Spatz!) 

- Ja, das war nur die Abwandlung des Sprichwortes von 
Spatz und Taube. Die Iren haben da eine etwas andere 
Formulierung, vielleicht eher landschaftlich verhaftet. 

Herr Staatssekretär, Sie kommen gerade aus der ab- 
schließenden Konsolidierungssitzung. Ich denke, man 
muss über die 7 Millionen Euro, je nachdem, wie die 
Entschädigungspraxis ausfällt, nachdenken; denn gute 
Absichten können bei unzureichender finanzieller Unter- 
fütterung - das ist mir sehr wichtig - sehr schnell in das 
Gegenteil Umschlagen, weil alle sagen: Ihr habt etwas 
Schönes gemacht, aber ihr gebt kein Geld dazu, damit 
das umgesetzt werden kann. Mein Appell geht an die 
Haushälter aller Fraktionen: Es ist noch einmal zu über- 
legen, ob man nicht gerade in der Anfangsphase, in der 
der Druck sehr groß ist, doch noch Verbesserungen errei- 
chen kann. Ich glaube, dass hier einiges möglich ist. 

Wir sind uns darüber einig, dass wir zügig und unbü- 
rokratisch helfen wollen. Die Praxis wird zeigen, ob es 
tatsächlich gelingt, hier etwas auf den Weg zu bringen. 
Wenn aus der Absicht Realität wird, waren wir mit unse- 
rem Antrag sehr erfolgreich. In diesem Sinne betone ich: 
In den weiteren Beratungen bis zur Abstimmung geht es 
darum, das Ganze umzusetzen. An die Arbeit, die Zeit 
drängt! 

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- 
SES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhardt Müller- 
Sönksen von der FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): 

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- 
ren! Lieber Kollege Meßmer, im Anschluss an Ihre Rede 
möchte ich zwei Dinge ansprechen. 

Erstens. Sie haben von der Beweislastumkehr gespro- 
chen. Dieser Antrag stellt in gewisser Weise juristisch 
eine Beweislastumkehr dar. Ja, wir wollen den Betroffe- 
nen helfen. Das ist richtig und gut so. Bisher mussten die 
Soldaten beweisen, dass sie eine Schädigung davonge- 
tragen haben. Das haben wir mit diesem Antrag besei- 
tigt. Insofern ist das ausgeräumt. 

Ich möchte gleich mit einem zweiten Punkt aufräu- 
men: Für mich sind die 7 Millionen Euro, die wir ange- 
setzt haben, das Ergebnis einer realistischen Abschät- 
zung dessen, was wir finanziell zu wuppen haben. Das 
ist seriös gerechnet. Diese Summe ist im Haushaltsent- 
wurf bereits enthalten; das ist wichtig und zu betonen. 
Ich möchte aber auch klar sagen, dass eine Evaluierung 
stattfinden wird. Es gibt keinen Deckel. Wir müssen se- 
riös arbeiten und schauen, ob das reicht. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Wir als Parlament haben Wort gehalten. Mit dem 
heute vorliegenden Antrag haben wir die Grundlage für 
einen fairen und unbürokratischen Ausgleich für die Ra- 
dargeschädigten gefunden. Darüber werden wir gleich 
abstimmen. Mich freut besonders, dass wir keinen Un- 
terschied machen, ob die Soldatinnen und Soldaten bei 
der Bundeswehr oder bei der NVA gewesen sind. 

Der heute vorliegende Antrag geht auf die gemein- 
same Initiative einer breiten Mehrheit der Fraktionen 
hier im Haus zurück. Daher gilt mein besonderer Dank 
meinen Berichterstatterkolleginnen, Karin Strenz und 
Agnes Malczak, sowie meinem Berichterstatterkollegen, 
Herrn Meßmer. Wir haben im Interesse der Sache und im 
Interesse der Soldatinnen und Soldaten sehr gut zusam- 
mengearbeitet. 

(Beifall der Abg. Michael Groschek [SPD] 
und Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ 
CSU] - Inge Höger [DIE LINKE]: Aber die 
Initiative war von den Linken!) 

Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, ei- 
nen solchen Konsens im Sinne der Sache zu finden. 
Mein Dank gilt auch dem Parlamentarischen Staatsse- 
kretär Christian Schmidt, der das Anliegen des Parla- 
ments von Anfang an positiv begleitet hat. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der 
CDU/CSU) 

Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kolle- 
gen im Haushaltsausschuss. Sie haben trotz der großen 
Herausforderung Bundeswehrreform eine Möglichkeit 
gefunden, im Verteidigungshaushalt eine angemessene 
Entschädigung für die Radaropfer einzustellen. Ganz be- 
sonders möchte ich mich bei den Opferverbänden bedan- 
ken. Sie haben uns Parlamentariern in vielen Gesprä- 
chen, in vielen Stunden immer wieder die Lücken im 
bisherigen Entschädigungsverfahren aufgezeigt. Ihr jah- 
relanges Engagement ist ein Grund dafür, dass wir heute 


den ersten Schritt in die richtige Richtung, in Richtung (C) 
einer umfassenden Entschädigung gehen werden. 

Wir als FDP-Fraktion setzen uns seit mehr als zehn 
Jahren für einen fairen Ausgleich für die Radargeschä- 
digten ein. Viele Jahre lang - der Kollege sagte das eben 
schon - scheiterte die Umsetzung, scheiterte eine Lö- 
sung immer wieder an Teilen der jeweils wechselnden 
Koalitionsfraktionen. Deswegen freut es mich ganz be- 
sonders, dass jetzt mit der liberalen Regierungsbeteili- 
gung und zugleich auf Basis eines solch breiten Konsen- 
ses hier im Parlament der Ausgleich für die Radarge- 
schädigten auf den Weg gebracht wird. 

Das ist ganz besonders wichtig: Es bleibt nicht bei ei- 
ner folgenlosen Absichtserklärung, wie sie beispiels- 
weise im Zusammenhang mit dem Radarbericht 2003 
- das war gut gemeint - in diesem Parlament besprochen 
worden ist. Wir haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die 
notwendigen Mittel für die finanzielle Entschädigung im 
Verteidigungsetat bereitgestellt werden. Der Staat über- 
nimmt hier endlich konkret Verantwortung für die gesund- 
heitlichen Folgeschäden der Soldaten, die für Deutsch- 
land ihren Dienst geleistet haben. Der breite Konsens, 
von dem der Antrag getragen wird, zeigt, dass die Für- 
sorge für unsere Soldatinnen und Soldaten ein Anliegen 
aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist. Wie 
schon beim Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz 
senden wir ein gemeinsames Signal für unsere Soldaten. 

Die Veteranen - darauf möchte ich zum Abschluss 
gern zu sprechen kommen - sind viel zu lange sowohl 
von der Politik als auch von der Bundeswehr vernachläs- 
sigt worden. Für die Mehrheit der Veteranen steht nicht (D) 
nur die finanzielle Entschädigung im Mittelpunkt, sie 
wünschen sich vielmehr Anerkennung für ihre Leistun- 
gen und für ihren Einsatz. Sie verdienen endlich mehr 
öffentliche Aufmerksamkeit und eine faire und unbüro- 
kratische Behandlung ihrer Anliegen. Überall dort, wo 
sich noch Lücken auftun - ich verweise gern auf die 
Ausführungen des Kollegen Meßmer -, müssen wir 
sorgfältig schauen, ob wir diese Lücken bereits durch 
unseren Antrag schließen oder noch weiter tätig werden 
müssen. Damit dienen wir nicht nur den aktiven, sondern 
gleichermaßen auch den früheren Soldaten der Bundes- 
wehr und der NVA. Jeder Soldat, der Dienst für unser 
Land geleistet hat, muss sich der Fürsorge des Dienst- 
herrn sicher sein. 

Auch wenn es sich bei den Radargeschädigten nur um 
eine vermeintlich kleine Gruppe handelt, müssen wir im 
Umgang mit ihnen beweisen, dass wir es mit der Fürsor- 
geverpflichtung ernst meinen, die wir als Parlament ge- 
genüber unserer Parlamentsarmee eingegangen sind. 

Nun liegt es an der Bundesregierung, zeitnah einen 
passenden Vorschlag vorzulegen, wie die unbürokrati- 
sche Entschädigung am besten gestaltet werden kann. 

Die Signale, die im Vorfeld von Staatssekretär Schmidt 
zu vernehmen waren, waren ausgesprochen positiv. 
Schon bald - darauf freue ich mich - werden wir im Ver- 
teidigungsausschuss und im Plenum darüber sprechen 
können, wie das konkrete Modell einer Stiftung oder ei- 
nes Fonds ausgestaltet wird. Dann können in der ersten 
Hälfte des kommenden Jahres die ersten Entschädigun- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16573 


Burkhardt Müller-Sönksen 

(A) gen geleistet werden. Damit, dass wir hier heute begin- 
nen, setzen wir ein Zeichen. Ich bitte daher alle um ihre 
Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. Ich 
glaube, dass diese breite Mehrheit hier eine klare Aus- 
sage in Richtung der Radargeschädigten ist: Wir haben 
euch nicht vergessen, und wir setzen uns weiterhin für 
euch ein. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege 
Harald Koch. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Harald Koch (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- 
gen! Seit Jahrzehnten führen viele ehemalige Bundes- 
wehr- und NVA-Angehörige einen engagierten, aber er- 
folglosen Kampf um Anerkennung und Entschädigung 
für ihre unwissentlich durch die Arbeit an ungeschützten 
Radargeräten erworbenen Krankheiten. Um diesen Men- 
schen endlich zu ihrem Recht zu verhelfen, gibt es seit 
mehr als einem Jahr interfraktionelle Gespräche, die 
maßgeblich von der Linken initiiert wurden. 

(Zurufe von der CDU/CSU: Was? - Burkhardt 
(ß) Müller-Sönksen [FDP]: Wegen der NVA!) 

Dabei wurde von allen Fraktionen immer wieder der 
Wille bekundet, den Betroffenen möglichst zeitnah und 
umfassend Hilfe zuteil werden zu lassen. Dass dies of- 
fenbar nur leere Floskeln waren, zeigt sich nun in dem 
Antrag, den Sie heute zwar interfraktionell, aber ohne 
die Linke vorlegen. 

Ich möchte hier Folgendes betonen - das erwarten Sie 
wahrscheinlich gar nicht -: Ich bedanke mich ausdrück- 
lich bei den Berichterstatterkolleginnen und -kollegen 
für die Zusammenarbeit. Es war eine sehr sachliche Zu- 
sammenarbeit, aber leider wurden wir als Linke dann 
aus diesem Antrag ausgeschlossen. Ich bedauere das 
sehr. Ich hoffe, dass das in Zukunft anders wird. 

Sie fordern in Ihrem Antrag, die Bundesregierung 
solle prüfen, ob eine gewisse Unterstützung durch eine 
Stiftung oder einen Fonds denkbar ist. Das ist zu wenig; 
das ist zu unverbindlich. Sie prüfen seit zehn Jahren. In 
den letzten zehn Jahren ist bei dieser Prüfung nichts 
Sinnvolles für die Betroffenen herausgekommen. Das 
sage ich aus der Sicht der Betroffenen. Wie wir das se- 
hen, sei dahingestellt. Soll es jetzt noch weitere zehn 
Jahre so gehen? Dafür haben die Betroffenen keine Zeit 
mehr. Aufgrund ihres oft schon hohen Lebensalters ster- 
ben sie, bevor die Bundesregierung zu Ende geprüft hat. 
Das kann ja wohl nicht Ihre Lösungsstrategie sein. Das 
Spiel auf Zeit zulasten der Betroffenen ist zynisch und 
muss endlich ein Ende haben. 


Des Weiteren sind wir sehr verwundert, dass Sie sich (C) 
jetzt auf die Stiftungslösung versteift haben, obwohl uns 
die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes- 
tages - sie sind hoch geschätzt - in der Antwort auf eine 
interfraktionelle Anfrage genau davon abgeraten haben. 

Das deutsche Stiftungsrecht ist sehr kompliziert, und die 
eigentlich angestrebte unbürokratische und schnelle 
Hilfe kann damit kaum gewährleistet werden. Die Linke 
wird daher sehr genau prüfen und beobachten, ob diese 
Stiftung wirklich Abhilfe schafft. Aber nicht nur wir sind 
verwundert und enttäuscht. Auch die Betroffenenver- 
bände fühlen sich wieder einmal von der Politik allein 
gelassen. Sie - damit meine ich alle vier Fraktionen, die 
diesen Antrag eingebracht haben - hätten die Chance ge- 
habt, eine klare politische Botschaft im Sinne der Betrof- 
fenen an die Regierung zu senden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Stattdessen fehlt Ihnen wieder einmal der Mut, und Sie 
bringen einen Antrag ein, der vom Bundesministerium 
der Verteidigung geschrieben wurde. So ist Parlamenta- 
rismus aus meiner Sicht nicht zu verstehen. 

Noch einen Satz an die SPD und die Grünen. Warum 
lassen Sie sich an dieser Stelle eigentlich vor den Karren 
der Regierung spannen? Vor ein paar Monaten standen 
wir kurz davor, einen gemeinsamen und viel weiter ge- 
henden Antrag einzubringen, der von Ihnen maßgeblich 
mitgeschrieben wurde. Warum jetzt dieser Rückzieher? 
Zufrieden sein können Sie mit dem jetzigen Ergebnis je- 
denfalls nicht. Dass Sie es nicht sind, zeigen Sie, indem 
Sie neben dem Regierungsantrag eigene - zum Teil mit 
uns gemeinsam erarbeitete - Anträge vorlegen. (D) 

Die Linke jedenfalls bleibt dabei: Der vorliegende in- 
terfraktionelle Antrag besagt nicht viel mehr als „Weiter 
so wie bisher“. Da machen wir nicht mit. Wir fordern ein 
Radarstrahlenopfergesetz, welches die Anerkennungs- 
und Entschädigungsverfahren schnell und unbürokra- 
tisch im Sinne der Geschädigten voranbringt, 

(Beifall bei der LINKEN) 

Geschädigte der ehemaligen NVA und der Bundeswehr 
gleich behandelt und auch zivile Radargeschädigte be- 
rücksichtigt. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Jetzt hat die Kollegin Agnes Malczak von Bündnis 90/ 

Die Grünen das Wort. 

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut 
und richtig, dass dieser interfraktionelle Antrag heute 
vorliegt. Sicherlich kann er nur ein Kompromiss sein. 
Deshalb, Herr Kollege Koch, haben wir unsere ur- 
sprünglichen Anträge für erledigt erklärt, um das an die- 
ser Stelle klarzustellen. 

Wir konnten uns in unserem interfraktionellen Antrag 
auf wichtige gemeinsame Forderungen an die Bundesre- 


(Beifall bei der LINKEN) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Agnes Malczak 

(A) gierung einigen. Dazu gehört vor allem der Prüfauftrag 
zur Einrichtung einer Stiftung zur Unterstützung der ra- 
dargeschädigten ehemaligen Soldaten und eines unab- 
hängigen Expertengremiums für Streitfälle. 

Einig sind wir uns aber nicht in der Bewertung der 
bisherigen Entschädigungspraxis. Wir haben eine beson- 
dere Verantwortung für die Parlamentsarmee. Diese be- 
steht auch in der Verpflichtung zur Fürsorge für die Sol- 
datinnen und Soldaten. Das gilt nicht nur für die 
Gegenwart und die Zukunft, sondern auch für die Ver- 
gangenheit. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Die durch Radarstrahlen geschädigten Soldaten haben 
diese Fürsorge bisher nur unzureichend erfahren. Dies 
gilt auch für die ehemaligen Soldaten der NVA. Hier 
müssen wir dringend Abhilfe schaffen. Es war schon ei- 
nige Überzeugungskraft notwendig, um die Koalitions- 
fraktionen von diesem Handlungsbedarf zu überzeugen. 
Das Verfahren ist an der einen oder anderen Stelle leider 
unnötigerweise ins Stocken geraten. Erst nachdem die 
Oppositionsfraktionen jeweils Anträge eingereicht ha- 
ben, haben sie sich bewegt. Allein in dieser Legislatur- 
periode haben wir nun zwei Jahre gebraucht, um diesen 
Kompromiss zu erzielen. Insgesamt wurde auf diese Art 
und Weise zu viel Zeit vertan, Zeit, in der sich die ehe- 
maligen Soldaten der Bundeswehr und der NVA und ihre 
Angehörigen von Dienstherr und Politik alleine gelassen 
gefühlt haben. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

(B) Es ist zehn Jahre her, dass sich der Verteidigungsaus- 
schuss erstmals intensiv mit dem sogenannten Radarpro- 
blem auseinandergesetzt hat. Ehemalige Soldaten der 
Bundeswehr, aber auch der NVA waren bis in die 8 Oer- 
Jahre hinein unzureichend geschützt an Geräten einge- 
setzt, von denen eine gesundheitsschädliche Strahlung 
ausging. Die tragischen Folgen für die Soldaten zeigten 
sich in der Regel erst wesentlich später. Die Betroffenen 
erkrankten schwer - nicht selten mit tödlichem Ausgang -, 
sie konnten keine Kinder zeugen, oder ihre Kinder kamen 
mit massiven Erbgutschäden zur Welt. 

Da die Ursache ihrer Erkrankung im Dienst bei der 
Bundeswehr lag, sollten sich die Betroffenen eigentlich 
auf die Fürsorge und Unterstützung ihres ehemaligen 
Dienstherrn verlassen können. Es war eine äußerst 
schmerzhafte Erfahrung für die Betroffenen, dass der 
Dienstherr eine Verantwortung zuerst verweigerte. Doch 
sie gaben nicht auf und konnten schließlich erreichen, 
dass sich das Parlament mit ihrer Situation auseinander- 
setzte. Experten untersuchten damals im Auftrag des 
Verteidigungsministeriums die Zusammenhänge und 
empfahlen schließlich eine wohlwollende Entschädi- 
gungspraxis. Das ist acht Jahre her. 

Es ist traurig, dass dieser Antrag nach diesem langen 
Zeitraum heute noch notwendig ist. In dieser Zeit ist es 
eben nicht gelungen, die Entschädigungspraxis so zu ge- 
stalten, dass allen Betroffenen geholfen werden kann. 
Die Folge ist, dass Menschen, die um ihr Leben kämp- 
fen, oder auch die Hinterbliebenen Kraft in einen mühsa- 
men Rechtsstreit stecken müssen. Es ist richtig, dass wir 


hier von schwierigen Fragen des Entschädigungsrechts (C) 
sprechen, doch kann eben nicht die Rede davon sein, 
dass bisher alle erdenklichen Spielräume immer schnell 
und entschlossen ausgeschöpft worden sind. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Das Verteidigungsministerium ist jetzt in der Pflicht, 
den Auftrag, den das Parlament ihm heute hier erteilen 
will, zügig umzusetzen. Insbesondere in die Stiftungslö- 
sung setzen viele Betroffene große Hoffnungen, und die 
dürfen wir nicht enttäuschen. 

In den Debatten und in der heute diskutierten Eini- 
gung haben wir uns auf die ehemaligen Soldaten kon- 
zentriert. Was wir nicht vergessen sollten: Auch die 
zweite Generation, die Kinder der Soldaten, ist durch 
Erbgutschäden von dieser Problematik betroffen. Auch 
für sie ist die Entschädigungsfrage noch nicht beantwor- 
tet. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie bei 
der Umsetzung dieses Antrages auch die Kinder der be- 
troffenen Soldaten nicht außer Acht lässt. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Die Weigerung, ein Problem im Fürsorgebereich an- 
zuerkennen und schnell und entschlossen nach einer Lö- 
sung zu suchen, finde ich im Übrigen ausgesprochen be- 
denklich. Radargeschädigte sind für diese Haltung nur 
ein Beispiel. Auch die an einer posttraumatischen Belas- 
tungsstörung Erkrankten mussten viel zu lange um die 
Anerkennung ihrer Probleme und um Unterstützung 
kämpfen. Ich kann den Minister nur eindringlich dazu (D) 
auffordern, die Neuausrichtung der Bundeswehr auch als 
Chance zu nutzen, hier an einem Einstellungswandel zu 
arbeiten. 

Vielen Dank. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der SPD) 

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt 
hat die Kollegin Karin Strenz von der CDU/CSU-Frak- 
tion das Wort. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Karin Strenz (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Vielen Bürgern mahlen die Mühlen unserer parlamenta- 
rischen Demokratie zu langsam. Seien wir ehrlich: Auch 
wir als Abgeordnete müssen bisweilen erfahren, dass sie 
nicht schneller mahlen, selbst dann nicht, wenn wir noch 
so viel Wind drum machen. Aber unser Mühlen mahlen 
eben. 

Ich freue mich, dass wir uns mit dem Antrag heute 
abermals um jene Männer kümmern, die einst bei NVA 
und Bundeswehr bis in die 80er-Jahre hinein ohne Wis- 
sen gesundheitliche Schäden durch Radarstrahlen erlit- 
ten haben. Wir tun dies nicht zum ersten Mal. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16575 


Karin Strenz 

Es war der Verteidigungsausschuss, der vor allerdings 
fast zehn Jahren eine unabhängige Radarkommission er- 
kämpft hatte, ln ihrem Abschlussbericht kam sie 2003 
zwar zu dem Ergebnis, dass es keinen konkreten Zusam- 
menhang zwischen der Arbeit am Radargerät und späte- 
ren Erkrankungen gebe, gleichwohl war dies kein Vor- 
wand, um finanzielle Hilfen zu verweigern; denn die 
Kommission schlug vereinfachte Kriterien vor, um Ver- 
sorgungsanträge anzuerkennen. 

Nun baut unser Rechtsstaat - übrigens aus gutem 
Grund - manche Hürde zwischen Helfen- Wollen und 
Helfen-Dürfen. Der Rechtsstaat will nämlich genau wis- 
sen, ob jemand Ansprüche hat, ob ihm geholfen werden 
darf oder gar geholfen werden muss. Das ist für den Be- 
troffenen natürlich nicht immer leicht; denn die Hilfe, 
die der Staat gewährt, trägt der Steuerzahler. 

Dass sich Schwererkrankte, deren Anträge abgelehnt 
wurden, bisweilen ungerecht behandelt fühlen, ist 
menschlich absolut nachvollziehbar. Ich nehme aber 
ausdrücklich auch die Beamten in Schutz, die diese Ver- 
fahren begleitet haben und auch weiter begleiten wer- 
den. 

Ich habe in jüngster Zeit immer wieder mit einem 
Vorstandsmitglied des Bundes zur Unterstützung Radar- 
geschädigter persönliche Gespräche geführt und auch 
sehr lange telefoniert - so auch heute. Der Mann hat 
Ausdauer, und er verfolgt, wie viele seine Mitstreiter, 
unsere Arbeit sehr, sehr aufmerksam. Der eine oder an- 
dere Kollege kann das ganz sicher bestätigen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. 

Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]) 

Vielen Radargeschädigten sind wir natürlich nicht 
schnell genug, und ich kann das gut verstehen. Es tickt 
da - die Betroffenen nennen das selbst so - eine biologi- 
sche Uhr. Wir haben es mit Männern zu tun, die in den 
60er- und 70er-Jahren gedient haben. Das ist schon eine 
Weile her. Die meisten Männer sind nur noch auf alten 
Fotos jung. Sie wollen und können nicht mehr warten. 

Jeder fünfte Antrag auf Entschädigung ist im Laufe 
der Jahre anerkannt worden. Dies mag auf den ersten 
Blick wenig erscheinen. Mehr als zwei Drittel wurden 
nicht bewilligt. Man hat dennoch großzügig geprüft, im- 
mer mit dem Wissen, wie schwierig der Nachweis sein 
kann, dass eine heutige Erkrankung mit der Arbeit an 
Radargeräten vor Jahrzehnten zusammenhängt. 

Vergessen wir nicht: Dass heute manches so kompli- 
ziert ist, liegt auch daran, dass von damals so wenig do- 
kumentiert ist. Es fehlte letztlich das Bewusstsein im 
Umgang mit Strahlen, zumal sich die Folgen nicht sofort 
zeigten, sondern oft erst Jahre oder Jahrzehnte später. 

Das Soldatenbild hat sich seit der Gründung der Bun- 
deswehr gewandelt - zum Glück. Ich kann mir vorstel- 
len, dass Schmerzen früher nicht ins Bild passten. Man 
hat sich weniger Gedanken um das Wohlergehen der 
Soldaten und auch um ihre Gesundheit gemacht. Wie 
schwer der Kampf für die Rechte ist, auch davon können 
die Radargeschädigten erzählen. Sie haben mit ihren 


Forderungen, um das einmal vorsichtig zu sagen, bei der (C) 
Politik und der Bundeswehr anfangs nicht immer offene 
Türen eingerannt. Auch das hat sich zum Glück geän- 
dert. 

Die Anerkennungskriterien sind vielfach weit ausge- 
dehnt worden: im Zweifel für das Opfer. So wurden etwa 
trotz eines festgestellten Konkurrenzrisikos - starkes 
Rauchen ist beispielsweise eines - Ansprüche anerkannt. 

Als Gesetzgeber haben wir eine besondere Fürsorge- 
pflicht für alle Soldaten, nicht nur für die noch aktiven. 

Wir haben sie auch für die ehemaligen Angehörigen der 
Bundeswehr und, anders als es hier steht, auch der NVA. 

Auch sie haben gedient. Auch sie hätten im Ernstfall ihre 
Heimat, ihr Vaterland und seine Menschen verteidigen 
müssen. Ich meine, wir sind es ihnen schuldig, sorgfältig 
zu prüfen, ob die bisherigen Hilfen ausreichen. 

(Beifall des Abg. Burkhardt Müller-Sönksen 
[FDP]) 

Die gesundheitlichen Probleme im Alltag bleiben 
häufig. Und mehr noch: Sie verändern sich mit den Jah- 
ren und dem Alter, leider nicht zum Besseren. Es hat 
mich sehr bedrückt, in Gesprächen zu hören, wie ent- 
täuscht viele Radaropfer heute sind. Ich bedaure es, dass 
diese Männer keine guten Erinnerungen an ihre Armee- 
oder Bundeswehrzeit haben, weil das heute viel von dem 
trübt, was sie damals erlebt und geleistet haben. Aber ich 
bin noch optimistisch, dass wir mit diesem interfraktio- 
nellen Antrag wieder einen Beitrag zur Versöhnung er- 
bringen können. Daran hat das Verteidigungsministe- 
rium, vor allem aber der Parlamentarische Staatssekretär 
Christian Schmidt, einen großen Anteil. Dafür herzli- (D) 
chen Dank! 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Der Dank geht natürlich ebenso an die Berichterstatter- 
kollegen, mit denen wir vielfach zusammengesessen ha- 
ben und heute hoffentlich ein tolles Abstimmungsergeb- 
nis erzielen werden. 

Jedem Opfer werden wir es wahrscheinlich nicht 
recht machen können. Wer von der Politik - das ist im- 
mer so - absolute Gerechtigkeit und die Zufriedenheit 
aller Betroffenen verlangt, ist und bleibt blauäugig. Das 
ist schon deshalb schwer möglich, weil wir es mit unter- 
schiedlichen, sehr persönlichen Schicksalen zu tun ha- 
ben und eben nicht mit einer Art Standarderkrankung. 

Aber wenn wir hier und dort Leid lindern, ist das ein gu- 
tes Ergebnis. Dann hätte sich alles gelohnt: das Ringen 
um einen gemeinsamen Antrag, die Suche nach einem 
Kompromiss, kurz: unsere gesamte Arbeit. 

Geholfen hat uns auch in schwierigen Augenblicken, 
wenn die Verhandlungen einmal ins Stocken gerieten, 
ein gemeinsamer Wille: Helfen - schnell und unbürokra- 
tisch; denn das Ticken der biologischen Uhr kann ver- 
dammt laut sein. 

In Härtefällen soll der Dienstherr auch seiner Fürsor- 
gepflicht nachkommen dürfen, wo das Versorgungsrecht 
eben nicht weiterhilft. Das ist ein wichtiges Ergebnis. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Karin Strenz 

(A) Wir wollen erreichen, dass noch nicht abgeschlossene 
Fälle sorgfältig behandelt werden. Die Bundesregierung 
widmet sich also nicht nur der Ausfinanzierung, sie 
schaut auch, ob die Gerätehersteller beteiligt werden 
können. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit diesem 
Antrag auf einem guten Weg. Das behaupte nicht nur 
ich. Das hat mir auch der Vorstandsmann vom Bund zur 
Unterstützung der Radargeschädigten bestätigt. Unser 
letztes Telefongespräch wird es mit Sicherheit trotzdem 
nicht gewesen sein. Die Mühlen mahlen weiter. 

Danke. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- 
empfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksa- 
che 17/7553. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a 
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags 
der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd- 
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7354 mit dem Ti- 
tel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundeswehr 
und der ehemaligen NVA“. Wer stimmt für diese Be- 
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- 
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- 
men der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD- 
Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen 

(B) die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der 
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An- 
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5365 mit 
dem Titel „Ausgleich für Radargeschädigte der Bundes- 
wehr und der ehemaligen NVA voranbringen“ für erle- 
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- 
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die 
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions- 
fraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der 
Fraktion Die Linke angenommen. 

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c 
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5373 mit 
dem Titel „Umfassende Entschädigung für Radarstrah- 
lenopfer der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“ für 
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- 
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - 
Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimm- 
verhältnissen wie die vorherige angenommen. 

Tagesordnungspunkt 32 b: Beschlussempfehlung des 
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion 
Die Linke mit dem Titel „Umfassende Entschädigung 
für Radarstrahlenopfer der Bundeswehr, der ehemaligen 
NVA und ziviler Einrichtungen“. Der Ausschuss emp- 
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 


17/6556, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck- (C) 
Sache 17/5233 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- 
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- 
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den 
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der 
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die 
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- 
nen angenommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: 

Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika 
Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, Elke Ferner, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 

Glücksspielsucht bekämpfen 

- Drucksache 17/6338 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Gesundheit (f) 

Innenausschuss 

Sportausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 

Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen im Saal 
so vorzunehmen, dass wir die Aussprache eröffnen kön- 
nen. 

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- 
gin Angelika Graf für die SPD-Fraktion. 

(D) 

(Beifall bei der SPD) 

Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Laut dem Endbericht des sogenannten PAGE-Projektes 
gibt es in Deutschland hochgerechnet circa 500 000 pa- 
thologische Glücksspieler und rund 800 000 problemati- 
sche Spieler. Rund 3 Millionen Menschen haben ein 
oder zwei Kriterien für risikoreiches Glücksspiel erfüllt. 
Glücksspiel wird vor allem von der Hoffnung auf einen 
großen Gewinn gespeist oder der Hoffnung, durch das 
Spielen aus einer schwierigen finanziellen Situation he- 
rauszukommen. Bei Süchtigen kommt die Hoffnung 
dazu, verlorenes Geld durch nochmaliges Spielen wieder 
zurückzugewinnen. Diese Hoffnung wird jedoch in der 
Regel nicht erfüllt. Im Gegenteil: Glücksspielsucht hat 
für Betroffene und deren Familien dramatische psychi- 
sche und materielle Folgen wie Verschuldung, Krimina- 
lität oder im schlimmsten Fall auch Selbstmord. 

In unserem Antrag schlagen wir ein Gesamtkonzept 
zur Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht 
vor. Das ist nur in Zusammenarbeit von Bund und Län- 
dern möglich. Wir sehen es daher sehr kritisch, dass die 
Bundesregierung noch immer keine abgestimmten Vor- 
schläge für die dringend notwendige Novelle der Spiel- 
verordnung vorgelegt hat. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16577 


Angelika Graf (Rosenheim) 

(A) Der Europäische Gerichtshof hat ein kohärentes Sys- 
tem der Prävention und Bekämpfung der Glücksspiel- 
sucht zur Voraussetzung für das Glücksspielmonopol der 
Länder gemacht. Dieses kohärente System liegt in 
Deutschland nicht vor, wenn der Bund bei den Geld- 
spielautomaten, von denen eine besonders hohe Sucht- 
gefahr ausgeht, beide Augen zudrückt. Erschreckende 
52 Prozent der Spieler in Spielhallen sagen laut dem Ab- 
schlussbericht des Instituts für Therapieforschung, wel- 
ches eine allgemeine, öffentlich anerkannte Untersu- 
chung durchgeführt hat, dass sie die Kontrolle über das 
Spiel an den Automaten verloren haben. 

Die Suchtgefahr ist seit der Lockerung der Spielver- 
ordnung im Jahre 2005 unter dem damaligen Wirt- 
schaftsminister Michael Glos - diese Lockerung war 
ohne Zweifel ein Fehler; das sage ich ganz selbstkritisch, 
weil auch wir damals mit an der Regierung waren - ge- 
stiegen. Zu diesem Ergebnis kommt die Ende 2010 vor- 
gelegte Evaluation des IFT, auf die ich schon hingewie- 
sen habe und auf die wir mit unserem Antrag reagieren. 
Gleichzeitig gibt es in manchen Gegenden eine regel- 
rechte Flut von neuen Spielhallen. 

Diesen Trend, meine ich, müssen wir dringend stop- 
pen, indem wir die Geldspielautomaten wieder stärker 
zum Unterhaltungsspiel zurückführen und die Präven- 
tion stärken. 


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN) 


(B) 


Es geht uns dabei um die Entschärfung und Entschleuni- 
gung der Geldspielautomaten, die Reduzierung der An- 
zahl der Automaten sowohl in Spielhallen als auch in 
Imbissbuden, mehr Transparenz für die Spieler hinsicht- 
lich der realen Gewinnchancen sowie den Abbau von 
suchtfördernden Funktionen der Automaten. 


Auch den Einfluss der Kommunen auf die Standorte 
von Spielhallen wollen wir ausbauen. Wir schlagen zu- 
dem ein Identifikationssystem für die Spieler als Voraus- 
setzung für einen besseren Jugendschutz und die Mög- 
lichkeit der Sperrung Süchtiger vor. Die von der 
Bundesregierung diskutierte elektronische Spielerkarte 
mit Geldkartenfunktion und der Möglichkeit zur Spiel- 
manipulation ist dagegen aus unserer Sicht gefährlich 
und dient gerade nicht der Suchtprävention. 

(Beifall bei der SPD) 

Als Gegengewicht zu der zweifellos mächtigen 
Glücksspiellobby - man muss da immer nur die Zeitun- 
gen lesen - brauchen wir ein Korrektiv auf Bundes- 
ebene. Wir denken, dass bei der Drogenbeauftragten 
-oder dem Drogenbeauftragen - der Bundesregierung 
ein unabhängiger Beirat einzusetzen ist, der analog zum 
bestehenden Fachbeirat Glücksspielsucht der Länder 
eine kohärente Suchtpolitik durch die Zusammenarbeit 
mit den Ländern stärken soll. 


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank 
Tempel [DIE LINKE]) 

Wir fordern Sie dazu auf, der Lobby nicht auf den 
Leim zu gehen und das Problem der Glücksspielsucht 
nicht mit ein paar Placebos zu ignorieren und zu ver- 


harmlosen. Ich denke, die Fortbildung der Mitarbeiter in 
Spielhallen ist eine Selbstverständlichkeit und sollte 
nicht als ein großer Erfolg gefeiert werden. Minimale 
Veränderungen der Spielverordnung reichen auch nicht 
aus. Das wissen Sie auch ganz genau. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Wir brauchen ein Gesamtkonzept zur Prävention und 
Bekämpfung von Glücksspielsucht, und wir brauchen 
das staatliche Monopol als Voraussetzung für den best- 
möglichen Spielerschutz. Die von den Ländern auf 
Druck der FDP vorgesehene Aufgabe des Monopols aus- 
gerechnet bei den suchtgefährlichen Sportwetten bedau- 
ere ich daher ausdrücklich. 

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ich 
nicht!) 

Die Länder laufen damit nämlich Gefahr, dass das Mo- 
nopol insgesamt verzockt wird. 

(Beifall bei der SPD - Christine Aschenberg- 
Dugnus [FDP]: Schleswig-Holstein ist da sehr 
weit voran!) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schutzauftrag 
des Staates muss höher bewertet werden als das Interesse 
der Profitmaximierung. Deswegen werbe ich für unseren 
Antrag. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Das Wort hat die Kollegin Karin Maag für die 
Unionsfraktion. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Karin Maag (CDU/CSU): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Liebe Frau Graf, Ihnen geht es darum, die Glücksspiel- 
sucht zu bekämpfen; so lautet zumindest Ihr Antrag. Ich 
glaube, bevor wir hier wieder sehr breit streuen, lohnt es 
sich jetzt einfach einmal, das Ganze systematisch aufzu- 
arbeiten. 

Sie haben recht: Das Glücksspiel ist weit verbreitet. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Der Name „Glücksspiel“ ist 
falsch!) 

14 Prozent der Deutschen haben bereits einmal eine 
Spielbank aufgesucht und dort an den Spieltischen und 
Spielautomaten gespielt. 25 Prozent der Bevölkerung 
haben bereits an Geldspielautomaten in Spielhallen und 
Gaststätten gespielt. Nicht zuletzt spielen rund 70 Pro- 
zent der Deutschen Lotto. Wie überall kommt es auch 
beim Spielen und bei der Spielsucht auf das richtige Maß 
und vor allen Dingen auf die richtigen Ansätze an. 

In der Tat ist es besorgniserregend - da haben Sie 
recht -, dass mittlerweile rund 1,1 Prozent der bundes- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Karin Maag 

(A) deutschen Bevölkerung zwischen 16 und 65 ein proble- 
matisches Spielverhalten aufweisen. 

Absolut sind es rund 600 000 Menschen. Der Anteil 
der pathologischen Spieler beträgt je nach Ergebnis der 
repräsentativen Umfragen zwischen 0,2 und 0,6 Prozent. 
Insofern ist die Grundüberlegung Ihres Antrags richtig. 

Pathologisches Glücksspiel ist als eigenständige psychi- 
sche Erkrankung anerkannt. Man darf sich nicht wundem, 
dass es die Spieler an den Geldautomaten sind, die die 
größte Gruppe innerhalb der pathologischen Spieler dar- 
stellen. Automatenspiele - übrigens unabhängig vom 
Standort, ob in Spielbanken oder in Gaststätten und 
Elallen- haben nach allen Untersuchungen das höchste 
Suchtpotenzial. Das ist einleuchtend; denn zum einen er- 
lebt der Spieler, der die schnelle Spielfrequenz mag, mit 
der bislang erlaubten Mehrfachbespielung und der 
Schnelle den Verlust deutlich weniger. Er hat gar keine 
Zeit, zu realisieren, dass er in dem Augenblick, in dem er 
die Taste neu drückt, schon Geld verloren hat. Zum ande- 
ren wird der Anreiz, mehr Geld einzusetzen, um damit ei- 
nen höheren Verlust auszugleichen, größer. Natürlich sind 
diese Automatenspiele auch außerhalb der Kasinos in den 
Elallen und Gaststätten verfügbar. 

Aber - jetzt kommt das große Aber, Frau Graf - ers- 
tens ist der Antrag, wenn Sie ihn an die Bundesregierung 
richten, überwiegend an die falsche Adresse gerichtet. 
Das merkt man übrigens auch an Ihren Formulierungen. 
So solle die Bundesregierung auf die Länder einwirken 
und an die Länder appellieren. Mit der Föderalismusre- 
^ form 2006 ist die Kompetenz für die Hallen auf die Län- 
der übergegangen. 

(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Appel- 
lieren kann man trotzdem!) 

Die Ministerpräsidenten werden den Staatsvertrag ir- 
gendwann im Dezember unterzeichnen. Also: falscher 
Adressat. 

(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Deshalb 
kann man trotzdem miteinander reden!) 

Zweitens. Sie verlangen eine strengere Regulierung 
der Automaten in Spielhallen, ohne den technisch weit- 
gehend nicht regulierten Markt in den Spielbanken über- 
haupt zu hinterfragen. Geldspielgeräte in den Spielban- 
ken erfahren keinerlei technische Vorgaben in der 
Gerätekonstruktion. Da gibt es kein Verlustlimit und 
keine Laufzeitbeschränkung. Es wird einzig über den 
Zutritt in die Kasinos gesteuert. Diese einseitige Sicht ist 
schon deshalb ein Versäumnis, weil der EuGH anmahnt, 
dass das staatliche Glücksspielmonopol nur vor dem 
Hintergrund haltbar ist, dass die Spielsucht in allen 
Glücksspielbereichen konsequent verfolgt werden muss. 

Drittens. Sie holen zum Rundumschlag gegen alle 
Automaten aus. Sie ignorieren - das finde ich eigentlich 
schade -, dass die Automatenwirtschaft, die Sie so sehr 
als Lobby hingestellt haben, 

(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist 
so! Lesen Sie nicht Zeitung?) 


im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflichtung bereits (C) 
einiges erreicht hat und dass sie vor allem selbst das In- 
teresse hat, die schwarzen Schafe, die es ohne Zweifel 
gibt - das gestehe ich Ihnen ohne Weiteres zu -, zu be- 
nennen und auszuschalten. Unsere Politik unterscheidet 
sich grundsätzlich in dieser Hinsicht. Wir sagen: Eine 
Politik gegen diejenigen, die betroffen sind, hat noch nie 
gefruchtet. Wir müssen auch die mitnehmen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Gehen Sie ein- 
fach mal mit offenen Augen durch die Stadt!) 

- Ich bin durch die Stadt gelaufen, Herr Kollege. 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann müssen Sie 
auch Konsequenzen daraus ziehen!) 

Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich will ausdrücklich 
zugestehen, dass wir die schwarzen Schafe bekämpfen 
werden. Aber ich bin von einer Tatsache extrem über- 
zeugt: Wir werden weiterhin diese Form der schnellen 
Spiele haben. Mir ist es sehr viel lieber, dass diese in den 
kontrollierten Spielhallen stattfmden und dass die Men- 
schen in diesen Spielhallen bleiben, 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer kontrol- 
liert denn die Spielhallen? Da ist überhaupt 
keine Kontrolle! Sie lehnen das doch ab!) 

in denen zum Beispiel Alkohol verboten ist und in denen 
Broschüren über Sucht ausliegen müssen, als dass sich 
diese Szene in das Internet verlagert, wo man keinerlei 
Zugangsmöglichkeit zu ihnen hat, um das Suchtthema 
anzugehen. (D) 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Spielhallen sind ein Sünden- 
pfuhl!) 

Ich habe mit den Vertretern der Branche gesprochen 
und mir Spielhallen angeschaut. Ich konnte mich selbst 
davon überzeugen, dass die sogenannten Guten durchaus 
bereit sind, mitzuwirken. 

(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Und was 
machen Sie gegen die Schlechten?) 

- Liebe Frau Bätzing, ich habe noch etwas und kann 
noch nachlegen und sagen, was wir machen wollen. Jetzt 
warten Sie einfach einmal ab. 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da sind wir 
gespannt!) 

Für mich ist es sehr wichtig, dass das Element der frei- 
willigen Selbstkontrolle, das ich für ein gutes Element 
halte, 

(Mechthild Rawert [SPD]: Aber wirkungslos!) 

bleibt und dass wir erst dann, wenn dieses nicht funktio- 
niert, mit der staatlichen Keule kommen. Aus all diesen 
Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab. 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wie lange 
wollen Sie denn warten?) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Karin Maag 

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt regen Sie sich 
ein bisschen weniger auf. Ich bin ja noch nicht am Ende. 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wann ist denn 
die Wiedervorlage?) 

Das heißt nicht, dass wir Prävention vernachlässigen 
und dass wir uns außerhalb der technischen Regulierung 
nicht auch um die Suchthilfe kümmern. Ich möchte nur 
darauf hinweisen, dass es seit 2007 Modellprojekte des 
BMG gibt. Zum Beispiel wird das Projekt „Frühe Inter- 
vention bei pathologischem Glücksspiel“ mit 1,1 Millio- 
nen Euro gefördert. Es steht bereits jetzt fest, dass die 
Qualifizierung in der Suchthilfe für Glücksspielsucht mit 
diesem Modellprojekt gelungen ist. Des Weiteren ist die 
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung - das 
wissen Sie - umfassend tätig. 

(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Aber besser 
ist, wenn Süchtige gar nicht entstehen!) 

Wenn Sie Ihren Fokus heute ausschließlich auf die 
Geldspielgeräte richten wollen, so kann ich Ihnen sagen, 
dass dieser Bereich in Spiel- und Gaststätten bereits 
heute streng reguliert ist. 

Darüber hinaus mahnten Sie den Einsatz auf europäi- 
scher Ebene an. Ich kann Sie beruhigen: Auch dort ist 
Deutschland sehr präsent. Es geht dabei insbesondere 
um den Minderjährigenschutz, die Bekämpfung der 
Spielsucht und den Schutz vor Folge- und Begleitkrimi- 
nalität. 

Sie rufen stets nach Änderungen der Baunutzungsver- 

(B) Ordnung. Auch hier empfehle ich - wie sonst auch - ein 
differenziertes Vorgehen. Die Städte und Gemeinden ha- 
ben heute schon die Instrumente, um den Spielhallenauf- 
wuchs zu steuern. Das setzt vor allem die Verabschie- 
dung der entsprechenden Bebauungspläne voraus. Ich 
nenne aus meiner Region Ludwigsburg und Esslingen. 

Daneben gehen die Städte jetzt dazu über, illegale und 
nicht angemeldete Geräte in den Gaststätten zu bekämp- 
fen. Das finde ich vorzüglich. 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Kollegin Maag, gestatten Sie eine Frage oder Erklä- 
rung des Kollegen Ströbele? 

(Zuruf von der CDU/CSU: Doch nicht jetzt!) 

Karin Maag (CDU/CSU): 

Bitte, Herr Ströbele. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Danke, Frau Kollegin. - Ich frage mich die ganze 
Zeit, während ich hier sitze, wie häufig Sie schon in 
Spielhallen gewesen sind. Wir könnten einmal hier um 
die Ecke gehen; das ist gar nicht weit weg. Ich bin vor 
wenigen Tagen über die Stromstraße geradelt und habe 
die Spielhallen gezählt. Dort befindet sich eine Spiel- 
halle neben der anderen. Insgesamt sind es 17 Spielhal- 
len, und alle haben verdunkelte Fenster. 


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Land 
Berlin!) 

Gehen Sie einmal in eine hinein. Dann sehen Sie, wel- 
ches Milieu dort verkehrt. Es ist die Frage, ob Sie wei- 
terhin sagen werden: Wie gut, dass alles kontrolliert ist. 

Vor allen Dingen - deshalb habe ich mich gemeldet - 
möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zum zuständigen 
Bezirksamt zu gehen und denen zu sagen, wie die loka- 
len Behörden dagegen Vorgehen können? 

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wer ist 
denn hier an der Regierung? Wer kontrolliert 
hier denn nichts?) 

Karin Maag (CDU/CSU): 

Aber gerne, Herr Ströbele. 

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Würden Sie denen einmal sagen, wie das möglich 
wäre? Die bemühen sich nämlich seit vielen Jahren, 
nicht nur auf der Stromstraße, sondern auch auf der 
Turmstraße - die befinden sich hier in Moabit - dagegen 
vorzugehen, aber leider fehlt ihnen die notwendige 
Handhabe. 

Karin Maag (CDU/CSU): 

Lieber Herr Ströbele, ich bin gerne bereit, mit Ihnen 
gemeinsam einmal da hinzugehen. 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Wir gehen einmal zusammen da 
hin!) 

Ich kann Ihnen sagen, dass es in den Gemeinden Lud- 
wigsburg und Esslingen keine Spielhallen mehr gibt, 
weil diese die entsprechenden Bebauungspläne erstellt 
haben. Ich bin gerne bereit, dem Land Berlin die Adres- 
sen zu nennen, bei denen man erfahren kann, wie so et- 
was geht. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Bei aller Kritik am Antrag: Natürlich verlangt die 
Evaluation der Spielverordnung - das haben wir auch im 
Ausschuss gesehen - ein Nachsteuern. Die früheren Un- 
terhaltungsspiele, bei denen man das Geld einsetzte, um 
die Unterhaltungsautomaten - beispielsweise Flipper- 
Automaten - in Gang zu setzen, gibt es nicht mehr. Der 
Unterhaltungsaspekt ist im Laufe der Zeit zugunsten des 
Gewinnaspektes in den Hintergrund getreten, und gerade 
durch die letzte Novellierung der Spielverordnung 
wurde die Ereignisfrequenz, diese Illusion der Beein- 
flussbarkeit von Einsatz und Gewinn, erhöht. 

Die Evaluation hat auch ergeben, dass der damals, 
2006, mit den Änderungen beabsichtigte Schutz zum 
Beispiel mit dem Verbot der Fungames erreicht wurde. 

Illegale Praktiken, Frau Graf, gibt es; das gestehe ich 
Ihnen ohne Weiteres zu. Das ist zum Beispiel das Vor- 
münzen. Diese illegalen Praktiken konnte man nicht aus- 
reichend verhindern, und daher müssen wir jetzt nach- 
steuern. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Karin Maag 

(A) Für mich ist allerdings zentral wichtig, dass Spieler- 
schutz auch heißt, dass wir vor allem die Spieler und 
nicht die Geräte in den Blick nehmen müssen. Die Ge- 
räte sind zweitrangig. Um diese kümmern wir uns auch. 
Aber wichtiger ist, dass wir den Spieler schützen. Die 
Suchtpolitik der christlich-liberalen Koalition nimmt 
stets Bezug auf den einzelnen Menschen und seinen Le- 
benshintergrund. 

(Lachen der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) 
Insofern will ich da auch einen Schwerpunkt setzen. 
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) 

- Ich glaube nicht, dass das zum Lachen ist. 

(Mechthild Rawert [SPD]: Hoffentlich wissen 
die Spieler das auch!) 

- Ich glaube, Frau Kollegin, dass wir, wenn wir uns da- 
rüber unterhalten, wer von uns wie viele Spielhallen be- 
sucht hat, wer mit wie vielen betroffenen Menschen ge- 
redet hat, 

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Aha! Esslingen!) 

feststellen werden, dass ich Ihnen zumindest da in nichts 
nachstehe. 


(B) 


Das Emnid-lnstitut hat in seiner neuesten Studie 
hierzu ausdrücklich festgestellt, nicht das Spielangebot 
sei ursächlich, sondern krankhafte Strukturen in der 
Spielerpersönlichkeit. Das heißt, wenn eine bestimmte 
Spielform erschwert oder verboten wird, hört der Spieler 
logischerweise nicht auf, zu spielen, sondern wendet 
sich anderen Formen zu. Es macht deshalb auch wenig 
Sinn, einzelne Formen zu verbieten oder einfach nicht 
mehr zuzulassen. Wir vertreiben die Menschen damit 
nur aus den Hallen und treiben sie ins Internet. 


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Ich setze mich deshalb für Maßnahmen ein, wie sie in 
der Evaluation vorgesehen sind: 

Hier wird einmal die Einführung einer sogenannten 
Spielerkarte vorgeschlagen, um illegale Spielpraktiken 
zu verhindern. Diese Karte soll nur für einen Tag und für 
eine Spielstätte gelten. Sie kann nur an einem Gerät ein- 
gesetzt werden. Damit verhindert man Mehrfachbespie- 
lungen. Die Karte soll auch eine maximale Obergrenze 
für mögliche Einzahlungen beinhalten. Gewinne werden 
nicht auf der Karte gespeichert, sondern müssen ebenso 
wie möglicherweise verbleibende Restbeträge am Ende 
des Tages ausbezahlt werden. 

Dann ist es mir tatsächlich auch wichtig, Frau Graf, 
dass die Kenntnisse der Spielhallenbetreiber über den 
Spieler- und Jugendschutz verbessert werden, dass eine 
Sachkundeprüfung zur Voraussetzung für die Erteilung 
einer Spielhallenerlaubnis gemacht wird und der Betrei- 
ber und die Mitarbeiter diese Prüfling in regelmäßigen 
Abständen wiederholen müssen. Das ist ein zentrales 
Anliegen. 


Jetzt kommen wir zu dem technischen Bereich, der (C) 
Ihnen ja so wichtig ist. Selbstverständlich müssen wir 
die Begrenzungen für Gewinne und Verluste pro Stunde 
überdenken - da sind wir bei Ihnen gegebenenfalls er- 
gänzt durch die Einführung einer weiteren Grenze für 
absolute Tagesgewinne oder -Verluste. 

Man kann mit mir auch über die Verlängerung der 
Laufzeit pro Spieleinheit sprechen. Sie sagen ja in Ihrem 
Antrag, dass die derzeit geltenden 5 Sekunden zu kurz 
seien. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn man gleich- 
zeitig auch die Laufzeit der Geräte in den Spielkasinos 
verlängert. Das Suchtpotenzial ist nämlich in beiden Fäl- 
len absolut dasselbe. 

Schließlich müssen wir auch über Repression reden. 
Zurzeit wird die Nichteinhaltung einiger suchtpolitisch 
relevanter Vorgaben wie beispielsweise das Auslegen 
von Informationsbroschüren über die Risiken übermäßi- 
gen Spielens nicht einmal als Ordnungswidrigkeit ge- 
ahndet. Darüber kann man reden. Hier müsste man neue 
Tatbestände schaffen. Auch über die Höhe der Bußgel- 
der kann man mit mir reden. Ich gehe davon aus, das 
BMWi wird genügend Kreativität entwickeln, um die 
schwarzen Schafe auszumerzen. Wir werden selbstver- 
ständlich auch unseren Teil dazu beitragen, dass es einen 
„kohärenten“, wie Sie so schön formuliert haben, Spie- 
lerschutz gibt, und zwar, ohne unsere Pflichten aus 
Art. 12 Grundgesetz zu vernachlässigen. Diesen Ein- 
schub erlaube ich mir im Hinblick auf die derzeitige Fas- 
sung des Entwurfs des Staatsvertrags der Länder. 

Zusammenfassend sage ich: Wir lehnen Ihren Antrag 
ab. (D) 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Sehr 
schade!) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Frak- 
tion Die Linke. 


(Beifall bei der LINKEN) 

Frank Tempel (DIE LINKE): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen 
und Herren! Wir haben eben von Frau Graf gehört und 
können es auch dem SPD-Antrag entnehmen, dass wir in 
Deutschland rund 500 000 pathologische Glücksspieler 
und rund 800 000 problematische Spieler haben. Denken 
Sie, wenn wir über das Thema reden, ganz kurz daran, 
was das für den Einzelnen, aber auch dessen Familie be- 
deutet. Wir müssen also schon über die Glücksspielsucht 
insgesamt reden und dürfen nicht nur auf die Kompeten- 
zen von Bund und Ländern abstellen. Die Bundesregie- 
rung kann nämlich durchaus auch Einfluss auf die Län- 
der nehmen. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD) 

Der Europäische Gerichtshof fordert ja die Reformie- 
rung des Glücksspielvertrages der Bundesländer, wenn 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Frank Tempel 

(A) das staatliche Glücksspielmonopol aufrechterhalten wer- 
den soll; denn staatliche Werbung für Lotterien auf der 
einen Seite und der Auftrag der Suchtprävention auf der 
anderen Seite ist mit dem staatlichen Monopol auf das 
Glücksspiel unvereinbar. Wer also ehrlich mit dem 
Thema Glücksspiel umgehen will, muss zuerst eine 
Frage beantworten: Wollen wir eine funktionierende 
Suchtprävention, die die Gefahren des Glücksspiels ein- 
schränkt, oder sollen mit dem Glücksspiel Mehreinnah- 
men erzielt werden, die den Betreibern und auch dem 
Staat zufallen? 

Ein Beispiel: Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein 
scheint sich für die Einnahmeseite entschieden zu haben. 
Dort lässt man jetzt Poker-Portale und Wettangebote jeg- 
licher Art ohne Begrenzung der Zahl der kommerziellen 
Anbieter zu. Schleswig-Holstein ist so auf dem besten 
Weg zu einem Las Vegas an der Waterkant. 

Tobias Koch von der CDU Schleswig-Holstein hat 
schon Euro-Zeichen in den Augen. Er rechnet mit 40 bis 
60 Millionen Euro Mehreinnahmen für die Landeskasse. 
Im Klartext heißt das aber: Mehr Markt gleich mehr 
Spiel gleich mehr Spielsucht. 

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: So ein 
Quatsch!) 

Das ist verantwortungslos, und das wird mit der Linken 
nicht gehen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Die anderen Bundesländer gehen mit der Einnahme- 

(B) Orientierung nicht ganz so weit. Hier soll auf der einen 
Seite das staatliche Lottomonopol erhalten bleiben, auf 
der anderen Seite aber auch der Markt für Sportwetten 
geöffnet werden. Es soll 20 statt der geplanten 7 kom- 
merziellen Sportwettenanbieter geben, und die Steuerbe- 
lastung für Spieleinsätze soll von 16,6 Prozent auf 5 Pro- 
zent gesenkt werden. Die Ministerpräsidenten haben 
also keine neue Regelung im Bereich der Suchtpräven- 
tion gesucht, sondern es vorgezogen, der Glücksspiel- 
lobby durch Öffnung des Marktes entgegenzukommen. 

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!) 

Es sagt doch alles, wenn der Chef des Anbieters Bet 
and Win die neue Regelung als wichtigen Schritt auf 
dem Weg zu einer zeitgemäßen Glücksspielregelung be- 
zeichnet und damit sozusagen lobt. Gleichzeitig findet er 
die Regelung in Schleswig-Holstein zukunftsweisend. 
Hier spricht einer, der noch mehr Einnahmen auf sich 
zukommen sieht und am liebsten noch mehr Spielraum 
hätte. Auch dazu sagt die Linke: So geht es nicht. 

(Beifall bei der LINKEN - Christine 
Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sie sagen gar 
nichts zur Sucht!) 

Dass es für diese Problematik eine hohe Sensibilität 
gibt, zeigt die SPD mit ihrem hier vorliegenden Antrag. 
In ihm wird vor allem die Suchtgefahr beim Automaten- 
glücksspiel thematisiert. Konkret wird unter anderem 
gefordert: Entschleunigung der Geldspielautomaten, Sen- 
kung des maximalen Verlustes pro Stunde, ein verpflich- 
tendes Identifikationssystem. Das alles sind geeignete 


präventive Lösungsansätze. Die Linke findet, dass die (C) 
SPD mit ihrem Antrag in eine gute Richtung geht, und 
deshalb wollen wir ihn mittragen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Aber darüber hinaus ist es wichtig, weitere Fragen zu 
stellen. Daran können wir, wie Sie sicher zugestehen 
werden, arbeiten. Zu fragen ist, ob es sinnvoll ist, das 
Automatenspiel überhaupt außerhalb von Spielkasinos 
zu ermöglichen. Zudem ist zu fragen, wie Sanktions- 
maßnahmen gegen Betreiber bei Verstößen kontrolliert 
werden sollen. Sollen das die Polizei oder die Ordnungs- 
ämter nun auch noch bewältigen? Wie und von welchem 
Geld sollen diese Kontrollen bezahlt werden? Das sind 
Probleme, die gelöst werden müssen. Zudem stellt sich 
die Frage: Wie können wir den Jugendschutz weiter ver- 
bessern? 

Sie sehen, dass die Diskussion noch lange nicht am 
Ende ist. Aber 500 000 Glücksspielsüchtige und 800 000 
problematische Spieler sollten uns allen zu denken ge- 
ben. Wenn wir es mit der Bekämpfung der Spielsucht 
ernst meinen, müssen wir neue Wege der Prävention und 
nicht neue Wege der Marktöffnung gehen. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe 
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Christine 
Aschenberg-Dugnus das Wort. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ( D ) 

Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Glücksspielsucht ist ein ernstzunehmendes Thema. Wer 
auf Dauer länger spielt oder mehr Geld einsetzt, als er 
sich leisten kann oder will, für den kann das Spielen zu 
einer schweren Belastung werden. Doch so ernst dieses 
Thema auch ist, es gibt auch Anlass für positive Bot- 
schaften. 

Ich bin froh. Ihnen mitteilen zu können, dass 99 Pro- 
zent der Bevölkerung im Alter von 16 bis 65 Jahren ins- 
gesamt kein pathologisches Glücksspielverhalten auf- 
weisen. Das ist auch eine Botschaft unserer heutigen De- 
batte. Im Umkehrschluss heißt das, dass insgesamt nur 
1 Prozent der Bevölkerung problematisches Glücksspiel- 
verhalten aufweist. 

(Sabine Bätzing-Lichtenthäler [SPD]: Denken 
Sie mal an die Familien, an die Angehörigen, 
an die Kinder, die zu leiden haben!) 

Das sind nach Angaben der Bundeszentrale für gesund- 
heitliche Aufklärung bundesweit 540 000 Betroffene - 
zu viele; da gebe ich Ihnen recht. Im Jahr 2009 waren es 
übrigens noch 590 000 Betroffene. Wir haben also schon 
einen Rückgang um 50 000 zu verzeichnen. 

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Alles ist gut!) 

Wir sprechen hier also von 1 Prozent mit missbräuchli- 
chem Verhalten. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Christine Aschenberg-Dugnus 

(A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Sie müssen die Familien dazu- 
rechnen!) 

Bei allem Respekt vor diesen Menschen, denen wir 
ganz sicher helfen müssen und auch helfen wollen: Es ist 
schlicht nur 1 Prozent. Für die überwältigende Mehrheit 
ist Glücksspiel ein emotionaler Freizeitspaß. Die martia- 
lische Dramatik, die Sie in Ihrem Antrag an den Tag le- 
gen, ist daher vollkommen unangebracht. Sie tun gerade 
so - das haben wir heute schon mehrfach festgestellt — , 
als ob ein ganzes Volk durch Glücksspiel von massiver 
Verschuldung oder Kriminalität bedroht wäre. Sie tun so, 
als wenn wir hier in einem völlig unkontrollierten Las 
Vegas wären, in dem vernünftige Menschen dazu ani- 
miert werden, ihre Existenz zu verspielen und Frau und 
Kind im Elend zurückzulassen. 

(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist 
so! Haben Sie sich mal mit denen unterhal- 
ten?) 

Meine Damen und Herren, das ist nicht der Fall. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP) 

Denn es gibt bereits klare gesetzliche Vorgaben und sehr 
begrüßenswerte freiwillige Maßnahmen, auch und ge- 
rade - auch wenn Sie das kritisieren - von der Automa- 
tenindustrie, und zwar ohne staatlichen Dirigismus. So 
setzen die Konzepte der Automatenindustrie einen 
Schwerpunkt auf Information und Prävention. Die An- 
sätze hierbei sind: erstens Mitarbeiterschulung zur Früh- 
erkennung und Prävention, 

^ (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Oh!) 

zweitens Informationsflyer über kostenfreie und ano- 
nyme Beratungsmöglichkeiten sowie drittens Hinweise 
auf die Beratungshotline der BZgA. Außerdem besteht 

- die Kollegin Maag hat es schon angesprochen - seit 
1985 in vielen Spielotheken ein absolutes Alkoholverbot 

- das finde ich sehr richtig -, um einen klaren Kopf bei 
den Spielgästen zu garantieren. 

(Hilde Mattheis [SPD]: Na super!) 

Dennoch ist jeder Fall von Glücksspielsucht einer zu 
viel. Deshalb helfen wir diesen Menschen. Doch jede 
noch so gut gemeinte Hilfestellung muss dem Grundsatz 
der Verhältnismäßigkeit standhalten. 

(Jens Ackermann [FDP]: Sehr richtig!) 

Ich lehne es grundsätzlich ab, die große Mehrheit derer, 
die mit einer Sache verantwortungsvoll umgehen, voll- 
kommen überzogen zu bestrafen, und das nur, weil eine 
Minderheit nicht damit umgehen kann. Beim Glücks- 
spiel sprechen wir von solch einer Sachlage. Es gilt, mit 
Augenmaß und Gespür für die Menschen an die Proble- 
matik heranzugehen, und genau das tun wir. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Liebe Sozialdemokraten, in Ihrem Antrag formulieren 
Sie einige wichtige Forderungen, die ich hier gar nicht 
ablehnen will. Aber Sie bleiben auch wichtige Antwor- 
ten schuldig. Ein Beispiel ist Ihr Mantra des staatlichen 


Glücksspielmonopols. Warum soll nun ausgerechnet ein 
staatliches Monopol den besten Schutz vor Sucht bewir- 
ken? Erklären können Sie das nicht. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Allein Ihr unerschütterlicher Glaube an den Staatsdiri- 
gismus wird deutlich. Bei Sportwetten und beim Lotto 
ist das ganz besonders offensichtlich. Dass ein vom Staat 
organisiertes und beworbenes Glücksspiel weniger ab- 
hängig macht als eines von privaten Anbietern, war 
schon immer ein Irrglaube. Das können Sie auch nie- 
mandem erklären. Das ist nicht unser Weg. 

(Jens Ackermann [FDP]: So ist es!) 

Unser Weg setzt beim aufgeklärten, mündigen Bürger 
an. Genau deswegen setzen wir auf Prävention. 

(Mechthild Rawert [SPD]: Davon ist aber 
nichts zu sehen!) 

In diesem Punkt kann ich Ihrem Antrag auch folgen. 
Eine Intensivierung von Aufklärungskampagnen ist ab- 
solut begrüßenswert und wird von uns unterstützt. Die 
Fortführung bewährter und die Entwicklung neuer, und 
zwar zielgruppenspezifischer, Präventionsmaßnahmen 
stehen ganz oben auf unserer Agenda. Die BZgA macht 
hier eine ganz hervorragende Arbeit. Wir debattieren 
auch - da bin ich mit Karin Maag einig - über die Ein- 
führung einer Spielerkarte, um die Suchtspirale der Au- 
tomatenmehrfachbespielung zu durchbrechen. Ganz be- 
sonders im Hinblick auf den Jugendschutz muss 
natürlich auch das Personal in seiner Kompetenz ge- 
stärkt werden; denn es muss ohne Wenn und Aber dafür 
Sorge tragen, dass Minderjährige nicht an Automaten 
spielen. Ansonsten muss der Verstoß gegen gesetzliche 
Vorgaben natürlich strikt sanktioniert werden. 

Herr Ströbele, es gibt übrigens auch einige grüne Be- 
zirksstadträte, die lieber die Einhaltung des Heizpilzver- 
bots kontrollieren als die Einhaltung des Jugendschut- 
zes. An diesem Punkt könnten wir auch einmal ansetzen. 
Wir haben nämlich ein Völlzugsdefizit und kein Geset- 
zesdefizit. Das sage ich, um das Ganze richtig einzuord- 
nen. 

Die Sachkenntnis von Automatenaufstellern hinsicht- 
lich des pathologischen Glücksspielverhaltens kann und 
muss noch verbessert werden. Doch bevor wir es Gastro- 
nomen verbieten, in ihrer Kneipe einen Automaten auf- 
zustellen, sollten wir lieber die Einhaltung der Gesetze 
kontrollieren und Verstöße hart bestrafen. In der Summe 
müssen wir die Beteiligten stärken, statt sie zu bevor- 
munden: Wir müssen erstens die Spieler in ihrer aufge- 
klärten Eigenverantwortung und zweitens die Betreiber 
in ihrer Verantwortung, Missbrauch zu erkennen, zu ver- 
meiden und zu unterbinden, stärken. Das kann und sollte 
auch durch technische Maßnahmen flankiert werden. 
Wir sollten beispielsweise über eine Verringerung der 
Ereignisfrequenz und eine Verringerung des maximalen 
Verlustes bzw. Gewinns ergebnisoffen diskutieren. Dazu 
gehört ebenso die Einführung einer Spielerkarte. Einen 
mit erhobenem Zeigefinger versehenen Rundumschlag 
lehne ich jedoch ab; denn die meisten Menschen haben 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16583 


Christine Aschenberg-Dugnus 

(A) keine Probleme mit dem Glücksspiel. Diejenigen, die sie 
haben, werden wir davor schützen. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Wer hat 
Ihnen denn diese Rede aufgeschrieben? Die 
Automatenindustrie?) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Kollegin 
Aschenberg-Dugnus - an dieser Stelle könnte ich auch 
Frau Maag erwähnen - an Verharmlosung geboten hat, 
ist kaum erträglich. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Dass wir dann auch noch hören mussten, dass der Auto- 
matenindustrie in diesem Lande der Charakter von Sa- 
maritern zugeschrieben wird, 

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das hat 
niemand behauptet!) 

ist wirklich so daneben, wie man sich das nur vorstellen 
kann. Die übliche Floskel: „Das liegt in der Suchtstruk- 
tur der Spieler begründet“, bedeutet eine klare Ableh- 
nung von Verhältnisprävention. Auch das ist überhaupt 

(B) nicht zu verstehen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Das Thema Glücksspiel ist ein anschauliches Beispiel 
dafür, welche Folgen eine falsche Suchtpolitik haben 
kann. 

(Dagmar Freitag [SPD]: Die ist verantwor- 
tungslos!) 

Bei der Behandlung illegaler Drogen haben die Ideolo- 
gen das Sagen, die die Abhängigen kriminalisieren. 
Beim Thema Glücksspielsucht bestimmt maßgeblich die 
Industrie den Kurs der Bundesregierung. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 
DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN) 

Den Preis dafür zahlt immer die gesamte Gesellschaft. 
Bezüglich des Automatenspiels heißt das: Privatisierung 
der Gewinne - 7 Milliarden Euro für die Automatenin- 
dustrie - und Sozialisierung der Suchtfolgen. Das kann 
das Parlament doch nicht tolerieren. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Insofern ist jede Initiative zu begrüßen, die hier Ab- 
hilfe schaffen will. So zumindest verstehe ich den An- 
trag der SPD. Auch meine Fraktion hatte in der Vergan- 
genheit diesbezüglich mehrfach Vorstöße unternommen, 
zuletzt mit einer Anhörung im Gesundheitsausschuss. 
Ich schlage Ihnen vor, einmal in den Zusammenfassun- 


gen die Ausschussergebnisse nachzulesen; daraus kann (C) 
man einiges lernen. Es gilt festzuhalten, dass Prävention 
nicht nur Suchtschicksale verhindert, sondern auch not- 
wendige Voraussetzung ist, um den Bestand von Mono- 
polstaatsverträgen gerichtsfest zu sichern - wenn man es 
denn will. Wir wollen das. 

(Beifall der Abg. Angelika Graf [Rosenheim] 

[SPD]) 

Viele Forderungen im Antrag der SPD werden von 
uns unterstützt, insbesondere die strengen Rahmenvor- 
gaben für Geldspielgeräte. Das setzt allerdings voraus 
- da schließe ich mich dem Kollegen Tempel an -, dass 
man die Kommunen finanziell und personell in die Lage 
versetzt, die Einhaltung der Vorgaben auch zu kontrollie- 
ren. Die Ergebnisse der Modellversuche und der Studien 
zur Evaluation der Spielerverordnung sind ernüchternd. 

Man kann mitnichten sagen, da sei alles in Butter. Viel- 
mehr berichten die Kolleginnen und Kollegen vor Ort 
von einer derart mangelnden Kooperation der Betreiber, 
dass einem die Haare zu Berge stehen. Das muss hier 
einmal festgehalten werden. 

Wir begrüßen den Ansatz der SPD, über die Baunut- 
zungsverordnung der Spielhallenflut in den Kommunen 
Herr zu werden, und freuen uns darüber, dass Sie inzwi- 
schen selbst einen entsprechenden Antrag umsetzen wol- 
len, nachdem Sie zuvor unserem Antrag nicht zustim- 
men konnten. 

Es gibt aber auch Forderungen, die man kritisch hin- 
terfragen muss. Beispielsweise bin ich skeptisch, was die 
Einführung einer Spielerkarte in Spielhallen angeht. Er- 
fahrungen aus Australien haben gezeigt, dass solche ' 
Karten wirkungslos sind und zu nichts führen. Dass eine 
solche Einführung ausgerechnet von der Automatenin- 
dustrie befürwortet wird, nährt doch den Verdacht, damit 
quasi als Alibi wirksame Einschränkungen zu verhin- 
dern oder Kundenprofiling zu betreiben, möglicherweise 
sogar beides. Wir sind der Überzeugung, dass solche 
Automaten in Kneipen und Imbissbuden nichts zu su- 
chen haben. Viele Studien haben gezeigt, dass junge 
Menschen dort angefixt werden, zumal dort wirksame 
Kontrollen des Jugendschutzes nicht möglich sind. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge- 
meinsam Fehlentwicklungen und Probleme, die nach der 
letzten Novelle zur Spielerverordnung aus dem Jahr 
2006 aufgetreten sind, beseitigen. 

Meine letzte Anregung ist, uns auch auf Länderebene 
für die Stärkung der Monopolstaatsverträge einzusetzen 
und dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Aushöhlung 
kommt. Die Länder muss man zumindest dafür loben, 
dass sie mehr Bereitschaft zeigen als der Bund, Spielau- 
tomaten strenger zu reglementieren, weil ihnen die Pro- 
bleme vor Ort offenbar stärker auf den Nägeln brennen. 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Kollege Terpe, achten Sie bitte auf das Signal. 

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Ein solches Engagement würde ich mir natürlich auch 
vom Bund wünschen. Das ist aber von einem FDP-ge- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Harald Terpe 

(A) führten Bundeswirtschaftsministerium weniger zu er- 
warten, obwohl der Minister eigentlich etwas von Sucht- 
gefährdung verstehen müsste. 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat für die 
SPD-Fraktion das Wort. 

(Beifall bei der SPD) 

Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Oscar Wilde hat gesagt, allem könne er wider- 
stehen, nur der Versuchung nicht. Was uns vielleicht 
zum Schmunzeln bringt, ist für viele Menschen leider 
schmerzhafte Realität: Sie können einer Versuchung 
nicht widerstehen; sie sind süchtig. Liebe Kolleginnen 
und Kollegen, Eigenverantwortung allein hilft an dieser 
Stelle nicht weiter. 

(Beifall bei der SPD und der LINKEN) 

Mit unserem Antrag wollen wir nicht das Glücksspiel 
verbieten. Mit unserem Antrag wollen wir nicht das pro- 
saische letzte bisschen Freiheit, das so oft beschworen 
wird, eingrenzen. Nein, es geht uns ausschließlich da- 
rum, süchtigen Menschen zu helfen; denn Sucht ist nicht 
Freiheit; Sucht ist das Gegenteil. 

(B) 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Ich möchte auf einen anderen Aspekt hinweisen. Mit 
dem Entwurf eines neuen Glücksspielstaatsvertrags sind 
vor einigen Wochen negative Fakten geschaffen worden, 
etwa durch die Aufgabe des Sportwettenmonopols. Wa- 
rum negativ? Mit dem Glücksspielmonopol wurde bis- 
her nicht nur die Prävention sichergestellt; das Glücks- 
spielmonopol hat auch - das gehört dazu - massiv zur 
Förderung und Finanzierung des Breitensports beigetra- 
gen, weil die staatliche Lotterie eine Konzessionsabgabe 
von 16 2/3 Prozent des Einsatzes gezahlt hat, die dem 
Breitensport insgesamt zugeflossen ist. So kamen durch 
Lotto und Oddset jedes Jahr 500 Millionen Euro für den 
Breitensport zusammen. 

(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist 
also gutes Geld!) 

Mit diesem Geld wurde mehr gemacht, als Torpfosten 
einzugraben und Tischtennisplatten aufzustellen. Mit 
diesem Geld wurden Jugendarbeit und ehrenamtliches 
Engagement gefordert. 

In diesem Bereich wird es durch die Aufgabe des 
Monopols extreme Einschnitte geben. Denn es gibt er- 
hebliche Zweifel, ob eine 5-prozentige Abgabe auf Wett- 
einsätze, die von 20 bisher rein potenziellen Konzes- 
sionsnehmern gezahlt werden soll, den Wegfall der 
bisherigen Einnahmen aus der Zweckabgabe im Rahmen 
des Wettmonopols ausgleichen wird. 


(Zuruf von der FDP: Was denn nun?) 

Selbst der Deutsche Olympische Sportbund, seit langem 
ein Verfechter der Marktöffnung im Sportwettenbereich, 
hat die Erwartungen hinsichtlich eines potenziellen 
Geldsegens mittlerweile zurückgeschraubt, wie wir in 
der gestrigen Sportausschusssitzung erfahren haben. Von 
den oft vom DOSB veranschlagten 80 Millionen Euro 
für den Sport ist nur noch eine vage Option auf ein Drit- 
tel der Abgaben für den Sport übrig geblieben, was im 
Staatsvertrag allerdings nirgendwo festgehalten ist. 

(Karin Maag [CDU/CSU]: Offensichtlich hei- 
ligt der Zweck die Mittel!) 

Es bleibt offen, was das in Euro und Cent für den Brei- 
tensport bedeutet. 

Das bedeutet: Nur wenn einerseits das Volumen des 
Glücksspielmarktes an sich steigt und andererseits mehr 
Menschen als bisher spielen und mehr Geld als bisher 
verspielen, wird der Breitensport annähernd die gleiche 
Förderung wie bisher erhalten. Das aber, liebe Kollegin- 
nen und Kollegen, würde zu einer erhöhten Zahl der 
Spielsüchtigen führen. 

(Jan Mücke [FDP]: Das ist doch nicht logisch! 

Das ist unlogisch!) 

Das ist kein Schreckgespenst; das sind Fakten: In Groß- 
britannien ist die Zahl der Spielsüchtigen in den ersten 
drei Jahren der Kommerzialisierung des Glücksspiel- 
marktes um 50 Prozent gestiegen. Es kann von uns nicht 
gewollt sein, eine dahin gehende Liberalisierung durch- 
zuführen. 

Die Ausrede, dieser Staatsvertrag sei Angelegenheit 
der Länder, lassen wir einfach nicht gelten. An anderer 
Stelle sind Sie auch nicht so zurückhaltend und versu- 
chen vielmehr, auf die Länder einzuwirken. 

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie 
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Insofern möchte ich Sie noch einmal bitten, auf der ei- 
nen Seite die Spielsüchtigen und ihre Angehörigen und 
Familien nicht alleinzulassen und in die Prävention zu 
investieren und auf der anderen Seite sicherzustellen, 
dass dem Breitensport wenigstens durch die staatliche 
Abgabe eine angemessene Finanzierung zur Verfügung 
gestellt wird. 

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie 
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Es tut mir leid, Kollege Kauder, aber Sie waren mit 
Ihrer Initiative, mit der Kollegin Bätzing ins Gespräch 
zu kommen, zu spät. Sie hatte ihre Redezeit schon über- 
schritten. 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/6338 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Vizepräsidentin Petra Pau 

(A) verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung 
so beschlossen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 5 a und b auf: 

a) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen- 
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung 

Bericht des Parlamentarischen Beirats über 
die Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfol- 
genabschätzung und die Optimierung des Ver- 
fahrens 

- Drucksache 1 7/6680 — 

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz 
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un- 
terrichtung durch den Parlamentarischen Beirat 
für nachhaltige Entwicklung 

Europäische Nachhaltigkeitsstrategie 

- Drucksachen 17/5295, 17/7678 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart 
Dr. Matthias Miersch 
Michael Kauch 
Ralph Lenkert 
Dorothea Steiner 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- 
gin Daniela Ludwig für die Unionsfraktion. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 

Daniela Ludwig (CDU/CSU): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Wir debattieren heute zwei Themen, die nur bedingt et- 
was miteinander zu tun haben: die Nachhaltigkeitsprü- 
fung in der Gesetzesfolgenabschätzung und die Fort- 
schreibung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie. Auf den 
ersten Blick sind dies scheinbar zwei unterschiedliche 
Aspekte, die aber deutlich mehr miteinander zu tun ha- 
ben. Es geht nämlich immer um die Frage: Wie wird 
Politik nachhaltiger? 

Wenn es um die Sicherung von Nachhaltigkeitszielen 
in der Gesetzgebung geht, stehen wir in der Politik ei- 
gentlich immer vor einem Dilemma. Die Gesetzgebung 
orientiert sich zumeist an einer Legislaturperiode. Sie 
möchte innerhalb dieser Zeit Ergebnisse vorweisen. 
Auch die Bürgerinnen und Bürger erwarten zumeist rela- 
tiv schnell und kurzfristig Ergebnisse. Sie sind oftmals 
nicht bereit, mit uns den Weg einer langfristigen Per- 
spektive zu gehen. Es soll immer recht schnell etwas he- 
rauskommen. Unsere honorige Aufgabe als Beirat ist es 
nun - das ist auch Aufgabe der Nachhaltigkeitsprüfung -, 
genau dem entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeit 
im politischen Betrieb darauf zu lenken, wie Politik, Ge- 
setzentwürfe und Verordnungen nachhaltiger werden 
können. 


Wir haben unsere sogenannte Nachhaltigkeitsprü- (C) 
fung an den Anfang gestellt. Ihr müssen sich alle Gesetz- 
entwürfe und Verordnungen der Bundesregierung unter- 
werfen. Das heißt: In allen Gesetzentwürfen und 
Verordnungen, die von der Regierung kommen, müssen 
Aussagen sowohl zu den in unserer Nachhaltigkeitsstra- 
tegie niedergelegten Managementregeln enthalten sein 

(Ulrich Kelber [SPD]: Müssten!) 
als auch zu den Zielvorgaben der 21 Indikatoren. 

Es geht nicht zwingend darum, immer exakt beziffer- 
bare Aussagen zu machen. Dazu ist auch niemand bei je- 
dem Gesetzentwurf und jeder Verordnung in der Lage. 

Es geht schlicht und ergreifend immer darum, möglichst 
sorgfältig und möglichst intensiv zu den Auswirkungen 
auf die Vorgaben dieser Managementregeln und der In- 
dikatoren Stellung zu nehmen. Das heißt: Es müssen so- 
wohl positive als auch negative Auswirkungen darge- 
stellt werden. Eine gute Nachhaltigkeitsprüfung kommt 
fast nicht ohne diese beiden Aspekte aus; denn es kann 
durchaus einmal eine negative Auswirkung bei einem 
Indikator geben, die sich aber letztlich positiv auf das 
Gesamtbild des Gesetzentwurfs auswirkt. Diese Gegen- 
überstellung von positiven und negativen Aspekten hilft 
uns, in unseren Ausschussberatungen vielleicht eine 
noch breitere Entscheidungsgrundlage zu finden. 

Ich gebe gern zu: Als wir mit unserer Bewertungsar- 
beit, lieber Andreas Jung, im Beirat angefangen haben, 
mussten wir bei manchen Nachhaltigkeitsprüfungen, so- 
fern sie überhaupt vorhanden waren, manchmal ziemlich (D) 
großzügig sein, um festzustellen: Es hat zumindest eine 
Prüfung stattgefunden. Ob das richtig intensiv war oder 
nur aus einem hinzugefügten Textbaustein bestand, sei 
einmal dahingestellt. Liebe Kollegin Arndt-Brauer, wir 
haben viele Sachen herausgezogen, mussten aber auch 
feststellen: Wir haben im Prinzip mit dieser Nachhaltig- 
keitsprüfung eine Operation am offenen Herzen begon- 
nen; denn vor uns hat das niemand so wirklich prakti- 
ziert. Die Bundesregierung wurde ins kalte Wasser 
geworfen, wir als Beirat letztlich auch. Wir haben uns 
die ambitionierte Aufgabe gestellt, wirklich von Anfang 
an strikt durchzuprüfen: Wird zur Generationengerech- 
tigkeit Stellung genommen? Wird zum Umweltschutz, 
zur nachhaltigen Landwirtschaft usw. Stellung genom- 
men? Ich glaube, dass wir uns im Beirat seit Beginn der 
Legislaturperiode ordentlich gesteigert haben, sowohl 
was die Intensität unserer Arbeit als auch was die Arbeit 
der Bundesregierung im Hinblick auf die Nachhaltig- 
keitsprüfung betrifft. Die Nachhaltigkeitsprüfung ist 
nichts anderes als lebenslanges Lernen. Wir lernen bei 
jedem Gesetzentwurf und bei jeder Verordnung dazu. 

Dass Fehler passiert sind und immer noch passieren, 
ist bedauerlich. Sie werden aber verzeihbar, wenn wir 
bei unserem nächsten Anlauf merken, dass Korrekturen 
stattfinden und dass man uns ein klein wenig verinner- 
licht hat. Ich hoffe, für den einen oder anderen von uns 
zu sprechen, wenn ich sage: Es ist besser geworden, 
liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungs- 
bank, aber das ist noch deutlich steigerungsfähig. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Daniela Ludwig 

(A) Das ist das eine Thema, mit dem wir uns heute be- 
schäftigen und für das ich sehr werbe, auch unter den 
Kollegen, die nicht im Beirat sitzen. Ich empfehle, sich 
dieses Themas fraktionsübergreifend sensibler anzuneh- 
men. Ich glaube, jeder findet in seiner Fraktion den einen 
oder anderen Ansprechpartner, der einen mit großen Au- 
gen anschaut, wenn man die Themen Gesetzesfolgenab- 
schätzung und Nachhaltigkeitsprüfung in einem Satz er- 
wähnt. Wir alle haben noch Lieferbedarf, Hol- und 
Bringschuld gleichermaßen. Wir haben uns in der Ar- 
beitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion vorgenommen, die- 
ses Thema massiv anzugehen. 

Gestatten Sie mir zum Abschluss noch wenige Worte 
zum Thema Europäische Nachhaltigkeitsstrategie, das 
wir an diese Debatte angedockt haben. Es ist aus Sicht 
des Beirats - Sie merken, wir versuchen immer sehr 
konsensual zu arbeiten; das gelingt uns nicht immer, 
aber sehr häufig - absolut inakzeptabel, wenn die Euro- 
päische Kommission den Standpunkt vertritt, eine Fort- 
schreibung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie 
sei nicht erforderlich, weil die Nachhaltigkeitsstrategie 
in die Strategie Europa 2020 aufgehe. So wird kein 
Schuh draus. Die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie 
muss immer der große Rahmen für alle anderen Strate- 
gien auf europäischer Ebene sein, zum Beispiel die Lis- 
sabon-Strategie. Ich bin sehr froh, dass wir einen ge- 
meinsamen Entschließungsantrag zustande gebracht 
haben, in dem die Bundesregierung einvernehmlich auf- 
gefordert wird, auf europäischer Ebene genau in diese 
Richtung hinzuwirken und dieses Thema in Brüssel in- 
tensiv anzubringen. 

^ Im Großen und Ganzen sind wir national wie euro- 
päisch auf einem ausgesprochen guten Weg. Lassen Sie 
uns diesen Weg weitergehen. Lassen Sie uns immer bes- 
ser werden. 

Vielen herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die 
SPD-Fraktion. 

(Beifall bei der SPD) 

Ingrid Arndt-Brauer (SPD): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und 
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Parla- 
mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist am 
17. Dezember 2009 zum dritten Mal eingesetzt worden. 
Es ist unser Problem, dass wir in jeder Legislaturperiode 
neu eingesetzt werden müssen. Wir gehören noch nicht 
ganz normal dazu. Wir haben auch keinen Minister, der 
für uns zuständig ist. Wir müssen immer über den Um- 
weltausschuss hier im Plenum reden. Wir sind bisher 
also etwas stiefmütterlich behandelt worden. 

Aber wir haben Aufgaben. Diese Aufgaben beinhal- 
ten seit dieser Legislaturperiode unter anderem die Ge- 
setzesfolgenabschätzung. Das heißt, wir haben die Auf- 
gabe, zu überprüfen, ob die Bundesregierung, wenn sie 
einen Gesetzentwurf eingebracht hat, auf das Thema 


Nachhaltigkeit geachtet hat. Wir prüfen das sehr formal. (C) 
Wir haben Managementregeln, wir haben ein Konzept, 
das dahintersteht, und wir haben 21 Indikatoren, mit de- 
ren Hilfe wir überprüfen, ob irgendetwas davon berück- 
sichtigt worden ist, als ein Gesetz auf den Weg geschickt 
worden ist. 

Hier beginnt unser Problem. Wir prüfen sehr formal. 

Für die Oppositionsfraktionen darf ich sagen: Wir wür- 
den gerne auch inhaltlich prüfen. Wir würden gerne prü- 
fen, ob ein Gesetz, das auf den Weg gebracht worden ist 

- von welchem Minister auch immer -, inhaltlich wirk- 
lich auf Generationengerechtigkeit ausgerichtet worden 
ist; denn wir haben da manchmal unsere Zweifel. Wir 
versuchen immer, wie meine Vorrednerin schon ange- 
deutet hat, am Ende einen Konsens hinzubekommen. 
Deswegen steht das Thema inhaltliche Prüfung im Mo- 
ment noch ein bisschen hintan. Ich würde mir wünschen, 
dass wir das im Konsens ein bisschen verändern. 

Wir prüfen in vier Nachhaltigkeitsbereichen: Genera- 
tionengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammen- 
halt und internationale Verantwortung. Es hat sich he- 
rausgestellt - das ist Folge des Umstands, dass wir es 
hier mit einem völlig neuen Thema zu tun haben -, dass 
das Ganze verbesserungswürdig ist. Unsere Prüfungen 
sind immer noch sehr aufwendig. Ich möchte das Ver- 
fahren einmal denen erklären, die nicht dabei sind: Es 
prüfen jeweils ein Koalitionspolitiker und ein Opposi- 
tionspolitiker, ähnlich wie im Petitionsausschuss. Die 
Prüfungen verlaufen manchmal einvernehmlich, manch- 
mal strittig. Wenn strittig geprüft worden ist, wird an- 
schließend im Beirat abgestimmt. Zu diesem Zeitpunkt (D) 
sind dann alle Politiker der Koalition anwesend. Ansons- 
ten haben wir das Gefühl, dass die Koalition nicht so 
sehr an diesem Thema hängt wie die Opposition. Dieser 
Eindruck drängt sich manchmal auf, wenn nur ein Ver- 
treter der CDU dasitzt, obwohl neun dort sitzen könnten. 

Auch da sind Verbesserungen möglich. 

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Qualität, 
nicht Quantität!) 

- Quantität gegen Qualität. Gut. Bei uns geht es mit 
Qualität und Quantität. Das sollten Sie eigentlich auch 
anstreben. 

(Beifall bei der SPD - Ulrich Kelber [SPD]: 

Das ist der logische Umkehrschluss!) 

Schwierig ist die Vernetzung mit der europäischen 
Nachhaltigkeitsstrategie; das wurde schon angedeutet. 

Die praktische Umsetzung ist sehr problematisch, weil 
Eurostat zwar viele Daten erhebt, die Europäische Nach- 
haltigkeitsstrategie für die Bundesregierung in Bezug 
auf ihr Verhalten aber eigentlich keine Rolle spielt. Wir 
würden uns schon etwas anderes wünschen. Wir wün- 
schen uns entweder eine stärkere inhaltliche Verzahnung 
oder dass man das eine zur Grundlage des anderen 
macht. Ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir, wenn es 
um Generationengerechtigkeit geht, wenn es wirklich 
um die Verantwortung für nachfolgende Generationen 
geht, auf europäischer und nationaler Ebene in eine 
Richtung laufen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16587 


Ingrid Arndt-Brauer 

(A) Auf europäischer Ebene werden ganz andere Dinge 
geprüft und ganz andere Daten erhoben. Man hat das 
Gefühl, dass zwei Stränge vollkommen parallel neben- 
einander verlaufen. Das ist unbedingt zu verändern. Ich 
denke, wir müssen die Bundesregierung immer wieder 
auffordern, ihren Einfluss in Europa geltend zu machen. 
Vielleicht müssen wir so weit gehen, dass wir sagen: 
Okay, wir passen unsere nationale Nachhaltigkeitsstrate- 
gie an die europäische an. Im Moment haben wir aber 
den Eindruck, dass das Thema Nachhaltigkeit in Europa 
nur eine untergeordnete Rolle spielt. Es werden zwar 
viele Daten erhoben und Leitlinien entwickelt, man hat 
aber das Gefühl, dass Überlegungen zur Nachhaltigkeit 
auf die Europäische Politik in Wirklichkeit kaum Ein- 
fluss haben. Wir haben versucht, mit Parlamentariern in 
Kontakt zu kommen. Das ist bisher aber nicht besonders 
werthaltig gewesen. 

Ich möchte die Kollegen auffordern, in ihrem tägli- 
chen Leben und in ihrer Politik Nachhaltigkeitsüberle- 
gungen stärker zu verankern. Ich möchte aber ausdrück- 
lich auch die Regierung, die heute nur sehr marginal 
vertreten ist - da gilt vermutlich auch: Qualität vor 
Quantität 


(Ulrich Kelber [SPD]: Das Kanzleramt, das 
zuständig ist, fehlt ganz!) 


(B) 


auffordern, das Thema Nachhaltigkeit stärker in den Fo- 
kus zu rücken und dafür zu sorgen, dass wir das Thema 
Generationengerechtigkeit nicht immer nur in Reden 
hochhalten, sondern Generationengerechtigkeit als Ziel 
der Politik ausdrücklich anstreben. 

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. 

Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]) 


Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns im Beirat 
sehr bemühen, die Dinge im Konsens zu verabschieden. 
Auf dem Weg dorthin wird manchmal recht strittig dis- 
kutiert. Das wird im Rahmen der Obleuteberatungen 
aber meistens abgeräumt. Ich fände es gut, wenn wir ein- 
mal gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen 
könnten, bei dem alle Fraktionen im Titel erscheinen. 
Vielleicht können einige einmal über ihren Schatten 
springen. 


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie 
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 


Ich würde es begrüßen, wenn wir das erreichen könnten 
und auf lange Sicht Anträge im Parlament einvernehm- 
lich verabschieden könnten. Vielleicht ist das auch zu ei- 
ner anderen Tageszeit möglich, sodass uns auf den Rän- 
gen und im Fernsehen mehr zuhören und zuschauen 
können. 


Das Thema Nachhaltigkeit sollte nicht nur in Regie- 
rungserklärungen erwähnt werden, sondern auch im täg- 
lichen Leben eine Rolle spielen. Dazu möchte ich alle 
auffordern. Ansonsten wünsche ich uns weiterhin eine 
erfolgreiche Arbeit beim Thema Nachhaltigkeit. Die Ge- 
setzesfolgenabschätzung sollte nicht das Endziel sein. 


Das Endziel sollte sein: mehr nachhaltige Gesetzgebung. (C) 
Ich hoffe, da kommen wir irgendwann hin. 

Danke schön. 

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael 
Kauch das Wort. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Michael Kauch (FDP): 

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir 
befinden uns in einer Finanz- und Schuldenkrise. Wir 
haben sowohl im Bereich des Klimaschutzes als auch im 
Bereich der Biodiversität massive ökologische Pro- 
bleme. Wir stehen vor einer großen UN-Konferenz. 

20 Jahre nach der UN-Konferenz von Rio soll die Welt 
erneut das Thema Nachhaltigkeit diskutieren. Was macht 
die Europäische Kommission? Die Europäische Kom- 
mission sagt angesichts all dieser Nachhaltigkeitspro- 
bleme, vor denen wir stehen: Wir brauchen keine Nach- 
haltigkeitsstrategie. - Das ist eine abwegige Haltung der 
Europäischen Kommission, die der Deutsche Bundestag 
so nicht teilt. 

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der 

SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 
SES 90/DIE GRÜNEN) 

Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass das Auswär- ' ^ ' 
tige Amt und das Bundeskanzleramt in den Gesprächen 
mit dem Parlamentarischen Beirat deutlich gemacht ha- 
ben, dass die Europäische Nachhaltigkeitsstrategie für 
die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine wesent- 
liche Strategie ist und dass sie eben nicht durch die Stra- 
tegie „Europa 2020“ abgelöst wird. Nachhaltigkeitsstra- 
tegien brauchen einen längeren Atem als nur für die 
nächsten neun Jahre. Sie brauchen auch ein weiteres 
Spektrum als das, was in der Strategie „Europa 2020“ 
genannt ist. Die Strategie „Europa 2020“ ist wichtig, 
aber sie deckt nicht alle Bereiche ab, die für eine nach- 
haltige Entwicklung, flir Generationengerechtigkeit auf 
unserem Kontinent erforderlich sind. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Ich habe etwas zur Europäischen Kommission gesagt. 

Im Europäischen Parlament läuft dies nicht besser. Wir 
vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick- 
lung haben die zuständigen Kollegen im Europäischen 
Parlament besucht. Wir haben leise angeregt, dass ein 
solches Gremium wie das im Deutschen Bundestag, das 
fraktionsübergreifend arbeitet und sich mit den langen 
Linien von Politik abseits der Tagesdebatten beschäftigt, 
eine gute Idee auch für das Europäische Parlament wäre. 

Die fraktionsübergreifende Antwort war: Alles, was das 
Europäische Parlament macht, ist so nachhaltig, dass wir 
ein solches Gremium nicht brauchen. 

(Heiterkeit der Abg. Dr. Valerie Wilms 
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Michael Kauch 

(A) Ich glaube, dass manche Kolleginnen und Kollegen 
auch im Europäischen Parlament vielleicht ein bisschen 
von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union lernen 
könnten, zum Beispiel von Deutschland, Skandinavien, 
Großbritannien und auch einigen der südeuropäischen 
Länder, die inzwischen eine umfassende Nachhaltig- 
keitsstrategie haben. Bei uns besteht eine Nachhaltig- 
keitsstrategie nicht nur aus Blabla, wir stellen nicht nur 
ein paar Ziele auf und machen dann eine statistische 
Auswertung. Das deutsche System und das von Großbri- 
tannien und anderen Ländern hat vielmehr eine klare 
Managementorientierung und beinhaltet Strategien, 
Ziele, Indikatoren und dann auch eine Überprüfung und 
Rückkopplung, in deren Folge neue Ziele aufgestellt 
werden. Das ist aus meiner Sicht für die Europäische 
Union längst überfällig. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Frak- 
tion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Ralph Lenkert (DIE LINKE): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen 
und Kollegen! Nachhaltigkeit ist in und ein Lieblings- 

(B) wort der Bundesregierung. Als Mitglieder des Parlamen- 
tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung über- 
prüfen wir, ob es die Bundesregierung mit der 
Nachhaltigkeit wirklich ernst meint. Nachhaltigkeit be- 
schreibt eine Gesellschaft, die Wasser und andere Res- 
sourcen nur in der Menge verbraucht, wie sie im Kreis- 
lauf erneut verfügbar sind, und welche die Natur erhält, 
eine freie und gerechte Gesellschaft, die Wohlstand für 
alle erreicht. Das unterstützt die Linke. Aber müssen wir 
der Nachhaltigkeitsstrategie der Regierung deshalb zu- 
stimmen? 

Bevor ich fortfahre, sei eine kurze wichtige Frage er- 
laubt: Woher kommt eigentlich das viel bemühte Wort 
„Nachhaltigkeit“? Warum haben Bürgerinnen und Bür- 
ger, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Regierung 
und Opposition, oder auch Manager deutscher DAX-Un- 
ternehmen das Wort dauernd im Mund? Das Wort ent- 
hält den Wunsch, Entscheidungen und Produkte seien 
haltbar wie ägyptische Pyramiden nach ihrem Bau, also 
nachhaltig. Deshalb vermittelt die Verwendung des At- 
tributes „nachhaltig“ zusammen mit Vorhaben und Ge- 
setzen das gute Gefühl von Ewigkeit. Herrlich! 

Aber das Streben nach ständigem Wachstum, so wie 
es der aktuellen Wirtschaftspolitik entspricht, ist nicht 
nachhaltig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, 
Unternehmerinnen und Unternehmer, Gewerkschafterin- 
nen und Gewerkschafter und Künstlerinnen und Künst- 
ler aus aller Welt haben vor den katastrophalen Folgen 
unserer Art des Wirtschaftens gewarnt: vor der Über- 
fischung und Verschmutzung der Meere, der Verpestung 


des Klimas, der hemmungslosen Rohstoffausbeutung (C) 
und der rücksichtslosen Ausbeutung der arbeitenden Be- 
völkerung. Dies alles macht die Reichen reicher und die 
Armen ärmer. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und 
Reich fördert nachhaltig die Zerstörung der Demokratie, 
und die wachstumsgetriebene Wirtschaft vernichtet die 
Natur dauerhaft. Das alles nimmt das Kanzleramt in 
Kauf. Sie folgen nur den Interessen der Konzerne und 
deren Profitstreben. Sinkenden Reallöhnen und Alters- 
bezügen, der Rente mit 67, Hartz IV, aber auch dem Flä- 
chenverbrauch, der Verlagerung schmutziger Industrien 
in Entwicklungsländer und dem weltweit ausufernden 
Lohndumping verpasst die Regierung ein Prädikat 
„nachhaltig“. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. 

(Beifall bei der LINKEN) 

In Wahrheit ist es so, dass die Bundesregierung die 
Nachhaltigkeitsidee als Deckmantel ihrer Lobbypolitik 
missbraucht. Dadurch wird echte Nachhaltigkeit diskre- 
ditiert. In der Praxis sieht es so aus: Der Beirat bewertet, 
ob Gesetze auf Nachhaltigkeit geprüft wurden. Ob der 
Inhalt nachhaltig wirkt, spielt keine Rolle. Vorschläge im 
Parlamentarischen Beirat, die Wirkung von Gesetzen auf 
echte Nachhaltigkeit zu untersuchen, verhindern Sie. 
Deshalb kann die Regierung sogar Gesetzen, die Panzer- 
verkäufe nach Saudi-Arabien erlauben, schlechte Rege- 
lungen für die kommunale Abfallentsorgung enthalten 
und Riester-Rente und Vorratsdatenspeicherung ermög- 
lichen, einen Nachhaltigkeitsstempel verpassen. Diese 
Gesetze sind unmöglich nachhaltig. ' 

Um ein aktuelles Beispiel, was als nachhaltig durch- 
geht, zu nennen, zitiere ich Punkt 6, Nachhaltigkeitsprü- 
fung, des Gesetzentwurfes zum Euro-Rettungsschirm: 

Die Wirkungen des Gesetzes entsprechen den Vor- 
gaben zur Nachhaltigkeit. Die Notmaßnahmen der 
EFSF erhöhen zwar zunächst anteilig den Schul- 
denstand Deutschlands. In dem Maße, in dem es zu 
Rückzahlungen kommt, vermindert sich der natio- 
nale Schuldenstand allerdings wieder. Da Not- 
maßnahmen der EFSF unter strengen Auflagen . . . 
erfolgen, ... ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht 
mit einer Inanspruchnahme der Bundesrepublik 
Deutschland aus den ausgegebenen Garantien zu 
rechnen. 

Wollen Sie uns veralbern? Sagen wir unseren Kindern 
doch offen: Diese Finanzpolitik verursacht nachhaltige 
Schuldenberge, und die müsst ihr Kinder abtragen. 

Wenn Ostern, Weihnachten und der Kanzlerin Geburts- 
tag auf einen Tag fallen, dann wird Ihre Politik nachhal- 
tig- 

(Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: Was 
schlägst du denn vor? - Florian Bernschneider 
[FDP] : Überprüfen Sie doch mal Ihr Parteipro- 
gramm auf Nachhaltigkeit!) 

Die Arbeit des Parlamentarischen Beirates ist derzeit 
eher ein Alibi. Meistens gleicht sie dem Schicksal eines 
einsamen Rufers in der Wüste: Keiner nimmt sie wahr. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Ralph Lenkert 

(A) Die Linke will erreichen, dass der Beirat die Interessen 
der Menschen und der Natur gegen Finanzhaie und Pro- 
fithamster durchsetzt, und zwar durch Überprüfung der 
Gesetze. Das wäre nachhaltig. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion 
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. 

Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte 
Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr emotiona- 
len Rede des Kollegen Lenkert möchte ich den Blick 
wieder auf das Thema europäische Nachhaltigkeitsstra- 
tegie lenken; 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der CDU/CSU und der FDP) 

schauen wir einmal, wie wir da weiterkommen. Die 
Nachhaltigkeitsprüfung möchte ich nur ganz kurz an- 
sprechen; denn meine Redezeit als Vertreterin der kleins- 
ten Fraktion ist sehr kurz bemessen. 

Darüber, wie die Nachhaltigkeitsprüfung abläuft, ha- 
ben meine Vorrednerinnen, Frau Arndt-Brauer und Frau 
Ludwig, schon eine ganze Menge berichtet. Das Verfah- 
ren ist jetzt etabliert. Nach einer zähen Anfangsphase 
verlässt kaum noch ein Gesetzentwurf ohne diese Prü- 

(B) fung das Kabinett; so weit sind wir immerhin schon. 
Auch wenn da nur platt steht: „Der Gesetzentwurf ist 
nachhaltig“, haben wir schon gewisse Verbesserungen 
erzielt. Es könnte allerdings noch ein bisschen mehr 
sein. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der SPD) 

Sicherlich werden wir Probleme bekommen, wenn es 
darum geht, in eine umfassende inhaltliche Prüfung ein- 
zusteigen; schauen wir einmal. Aber auch hier werden 
sich vielleicht noch Türen öffnen. 

Wir sollten insgesamt ehrlich sein: Ist unsere Repu- 
blik nachhaltiger geworden, seitdem diese Prüfung 
durchgeführt wird? Der Beschluss zur Energiewende 
war sicherlich kein Ergebnis einer Initiative im Rahmen 
der Nachhaltigkeitsprüfung; er war essenziell notwen- 
dig. Hier hat die Nachhaltigkeitsprüfung also nichts ge- 
bracht. 

Mit dem Euro-Rettungsschirm laufen wir der Nach- 
haltigkeit stets nur hinterher. Mit einer nachhaltigen, also 
einer vorsorgenden und vorausschauenden Haushalts- 
politik und Finanzmarktregulierung wäre er wahrschein- 
lich nicht erforderlich geworden. Für eine nachhaltige 
Politik brauchen wir nicht nur eine Nachhaltigkeitsprü- 
fung, sondern auch stringente und konsequente Kon- 
zepte, mit denen wir auf diesem langen Weg, den Kol- 
lege Kauch angesprochen hat und der absolut richtig ist 
- wir dürfen uns nicht immer nur im Vierjahresrhythmus 


treiben lassen, sondern wir müssen hier etwas Länger- (C) 
fristiges entwickeln -, weiterkommen. 

Jetzt komme ich zur europäischen Nachhaltigkeits- 
strategie. Sie könnte ein solches Konzept sein. Aber was 
ist in der Praxis? Sie existiert seit nunmehr zehn Jahren. 

Für 2011 hat der Europäische Rat eine Überprüfung und 
Überarbeitung angesetzt. Es ist also an der Zeit, sich mit 
der Strategie zu beschäftigen - das haben wir im Beirat 
getan - und Bilanz zu ziehen, und zwar mithilfe des Mo- 
nitoring-Berichtes 2009 des Europäischen Statistikam- 
tes. Wir haben uns hier durch 100 Indikatoren gewühlt. 

Das war eine interessante Arbeit. Es hat schon etwas ge- 
dauert, sich hier einen Überblick zu verschaffen, aber 
wir sind fündig geworden. Es hat sich wirklich für uns 
gelohnt. Kollege Kauch hat das schon angesprochen. 

Im Ergebnis kann man sagen, dass wir in Deutschland 
mit unserer damals von Rot-Grün eingeleiteten Nachhal- 
tigkeitsstrategie, die von allen nachfolgenden Regierun- 
gen fortgeschrieben wurde, sehr weit gekommen sind. In 
Europa ist dies noch lange nicht der Fall. Dort läuft das 
alles auseinander. Der vorliegende Bericht zeigt: Es 
bleibt den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, wie 
stark sie sich für die nachhaltige Entwicklung engagie- 
ren. Das spricht nicht wirklich für das Vorhandensein ei- 
ner Strategie. 

Es kommt aber noch viel schlimmer. Wir waren in 
Brüssel zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen. 

Dort hat sich gezeigt, dass die Kommission die Strategie 
einfach nicht für erforderlich hält. Sie redet nur von ihrer 
Strategie „Europa 2020“, durch die die Welt glücklich 
wird. Die langen Linien hat sie partout nicht im Auge. (^) 

(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stimmt! 

Sehr zutreffend!) 

Die Krönung waren die Abgeordneten. Unsere lieben 
Kolleginnen und Kollegen in Brüssel hatten diesen Be- 
griff teilweise überhaupt noch nicht gehört. 

Es lohnt sich, das Thema Nachhaltigkeit ernsthaft zu 
verfolgen. Wir als rohstoffarmes Land haben hier einen 
entsprechenden Bedarf, und wir müssen unsere Intelli- 
genz für die Sicherstellung der Nachhaltigkeit einsetzen. 

Hier sind wir in Deutschland relativ gut dabei, aber es 
wäre auch sinnvoll, wenn aus Europa ein solcher Wink 
kommen würde, gerade im Hinblick auf die Vorberei- 
tung des neuen Erdgipfels nach 20 Jahren Rio. 

Was brauchen wir? Durch die europäische Nachhal- 
tigkeitsstrategie könnte deutlich mehr geboten werden. 

Bei der anstehenden Überprüfung und Überarbeitung 
müssen wir aber mehr Verbindlichkeit einfordern. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der 
CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) 

Damit es dazu kommt, müssen wir das nicht nur in der 
Europäischen Kommission behandeln, sondern wir müs- 
sen auch die Parlamente beteiligen: das Europäische Par- 
lament und auch die nationalen Parlamente. Die ganzen 
Indikatoren und Ziele müssen auch parlamentarisch ab- 
gesichert sein. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Valerie Wilms 

(A) In diesem Sinne sollten wir weitermachen. Vielleicht 
gelingt es uns ja auch, das dicke Brett Europa irgend- 
wann einmal zu durchbohren. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Der Kollege Andreas Jung hat für die Unionsfraktion 
das Wort. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Mit dem vorliegenden Bericht zeigt sich, dass wir bei 
der Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens in 
den politischen Prozess in den letzten Jahren entschei- 
dende Schritte vorangekommen sind. 

Ich will mit der Neuerung auf Initiative des Parlamen- 
tarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung in der 
letzten Legislaturperiode beginnen. Schon damals ist es 
gelungen, dass die Bundesregierung in die Gemeinsame 
Geschäftsordnung der Bundesministerien neu aufge- 
nommen hat, dass bei jedem einzelnen Gesetzentwurf 
eine Nachhaltigkeitsprüfung vorzunehmen ist, dass also 
nicht nur gesagt werden muss, welche Kosten entstehen 
und welcher Aufwand an Bürokratie entsteht, sondern 
dass in jedem einzelnen Gesetzentwurf auch gesagt wer- 
den muss, welches die Auswirkungen auf nachhaltige 

(B) Entwicklung sind. Das war ein wichtiger Punkt. 

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Ja, das muss man sagen!) 

Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass der Parlamen- 
tarische Beirat wiederum auch in dieser Legislaturpe- 
riode und somit zum dritten Mal vom Deutschen Bun- 
destag eingesetzt wurde und damit zu einem nicht mehr 
wegzudenkenden Gremium im Deutschen Bundestag ge- 
worden ist. Auch ist der Parlamentarische Beirat nun be- 
auftragt worden, die Nachhaltigkeitsprüfung der Bun- 
desregierung zu bewerten. 

Das war ein wichtiger Schritt. Davor war der Beirat 
ein Gremium, das sich allgemein mit Nachhaltigkeitsfra- 
gen auseinandergesetzt hat, das Stellungnahmen abgege- 
ben hat, das aber vom parlamentarischen Alltag losge- 
löst war. Jetzt haben wir harte Rechte. Wir haben 
Möglichkeiten, die sogar über die der Fachausschüsse 
hinausgehen, weil wir uns mit jedem einzelnen Gesetz- 
entwurf befassen können und bei jedem einzelnen Ge- 
setzentwurf sagen können: Hier stellen wir auf Rot, hier 
sehen wir Probleme, hier führen wir Kritikpunkte an. 

Das war ein wichtiger Schritt. Es ist schon gesagt 
worden: Damit leisten wir Pionierarbeit. Ich finde es be- 
merkenswert, dass es in den allermeisten Fällen gelingt, 
nicht nur fraktionsübergreifend zu diskutieren, sondern 
am Ende auch fraktionsübergreifend Stellungnahmen 
abzugeben. Es ist zum Beispiel von Frau Arndt-Brauer 
angeführt worden, dass das oftmals ein Ringen ist und 
dass das auch nicht in jedem Einzelfall gelingt. Aber wir 


sagen dann: Fraktionsübergreifend nehmen wir uns die- 
ses Themas an, fraktionsübergreifend werden wir aktiv. - 
Das ist ein Beispiel für lebendigen und hart an der Sache 
orientierten Parlamentarismus. Ich finde, auf diesem 
Wege sollten wir weitergehen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Wir stellen fest, dass das, was im Deutschen Bundes- 
tag gemacht wird, durchaus beispielgebend ist, auch 
über Deutschland hinaus. In unseren Länderparlamen- 
ten, aber auch in anderen europäischen Staaten gibt es 
ein solches Verfahren oder ein solches Gremium nicht. 
Das Europäische Parlament ist angesprochen worden. 
Ich will all das unterstreichen, was die Kollegen gesagt 
haben. Es ist nicht in Ordnung, wie auf europäischer 
Ebene mit den Nachhaltigkeitsstrategien, den Nachhal- 
tigkeitsindikatoren und den Nachhaltigkeitsinstrumenten 
umgegangen wird. Da braucht es deutliche Impulse. Ich 
bin froh, dass wir diese fraktionsübergreifend geben 
können. Wir wünschen uns, dass in Europa Nachhaltig- 
keit eine größere Rolle spielt und eine wichtigere Bedeu- 
tung erhält. 

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- 
geordneten der FDP und der LINKEN) 

Wenn ich vorher gesagt habe, dass man einerseits die 
Fortschritte sieht, die gemacht werden, dann müssen wir 
andererseits zur Kenntnis nehmen, dass das wie bei allen 
Innovationen ist: Es geht nicht von einem Tag auf den 
anderen. Deshalb gab es Anlaufschwierigkeiten und gibt 
es auch jetzt noch Verbesserungsbedarf. Die Anlauf- 
schwierigkeiten sind genannt worden. 

Wir haben zu Anfang unserer Prüfungen festgestellt, 
dass in vielen Gesetzentwürfen der Bundesregierung 
dem selbst auferlegten Erfordernis nicht in ausreichen- 
dem Maße Rechnung getragen wurde. Wir haben Stel- 
lungnahmen abgegeben und haben dann auch das Ge- 
spräch mit den Vertretern von Bundeskanzleramt und 
den Ministerien gesucht. Wir haben mittlerweile festge- 
stellt, dass sich das eingespielt hat und dass in den aller- 
meisten Gesetzentwürfen entsprechende Ausführungen 
enthalten sind. Wahr ist - das ist auch schon gesagt wor- 
den -, dass hinsichtlich der Qualität der Ausführungen 
teilweise immer noch Spielraum nach oben besteht. 
Aber wir stellen fest, dass sich hier eine ganz deutliche 
Verbesserung eingestellt hat. 

Ein anderer Punkt, über den wir hier im Plenum dis- 
kutieren sollten, wo viele Kolleginnen und Kollegen da- 
bei sind, die nicht dem Parlamentarischen Beirat ange- 
hören, betrifft uns selber. Es geht um die Frage: Wie 
gehen wir selbst, wie gehen die jeweils federführenden 
Fachausschüsse, denen wir unsere Stellungnahmen über- 
weisen, mit diesen Stellungnahmen um? Hier erkennen 
wir ganz deutliche Defizite. Das geht auch aus dem Be- 
richt hervor. 

Wir haben in insgesamt 16 Fällen, in denen eklatant 
gegen das Erfordernis einer guten Nachhaltigkeitsprüfung 
verstoßen wurde, dem federführenden Fachausschuss 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16591 


Andreas Jung (Konstanz) 

eine Stellungnahme zukommen lassen und darum gebe- 
ten, in den jeweiligen Beratungen darauf einzugehen. 
Das entspricht auch dem Erfordernis, das der Deutsche 
Bundestag in seinem Einsetzungsbeschluss postuliert 
hat, nämlich dass der federführende Ausschuss über die 
Stellungnahmen zu diskutieren und diese zu bewerten 
hat. Wir haben festgestellt, dass das nur in fünf Fällen 
tatsächlich passiert ist, in neun aber nicht. 

Deshalb möchte ich an dieser Stelle aus Anlass dieser 
Debatte noch einmal an alle Ausschüsse und Ausschuss- 
vorsitzende appellieren: Hier müssen wir gemeinsam 
besser werden. Wir wünschen uns, dass dem, was nicht 
nur wir uns vorstellen, sondern was der Deutsche Bun- 
destag gemeinsam beschlossen hat, Rechnung getragen 
wird. Darauf wollen wir in Gesprächen hinweisen. 

Wir sind aber auch der Meinung, es braucht noch ei- 
nen weiteren Schritt. Dieses Verfahren muss mit der 
konkreten Vörgehensweise, mit konkreten Anforderun- 
gen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- 
ges verankert werden. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Das ist die logische Konsequenz aus unserer gemeinsa- 
men Auffassung, dass Nachhaltigkeit eine besondere Be- 
deutung über alle Bereiche hinweg hat und kein Mode- 
thema, sondern eine Daueraufgabe ist. Deshalb gehört es 
auch formalisiert in unsere Geschäftsordnung. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP 
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege 
Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Florian Bernschneider (FDP): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Der Kollege Jung hat es gerade zu Recht gesagt: Die Im- 
plementierung der Nachhaltigkeitsprüfung in der Ge- 
meinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien war 
sicherlich ein Meilenstein für den Parlamentarischen 
Beirat. Damit es nicht bei einem Lippenbekenntnis der 
Ministerien bleibt, haben wir als Parlamentarischer Bei- 
rat ein Verfahren entwickelt, mit dem wir den Ministe- 
rien auf die Finger schauen, wenn es darum geht, wie die 
Nachhaltigkeitsprüfung umgesetzt wird. 

Mit dem vorliegenden Bericht versuchen wir nun, die 
Verfahren, die wir entwickelt haben, praxistauglicher zu 
machen und ein Stück weit zu verbessern. Obgleich ich 
allen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar dafür bin, 
wie konstruktiv die Beratungen zu diesen Verbesserun- 
gen waren, will ich nicht konkret auf die Verbesserungen 
eingehen, sondern noch einmal etwas Grundsätzliches 
sagen, was mir auch in den Beratungen mit den Bericht- 
erstattern wichtig war. 


So wichtig und sinnvoll solche Verfahrensverbesse- (C) 
rungen sind, vergrößern sie ein Spannungsverhältnis, das 
wir als Parlamentarischer Beirat durchaus ernst nehmen 
müssen. Natürlich ist es richtig, dass wir versuchen, un- 
sere Verfahren effizienter zu machen, sie zu professiona- 
lisieren und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es 
ist im Übrigen auch gut, dass der Parlamentarische Bei- 
rat mittlerweile eine eigene Sprache gefunden hat, wie er 
Dinge ausdrückt und sich über Nachhaltigkeit verstän- 
digt. 

Das alles darf aber nicht dazu führen, dass wir uns 
beim Thema Nachhaltigkeit in einer Art Elfenbeinturm 
einbauen. Nachhaltigkeit muss Grundsatz jeder politi- 
schen Entscheidung sein. Nachhaltigkeit muss im Quer- 
schnitt aller Themen verlaufen und darf nie zu einer De- 
likatesse für den Parlamentarischen Beirat werden. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 
NISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Deswegen reicht es nicht, wenn wir als Parlamentari- 
scher Beirat nur bessere und professionellere Verfahren 
finden. Wir müssen auch unsere Kolleginnen und Kolle- 
gen mit auf den Weg nehmen. Ich behaupte, uns ist das 
bisher nicht ganz so gut gelungen. Sie können heute 
Abend in der Parlamentarischen Gesellschaft ausprobie- 
ren, wie gut wir unsere Kollegen beim Thema Nachhal- 
tigkeitsprüfung schon mit auf den Weg genommen ha- 
ben, und sie fragen, was sie zur Diskussion um den 
Indikator 15 sagen, ob sie das auch aufregt, dass man da- 
mit nichts Vernünftiges abbilden kann, oder ob sie bei 
der aktuellen verkehrspolitischen Ausrichtung das Ge- 
fühl haben, dass wir die Indikatoren 4 und 11c vernünf- 
tig abbilden. 

Ich glaube, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann 
werden unsere Kolleginnen und Kollegen uns nicht ver- 
stehen. Das muss man als Parlamentarischer Beirat ernst 
nehmen. 

Ich wage noch eine These. Ich glaube, viele Kollegin- 
nen und Kollegen konzentrieren das Thema Nachhaltig- 
keit nach wie vor auf die Umweltpolitik und vernachläs- 
sigen damit die wichtigen anderen Dimensionen von 
Nachhaltigkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Deswegen freue ich mich über den klaren Handlungs- 
auftrag, den wir in der Einleitung zum Bericht gegeben 
haben. Darin heißt es: 

Es gilt daher, alle Mitglieder des Bundestages für 
die Nachhaltigkeitsprüfung und deren Bewertung 
zu sensibilisieren. 

Es ist richtig und wichtig, dass wir uns weiter auf den 
Weg machen, unsere Verfahren zu verbessern. Aber auch 
diesen Handlungsauftrag müssen wir ernst nehmen. Wir 
müssen die Kollegen für ein sehr scharfes Schwert in der 
Diskussion begeistern, nämlich die Nachhaltigkeit. Das 
gilt für die Opposition wie für die Regierungsfraktionen. 

Ich glaube, wenn uns das gelungen ist, dann erleben wir 
nicht nur im Parlamentarischen Beirat spannende Debat- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Florian Bernschneider 

(A) ten über Nachhaltigkeit, sondern in allen unseren Fach- 
ausschüssen. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Ich schließe die Aussprache. 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/6680 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung 
so beschlossen. 

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- 
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
zu der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Bei- 
rat für nachhaltige Entwicklung mit dem Titel „Europäi- 
sche Nachhaltigkeitsstrategie“. Der Ausschuss empfiehlt 
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7678, 
in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/5295 
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese 
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer 
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den 
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der 
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: 

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- 

^ ' schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu 

dem Antrag der Abgeordneten Jan Körte, 
Dr. Kirsten Tackmann, Agnes Alpers, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten - 
Kormoranmanagement einführen 

- Drucksachen 17/5378, 17/5955 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Carola Stauche 
Holger Ortei 

Dr. Christel Happach-Kasan 
Dr. Kirsten Tackmann 
Undine Kurth (Quedlinburg) 

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- 
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Franz-Josef 
Holzenkamp, Peter Altmaier, Cajus Caesar, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ 
CSU 

sowie der Abgeordneten Dr. Christel Happach- 
Kasan, Rainer Erdel, Angelika Brunkhorst, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 

Fischartenschutz voranbringen - Vordringli- 
che Maßnahmen für ein Kormoranmanage- 
ment 

- Drucksachen 17/7352, 17/7673 - 


B erichterstattung : 

Abgeordnete Cajus Caesar 
Holger Ortei 

Dr. Christel Happach-Kasan 
Dr. Kirsten Tackmann 
Cornelia Behm 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege 
Cajus Caesar für die Unionsfraktion. 

(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ 

CSU]) 

Cajus Caesar (CDU/CSU): 

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und 
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kormoran- 
management ist für uns ein ausgewogener Artenschutz. 
Wir setzen nicht auf eine Art, sondern wir setzen auf das 
Gleichgewicht in der Natur, und wir setzen auf die Ar- 
tenvielfalt. Das ist uns wichtig. Es geht darum, langfris- 
tig die Artenvielfalt zu sichern und zu entwickeln. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Es ist ganz wichtig, dass wir - ob wir über Ökologie 
oder über den Umwelt- und Klimaschutz reden - diesen 
Gleichklang, dieses Voranbringen in der Gesamtheit se- 
hen und uns hier nicht in Details verlieren. Die Union je- 
denfalls will sich dieser Herausforderung stellen. Wir 
setzen auf Kooperation und nicht auf Konfrontation. Das 
ist uns in diesem Zusammenhang besonders wichtig. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP) 

Ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht die Augen ver- 
schließt, sondern dass man schaut, was da passiert, und 
diese Problematik zur Kenntnis nimmt. 

Richtig ist, dass der Kormoran ein prominenter Vogel 
ist. ln der Tat, der Naturschutzbund hat ihn zum Vögel 
des Jahres ausgerufen, und der Kormoran hat es auch 
verdient. Jahrzehntelang hatten wir nur wenige Brut- 
paare, und es lag uns am Herzen, die Population zu ent- 
wickeln. Aber wenn diese Population aus dem Ruder 
läuft, muss man auch den Mut aufbringen, Maßnahmen 
zu ergreifen und sich diesen Herausforderungen zu stel- 
len. Deshalb sagt die Union all denjenigen Nein, die sa- 
gen: Lass es so laufen; lass es so weitergehen! Das ist 
nicht unsere Vörgehensweise. Wir wollen eine erfolgrei- 
che Erhaltung von Biodiversität. 

Zwei Jahrzehnte, besonders intensiv in den letzten 
Jahren, haben sich Wissenschaftler mit der Bestandsent- 
wicklung der Kormorane beschäftigt, und sie sind jetzt 
zu dem Ergebnis gekommen: Die Population ist über- 
höht, und sie ist insgesamt, wenn man die Artenvielfalt 
sieht, so nicht hinnehmbar und so nicht gesund. Diese 
Wissenschaftler kommen sogar zu dem Ergebnis: Wenn 
wir mehr FFH-Gebiete ausweisen und den Naturschutz 
voranbringen wollen, dann geht das nicht mit der Popu- 



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Cajus Caesar 

(A) lation, die wir jetzt haben, und deshalb müssen wir han- 
deln. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der 
SPD, der FDP und der LINKEN) 

Wir als Union jedenfalls wollen diesen wissenschaft- 
lichen Erkenntnissen Rechnung tragen. Deshalb ist es 
uns wichtig, hier ein Kormoranmanagement auf den 
Weg zu bringen, das die Dinge insgesamt betrachtet und 
das erfolgreich handelt. Der Kormoran selbst ist ein 
Fischfresser, er ist schnell, er ist hartnäckig, und er kann 
bis zu 40 Meter tief tauchen, ln größeren Gewässern 
treibt er sogar die Fischbestände zusammen - das be- 
herrscht er hervorragend - und jagt sie so lange, bis nicht 
mehr viel übrig bleibt. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Er ist noch schlimmer als der böse 

Wolf!) 

- Das sagen Sie zu Recht. Deshalb hoffe ich, dass Sie 
unserem Antrag zustimmen. - Es gibt da eine große Pro- 
blematik, die wir als Union aufgreifen wollen. Wir sehen 
die Problematik im Zusammenhang mit denjenigen, die 
Familienbetriebe haben, von denen sie leben müssen, 
und denjenigen, die Lebensqualität im ländlichen Raum 
bewahren wollen. Auf der einen Seite geht es also da- 
rum, die wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Auf der 
anderen Seite wollen wir den Fischbesatz und die Arten- 
vielfalt dort, wo wir eine intakte Natur und gesunde 
Bachläufe haben, erhalten und entwickeln. 

(B) Schauen Sie sich die Entwicklung an. 1980 gab es in 
Deutschland 800 Brutpaare, heute haben wir es mit 
130 000 Vögeln zu tun. Daran sieht man, welche Ent- 
wicklung die Kormoranpopulation genommen hat. An 
1 000 Brutpaaren allein in Nordrhein-Westfalen sieht 
man, wie rasant diese Entwicklung gewesen ist. Sie ist 
aber nicht positiv rasant gewesen, sondern negativ rasant. 
Deshalb kommen zu Recht Beschwerden wie die fol- 
gende aus der Bevölkerung: Lieber Unionsabgeordneter 
meines Wahlkreises, du musst dich kümmern. - Franz- 
Josef Holzenkamp hat mir vor wenigen Tagen gesagt: 
Cajus, wir müssen etwas tun. Setz dich ein. Wir gemein- 
sam schaffen das. - Ich denke, die Bundesregierung und 
insbesondere unser Staatssekretär Peter Bleser sowie wir 
Unionsabgeordnete werden das schaffen. Ich bin davon 
überzeugt, dass unsere Bemühungen erfolgreich sein 
werden. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Wir müssen feststellen, dass gerade im süddeutschen 
Raum die Bestände der Zugvögel stark zunehmen und es 
deshalb auch dort Handlungsbedarf gibt. Wir wollen Na- 
tionalparks und gesunde Gewässer erhalten und müssen 
deshalb tätig werden. 

Ein Kormoran ist etwa 80 bis 100 Zentimeter groß. Er 
wiegt 2 bis 3 Kilogramm. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Größer als der böse Wolf!) 


Was will ich damit sagen? Er verzehrt, um dieses Ge- (C) 
wicht zu halten, 400 bis 500 Gramm am Tag. Das ergibt 
pro Vögel und Jahr rund 160 Kilogramm. Wenn man alle 
Kormorane berücksichtigt, dann kommt man auf rund 
20 000 Tonnen täglich in Deutschland. Somit kommt 
einiges zusammen. Man darf sich nicht vorstellen, dass 
der Kormoran nur ganz große Fische frisst, also bei- 
spielsweise Forellen, die wir Menschen verzehren; er 
fängt insbesondere Jungfische und greift somit sehr stark 
in den Besatz ein. Das ist für die Artenvielfalt, aber auch 
für diejenigen, die von der gewerblichen Fischzucht le- 
ben, problematisch. 

Wir jedenfalls wollen effektive und langfristige Lö- 
sungen. Deshalb ist es uns wichtig, das Ganze im Dialog 
zu betreiben. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP und der LINKEN - Oliver 
Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit 
dem Kormoran diskutieren, wenn Sie ihn ab- 
schießen!) 

Wir wollen nicht bestimmte Gruppen an die Seite drän- 
gen. Uns liegen Gewässerqualität und Artenschutz in ih- 
rer Gesamtheit am Herzen. Es ist wichtig, dass wir den 
Bestand der einheimischen Fischarten, der als gefährdet 
gilt, wie Lachs, Äsche, Zander, Hecht, Karpfen, Meeres- 
forelle, aber auch den Aal, erhalten. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP und der LINKEN) 

Sie alle wissen, dass das Bundesamt für Naturschutz ^ 
- wenn jemand für den Naturschutz eintritt, dann ist es 
dieses Bundesamt - festgestellt hat, dass 74 Prozent der 
heimischen Rundmäuler und Fischarten als gefährdet 
oder sogar ausgestorben gelten. Daraus können wir 
schließen, dass es Handlungsbedarf gibt und wir eingrei- 
fen müssen. Das geht ganz eindeutig daraus hervor. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Wir als Union wollen, dass ein Räuber nicht mehr Spiel- 
raum bekommt, 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Räuber und Gendarm!) 

sondern wir wollen in der Tat vernünftigen Ressourcen- 
schutz betreiben und uns für Nachhaltigkeit einsetzen. 

Wenn wir das tun, sind wir auf dem richtigen Weg. 

Es ist festzustellen, dass die Fischpopulation, ob es 
sich um die in freien Gewässern oder um die in heimi- 
schen Bachläufen handelt, durch den Kormoran großen 
Schaden nimmt. Deshalb müssen wir das Gleichgewicht 
herstellen. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dinge kon- 
sequent anzugehen 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN] : Was heißt denn „konsequent“?) 

- wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie es - und den 
massiven Bestandszuwachs zurückzudrängen. Wir 
orientieren uns an dem, was Wissenschaftler und Exper- 



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Cajus Caesar 

(A) ten festgestellt haben. Wir nehmen die Populationszu- 
nahme sehr wohl zur Kenntnis, im Gegensatz zu Ihnen. 

(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das ist doch nicht wissenschaftlich, 
den Kormoran als Räuber zu bezeichnen! - 
Gegenruf des Abg. Jan Körte [DIE LINKE]: 
Doch, das ist so!) 

Jedenfalls ziehen wir daraus entsprechende Schlüsse, 
und das ist wichtig. 

Ich denke, jeder kennt in seinem Wahlkreis Gegenden 
mit idyllischen Bachläufen und gesunder Gewässerqua- 
lität, und dort können wir uns über den Fischreichtum 
und insbesondere über seltene Fische freuen. Wir als 
Union wollen den Artenschutz erhalten und entwickeln. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN - 
Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Artenschutz durch Ausrottung!) 

Es ist in der Tat wichtig, dass man nicht nur die Aspekte 
von Umwelt- und Naturschutz, sondern auch die Interes- 
sen derjenigen berücksichtigt, die ihre wirtschaftliche 
Existenz sichern müssen. Wir wollen die Familienbe- 
triebe nicht im Stich lassen. Wir denken auch an die vor 
Ort arbeitenden und lebenden Menschen und wollen sie 
einbeziehen. 

Bisher sind Schutzmaßnahmen wie das Abspannen 
und Überspannen von Wasserflächen relativ erfolglos 
geblieben, und deshalb muss man über andere Maßnah- 
men nachdenken. Die Union hat sich auch in den Län- 

(B) dern schon sehr früh damit beschäftigt. Sie hat in Schles- 
wig-Holstein eine Kormoranverordnung erlassen. Wir 
können dank unserer Bundesministerin für Ernährung, 
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, auch 
auf europäischer Ebene einige Aktivitäten vorweisen. Es 
ist zudem wichtig, dass die im Rahmen der Agrarminis- 
terkonferenz eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe 
„Kormoran“ vorankommt. 

Wir haben bereits Maßnahmen zur Abwehr fischerei- 
wirtschaftlicher Schäden ergriffen. Allerdings müssen 
diese durch entsprechende politische Maßnahmen flan- 
kiert werden, die über die Bundesländer hinaus abge- 
stimmt werden müssen. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Wie ist denn die Aus- 
sage zur Europarechtswidrigkeit in Ihrem An- 
trag zu verstehen?) 

Ich glaube, es macht wenig Sinn, wenn auf der einen 
Seite eines Bachlaufs, die zu Niedersachsen gehört, et- 
was anderes passiert als auf der anderen Seite, die zu 
Nordrhein- Westfalen gehört. Es macht daher mehr Sinn, 
wenn die Bundesregierung flankierende Maßnahmen auf 
den Weg bringt. Dazu gehören auch konkrete und um- 
setzbare Maßnahmen für ein effektives Kormoran- 
management. 

Wir jedenfalls wollen klare Lösungen, ein zügiges 
Verfahren und eine effektive Umsetzung. Wir wollen 
einen erfolgreichen Vogelschutz ebenso wie einen effek- 
tiven und erfolgreichen Fischschutz. Wir wollen eine 
ausgewogene Artenvielfalt. Wir wollen die Fischerei- 


wirtschaft nicht im Stich lassen. Wir wollen nicht nur 
über Regelungen reden, sondern auch handeln. Ich bin 
froh, dass wir als Union im Dialog sowohl mit den Fi- 
schereiverbänden als auch mit den Fischereivereinen 
und den vielen Ehrenamtlichen stehen und im Austausch 
mit den Naturschutzverbänden alles zusammenführen 
können. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, die Koalition und 
die Bundesregierung, auf einem erfolgversprechenden 
Weg sind. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Vogt 
das Wort. 

(Beifall bei der SPD) 

Ute Vogt (SPD): 

Lieber Herr Kollege Caesar, was Sie geschafft haben 
mit Ihrem Antrag, ist in der Tat eine bemerkenswerte Al- 
lianz aus Regierungskoalition und Linksfraktion. Es ist 
eine Allianz, die mit vereinten Kräften den Anglern und 
Fischern Sand in die Augen streut und auf ziemlich 
plumpe Weise den Schutz von Fischarten gegen den 
Vogelschutz ausspielt. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Sie verfallen mit Ihren Anträgen zurück in ein ziemlich 
schlichtes Denken von vorgestern. Sie teilen Arten 
einerseits in nützlich, also schützenswert, und anderer- 
seits in Nahrungskonkurrenten, also nicht schützenswert, 
ein. Diese Einteilung ist in der Tat schon lange überholt. 
Sie widerspricht nicht nur einem modernen Natur- und 
Artenschutzdenken, sondern auch der europäischen und 
unserer eigenen nationalen Gesetzgebung. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. 
Christel Happach-Kasan [FDP]: Das trifft 
nicht zu!) 

Alle Arten, ob Vögel oder Fische, sind erst einmal 
grundsätzlich in ihrem Bestand zu erhalten, und ihre Le- 
bensräume sind entsprechend zu schützen. Weder das 
Bundesnaturschutzgesetz noch die FFH-Richtlinie noch 
die Vogelschutzrichtlinie räumen einer wirtschaftlich be- 
deutenderen Art gegenüber einer anderen Art eine ge- 
wisse Vorzugsbehandlung ein. Diese Idee, die in Ihren 
Anträgen zum Ausdruck kommt, stammt allein von Ih- 
nen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD - Franz- 
Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Falsch! - Jan 
Körte [DIE LINKE]: Einfach falsch!) 

Die Wirtschaftlichkeit ist im Zusammenhang mit dem 
Artenschutz schlicht kein Kriterium. Schon gar nicht 



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Ute Vogt 

(A) wird die europaweite Reduktion des Kormoranbestandes 
um 25 Prozent, also um ein ganzes Viertel, in irgendei- 
ner Form auf europäischer Ebene gefordert oder unter- 
stützt, auch nicht, wenn Sie diese Idee euphemistisch 
verbrämen und als Kormoranmanagement tarnen. Es 
geht ja tatsächlich darum, eine Art zu reduzieren. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jan Körte 
[DIE LINKE]: Dann muss man sich damit 
vielleicht mal sachlich beschäftigen!) 

Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, fressen 
Kormorane Fische. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) 

Es ist auch nachzuvollziehen, dass sich Angler und 
Fischer darüber ärgern und dadurch gestört fühlen. Aus 
individueller Sicht kann man all das verstehen. Aber es 
gibt bereits entsprechende Möglichkeiten. Es gibt so- 
wohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene 
Ausnahmeregelungen, 

(Franz -Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ach? 

Doch?) 

nach denen Kormorane an Fischteichen vergrämt oder 
gegebenenfalls sogar abgeschossen werden dürfen. 
Diese Ausnahmeregelungen gibt es heute schon. 

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Tat- 
sächlich? - Jan Körte [DIE LINKE]: Sind Sie 
dagegen?) 

/d\ 

v ; Die Bundesländer, zumindest die meisten, machen auch 
Gebrauch von solchen Ausnahmeregelungen. Es besteht 
also keinerlei Bedarf, auf Bundesebene eine weiter ge- 
hende Regelung einzuführen. 

Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen vor Augen füh- 
ren. Nach der Analyse des von Ihnen geführten Land- 
wirtschaftsministeriums wurden im letzten Jahr in zwölf 
Bundesländern knapp 27 000 Kormorane abgeschossen. 
Das ist ja eine beträchtliche Anzahl. In Deutschland be- 
finden sich etwa 21 000 Brutpaare. Der Bestand der Kor- 
morane, die sich im Winter in Deutschland befinden, 
nämlich 51 000, wurde durch diese 27 000 Abschüsse in 
etwa halbiert. Ich finde, aufgrund dieser hohen Ab- 
schusszahlen und auch aufgrund der Entschädigungszah- 
lungen, die sehr viele Bundesländer leisten, wenn es zu 
Schäden durch Kormorane kommt, besteht kein weiterer 
Regelungsbedarf. Vor allen Dingen gibt es auch keine 
weitere Regelungsmöglichkeit. Die von Ihnen hier vor- 
gelegten Anträge sind Schaufensteranträge; denn es gibt 
in der Europäischen Union keine Mehrheit für Ihr soge- 
nanntes Kormoranmanagement. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD - Jan Körte 
[DIE LINKE]: Im Parlament schon!) 

Eine entsprechende Vorlage wurde nämlich schon mehr- 
fach abgelehnt. 

(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Wir geben jeden- 
falls nicht auf!) 


Kolleginnen und Kollegen, die SPD ist gerne bei Ih- (C) 
nen, wenn es darum geht, Fischarten zu schützen. 

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Wie 
denn? Antworten!) 

Da sind wir gerne an Ihrer Seite. Der Weg dahin - ich 
sage es Ihnen gerne noch einmal - darf aber nicht in der 
Weise beschritten werden, dass man eine andere Vogel- 
art an die Seite drängt, sondern der Weg des Fischschut- 
zes führt über die Verbesserung der Gewässerqualität 
und über die Verbesserung der Durchgängigkeit von 
Fließgewässern. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Wenn Sie es wirklich ernst meinten mit dem Fisch- 
schutz, dann müssten Sie doch Ihre Energie darauf kon- 
zentrieren, auf europäischer Ebene auf die Umsetzung 
der Wasserrahmenrichtlinie hinzuarbeiten, 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 

statt im nationalen Alleingang etwas gegen die Kormo- 
rane zu unternehmen. 

Ich jedenfalls kann für die SPD-Fraktion sagen: Wir 
halten es für unfair, 

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Mit 
alle Mann? Geschlossen?) 

wenn von Menschen gemachte Probleme beim Fischbe- 
stand und bei der Artenvielfalt von Fischen nun einzig (pj) 
und allein den Kormoranen angelastet werden. Deshalb 
wird die SPD-Fraktion die vorliegenden Anträge mit 
großer Mehrheit ablehnen. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zurufe 

von der CDU/CSU: Aha!) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat für die 
FDP-Fraktion das Wort. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und 
Kollegen! Ich freue mich außerordentlich, heute Abend 
hier zum Thema Kormoran sprechen zu dürfen; denn es 
ist mir ein Anliegen, dass wir gerade bei diesem Thema, 
dem Kormoran, zu einem sachverständigen Naturschutz 
kommen. Ich freue mich auch sehr darüber, dass ich in 
der gestrigen Ausschussberatung von einer Seite Zustim- 
mung bekommen habe, von der ich sie gar nicht erwartet 
hätte, 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

nämlich nicht nur von der CDU/CSU, sondern auch von 
der Linken sowie vom Fischereiexperten der SPD-Bun- 
destagsfraktion sowie des Deutschen Bundestages, 

Herrn Holger Ortei, 



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Dr. Christel Happach-Kasan 

(A) (Holger Ortei [SPD]: Womit habe ich das ver- 

dient?) 

und von Dr. Wilhelm Priesmeier. Ich bedanke mich ganz 
herzlich für die Zustimmung zu dem Antrag. 

(Beifall bei der FDP) 

Der Kormoran ist das Beispiel in Deutschland für er- 
folgreichen Naturschutz. Frau Kollegin Vogt, eine Vo- 
gelart mit fast 2 Millionen Exemplaren durch ein Ma- 
nagement zu reduzieren, ist völlig unmöglich. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Wie viele Exemplare in 
Deutschland?) 

Sie haben eine absolut eingeschränkte Sicht. Vor 20 Jah- 
ren war der Kormoran stark gefährdet. Heute ist er eine 
Allerweltsvogelart. Die EU-Vogelschutzrichtlinie führt 
ihn in ihren Anhängen gar nicht mehr auf. Wir haben 
neun Forderungen für eine nachhaltige Bestandsregulie- 
rung 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Was ist das denn für ein Wortunge- 
tüm?) 

aufgestellt, die offensichtlich mehrheitlich Zustimmung 
findet. 

Es ist bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kolle- 
gen, dass es trotz eines sehr eindeutigen Votums in der 
Bevölkerung Naturschützer gibt, die sich mit diesem Er- 
folg des Naturschutzes nicht zufriedengeben, sondern 
den Vogel weiterhin auch dort schützen wollen, wo da- 

(B) durch andere Arten, beispielweise Fischarten, gefährdet 
werden. 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der 
LINKEN - Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN]: Alle Vögel sind geschützt!) 

Wir leben in einer Kulturlandschaft. Es ist völlig unstrit- 
tig, dass zum Schutz der Wälder Rehwild geschossen 
wird, dass wir ein Management für Rotwild haben. Es ist 
völlig unstrittig, dass wir in unserer Kulturlandschaft 
Wildschweine bejagen. Allein bei mir im Wahlkreis hat 
es eine Verzehnfachung des Wildschweinbestandes in- 
nerhalb der letzten 30 Jahre gegeben, und natürlich wer- 
den sie bejagt. Genauso unstrittig sollte es sein, dass der 
Kormoran dort, wo er zu Schäden an autochthonen 
Fischbeständen führt, ebenfalls reguliert wird. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der LINKEN - Ulrich 
Kelber [SPD]: Es gibt weniger Kormorane als 
FDP-Mitglieder in Deutschland, das ist nicht 
viel!) 

Der Schutz autochthoner Bestände ist unser Anliegen, 
genauso wie der Artenschutz unter der Wasseroberflä- 
che. Wir wollen den Erhalt von Teichwirtschaften, ge- 
rade in FFH-Gebieten. Jeder, der ein bisschen Ahnung 
von unserer Kulturlandschaft hat, weiß, dass wir die 
Fischbestände dort nicht durch Überspannung der Teiche 
schützen können; das geht überhaupt nicht. Sie sind zu 
groß. Ich will als Schleswig-Holsteinerin natürlich die 
Fischerei am Großen Plöner See erhalten. Auch dort ist 


es nicht möglich, die Fischbestände durch Überspannen (C) 
zu schützen. 

Wer einmal mit Sabine Schwarten, der einzigen deut- 
schen Fischereimeisterin, gesprochen hat, der weiß, wie 
sehr die Fischerei unter dem Kormoran leidet. Sie hat 
Vögel geschossen und hinterher 40 cm lange Zander aus 
dem Bauch herauspräpariert. Das ist ein sehr deutliches 
Beispiel dafür, wie sehr der Fischbestand durch den Kor- 
moran gefährdet ist. 

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der 
LINKEN) 

Wir wollen - das will ich ganz deutlich sagen - mit un- 
serem Antrag auch Anerkennung gegenüber den Angle- 
rinnen und Anglern zum Ausdruck bringen, die in ihrem 
anerkannten Naturschutzverband herausragende Arbeit 
zum Schutz der Gewässer und in der Umweltbildung leis- 
ten. 


Schauen wir doch einmal in die Presse. In der Main- 
Post lesen wir unter der Überschrift „Kormoran frisst 
den Main leer“, was Willi Wingenfeld, Fischereiver- 
bandsbeauftragter, dazu sagt: 

Die reinen, selbst ernannten Vögelschützer haben 
kein Verständnis. Für die sind Fische Vogelfutter. 


- Genauso wie für Sie, Frau Vogt. - 

(Ute Vogt [SPD]: Haben Sie mich jetzt mit 
Fischfutter verglichen?) 


Nach dem Motto: Solange es Fischstäbchen gibt 
brauchen wir keine Fische draußen. 


(D) 


Das ist bemerkenswert. - In Franken sagt ein Mitarbeiter 
der unteren Naturschutzbehörde, ein Biologe, er stelle 
sich hinter die Teichwirte in seinem Land. Im Zusam- 
menhang mit der Karpfenemte in der Lewitz berichtet 
der NDR, dass der Fischer Hermann Stahl die Verluste 
auf 30 Prozent senken konnte, seit er intensiver gegen 
den größten Fischräuber, den Kormoran, Vorgehen kann. 
Früher betrugen die Verluste bis zu 75 Prozent. 

Das Bundesamt für Naturschutz führt in der Roten 
Liste der Süßwasserfische und Neunaugen aus: Eine be- 
friedigende Lösung des Kormoranproblems ist bisher 
nicht in Sicht, und zu der Frage, wie der Äsche geholfen 
werden kann, gibt es erheblichen Forschungsbedarf. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das ist nicht richtig! Der Kormoran ist 
es nämlich nicht bei der Äsche!) 

Die fachliche Meinung des Bundesnaturschutzamtes 
sollte ernst genommen werden. Es reicht nicht, zu sagen, 
dass es Umweltverbände gibt, die nicht wollen, dass et- 
was unternommen wird. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Wenn wir uns eine entsprechende Veröffentlichung 
des Bundesumweltministeriums aus dem Oktober 2011 
anschauen, sehen wir, dass auch darin der Kormoran als 
Fraßräuber benannt wurde. Ich glaube, es ist an der Zeit, 
dass wir beim Kormoran zu einem Umdenken kommen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dr. Christel Happach-Kasan 

(A) (Ulrich Kelber [SPD]: Das BfN ist gegen das 
Kormoranmanagement! Sie haben falsches 
Zeugnis abgelegt!) 

Liebe Kollegin Kurth, ich fand es schon bemerkens- 
wert, dass Sie gestern im Ausschuss erstmalig davon ge- 
sprochen haben, dass wir einen Interessenkonflikt beim 
Thema Kormoran haben. Frau Kollegin Behm hat in der 
ersten Rede zum Kormoranantrag ausgeführt, dass es 
durchaus Gewässerabschnitte geben kann, in denen tat- 
sächlich Bedarf an einem Management für bestimmte 
Arten besteht. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Der Hecht frisst auch 
andere Fische!) 

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Kormoran 
in den kiistenfemen Regionen Deutschlands, also in 
Süddeutschland, eine invasive Art ist. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Was ist denn eine invasive Art?) 

Er hat Brutbestände dort aufgebaut, wo er früher einmal 
allenfalls als Irrgast vorgekommen ist. Es ist auch klar, 
dass wir bestimmte Fischarten haben, die sich der neuen 
Situation nicht angepasst haben. Insbesondere gilt dies 
für die Äsche, aber auch für andere Fischarten. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind aufgefor- 
dert, die Akzeptanz für den Naturschutz zu erhalten. 
Dazu gehört auch, dass wir ein Management organisie- 
ren, wenn sich eine Art, wie es beim Kormoran der Fall 
ist, so stark vermehrt, dass andere Arten in ihrem Be- 
stand gefährdet sind. Es ist richtig, was der Fischereiver- 

(B) band von Brandenburg sagt: Auch Fische brauchen 
Schutz. - In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich, meinem 
Antrag zuzustimmen. 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
bei Abgeordneten der LINKEN) 

Vizepräsidentin Petra Pau: 

Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege 
Jan Körte für die Fraktion Die Linke. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Jan Körte (DIE LINKE): 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
In der Tat ergibt sich bei dieser Debatte eine etwas unge- 
wöhnliche Konstellation. Das hat mit der Tatsache zu 
tun, dass sich offenbar in mehreren Fraktionen Sachken- 
ner mit dieser Materie auseinandergesetzt haben und 
dementsprechend sinnvolle Anträge eingebracht haben. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Die Linke hat bereits im April zum Kormoranma- 
nagement einen Antrag eingebracht. Die Koalitionsfrak- 
tionen haben dann im Oktober nachgelegt und die we- 
sentlichen Punkten unseres Antrages erfreulicherweise 
bei uns abgeschrieben und übernommen. Das ist in Ord- 
nung; denn der Antrag, den wir eingebracht haben, ist 
ein sehr kluger Antrag. 

(Beifall bei der LINKEN) 


Weil Sie es fertigbringen, mit keinem Wort den An- (C) 
trag der Linken zu erwähnen, der nun wirklich sehr dif- 
ferenziert und sachlich ist, will ich diese Anmerkung 
machen: 


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Herr 
Körte, ich stimme Ihnen zu, dass es ein guter 
Antrag ist!) 

Zumindest bei dieser K-Frage hätten Sie einmal aus- 
nahmsweise sachlich und nicht ideologisch mit uns dis- 
kutieren und dem Antrag einfach zustimmen können. 
Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD - Patrick Döring [FDP]: Kor- 
moran for Kanzler!) 

Nun aber zu den Fakten. Bis auf die Grünen und bis 
auf Ute Vogt wissen alle, die sich mit diesem Thema be- 
schäftigen, dass der Kormoran ein großes Problem dar- 
stellt. 1990 gab es 5 000 Brutpaare. 2010 gab es schon 
24 000 Brutpaare. Das ist in der Tat - darüber können 
wir uns alle freuen - ein Erfolg für den Artenschutz. Das 
ist auch erst einmal in Ordnung. Aber - darüber diskutie- 
ren wir hier zu Recht - der Artenschutz endet eben nicht 
an der Wasseroberfläche, liebe Kollegen von den Grü- 
nen. Um dieses Problem geht es heute. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD und der FDP) 


Ich habe mir die Reden, die damals zu Protokoll gege- 
ben wurden, angeschaut. Den Grünen und in diesem 
Falle auch Ute Vogt sei gesagt: Was Sie in dieser Debatte 
nicht begriffen haben, ist, dass Artenschutz eben nicht 
nur für kleine, niedliche Tierchen mit Knopfaugen gilt 
- das ist Ihre Position -, sondern beispielsweise auch für 
den Aal und für die Äsche. 


(D) 


(Beifall bei der LINKEN - Ulrich Kelber 
[SPD]: Haben Sie schon einmal etwas vom 
Opferausgleich gehört?) 

Nun weiter zu den Fakten. Erstens. In einer Studie des 
Thüringer Umweltministeriums zur Kormoranüberwin- 
terung an Fließgewässern in Thüringen heißt es abschlie- 
ßend - das ist das Fazit der Wissenschaftler -: Der da- 
raus resultierende Fraßdruck auf die Äschenpopulation 
kann nicht mehr kompensiert werden. 

Zweitens. Der Kormoran frisst pro Tag - das besagen 
alle wissenschaftlichen Untersuchungen - zwischen 300 
und 500 Gramm Fisch. Das macht pro Jahr insgesamt 
zwischen 15 000 und 25 000 Tonnen. Das ist übrigens 
mehr, als die gesamte deutsche Binnenfischerei produ- 
ziert. 


Drittens. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine 
Anfrage der Linken frisst der Kormoran pro Jahr rund 
340 Tonnen des europäischen Aals, einer Art, die mitt- 
lerweile fast vollkommen ausgestorben ist. 

Viertens ein Beispiel aus Brandenburg, das schon zu 
Recht angesprochen wurde: Die dort existierenden klei- 
nen Teichwirtschaften in Form von Familienbetrieben 
- das müsste die Kollegin Behm doch wissen - hatten im 
letzten Jahr einen Verlust von 1 Million Euro bei einem 



16598 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Jan Körte 

(A) Gesamtumsatz von 3,6 Millionen Euro. Da kann man 
doch nicht einfach sagen: „Das ist uns egal“, insbeson- 
dere wenn man sich die regionale Wirtschaft auf die 
Fahnen schreibt, ln dieser Frage sind Sie schlicht un- 
glaubwürdig. 

(Beifall bei der LINKEN - Patrick Döring [FDP]: 

Das ist Ihnen doch sonst auch egal!) 

Deswegen - in dem Punkt ist unser Antrag wirklich 
besser - fordern wir, wie es bereits in Dänemark erfolg- 
reich praktiziert wurde, dass man Naturschützer, Fischer 
und Angler in diesen Prozess einbezieht. Wir fordern die 
Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen, diese 
Gruppen einzubinden. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Sozialismus gegen Kormorane!) 

Die Kollegin Tackmann hat hierzu heute eine sehr fach- 
kundige Erklärung zur Abstimmung vorgelegt. 

Ich will Ihnen eines sagen - auch das ist bereits ange- 
sprochen worden -: Der Dank sollte heute in der Tat al- 
len Naturschützern und Artenschützern gelten, aber eben 
auch den Anglern, ohne deren Besatzmaßnahmen es bei- 
spielsweise den europäischen Aal in unseren Gewässern 
gar nicht mehr geben würde. Insofern gilt ihnen der aus- 
drückliche Dank des Bundestages. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU, der SPD und der FDP) 

Es ist schon bemerkenswert, dass all diese Fakten Sie 
nicht überzeugen können. Zum Schluss möchte ich aber 

(B) doch noch eine Anmerkung zu CDU/CSU und FDP ma- 
chen. Im Gegensatz zu Ihnen entscheidet die Linke 
grundsätzlich nach Sacherwägungen. 

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der 
CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wir lesen, was in dem Antrag steht. Sie aber schauen nur 
darauf, wer den Antrag eingebracht hat. Das heißt, Sie 
sind ideologisch, und wir sind unideologisch. 

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der 
CDU/CSU und der SPD - Patrick Döring 
[FDP]: „Alle sind Ideologen, außer wir!“ - 
Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der 
SPD) 

Das ist die Wahrheit, und weil wir das nicht nur pos- 
tulieren, sondern auch machen, werden wir heute Ihrem 
Antrag selbstverständlich zustimmen, genauso wie wir 
hoffen, dass Sie - ebenfalls unideologisch und an der Sa- 
che orientiert - unserem Antrag zustimmen werden. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Dafür möchte ich gerne werben. Das wäre dann in der 
Tat ein gutes Zeichen für einen ganzheitlichen Arten- 
schutz, der in diesem Bereich dringend erforderlich ist. 

(Beifall bei der LINKEN - Ulrich Kelber 
[SPD] : Artenschutz für das Kormoranmanage- 
ment vorschieben, wo man nur den Fischern 
mit dienen möchte!) 


Vizepräsidentin Petra Pau: 

Letzte Rednerin in dieser grundsätzlichen und leiden- 
schaftlichen Debatte ist die Kollegin Undine Kurth für 
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für das Wort. - 
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Gäste auf der 
Tribüne! Das Ganze klingt ziemlich heiter; dabei ist es 
eigentlich ein relativ ernstes Thema. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- 
SES 90/DIE GRÜNEN - Franz-Josef 
Holzenkamp [CDU/CSU]: Oh ja!) 

Ich frage mich, wie oft wir hier noch über dieses 
Thema reden müssen, ehe Sie endlich einmal bereit sind, 
die Rechtslage zu akzeptieren 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

und sich damit auseinanderzusetzen, dass wir uns über 
deutsches und europäisches Naturschutzrecht unterhal- 
ten. Sie hingegen tragen emotional zum Fischartenschutz 
vor, meinen aber eigentlich wirtschaftliche Interessen. 

(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das 
stimmt nicht!) 

- Doch. 

(Patrick Döring [FDP]: Ihre Unterstellung ist 
unangemessen!) 

Natürlich stört der Artenschutz, wenn es eigentlich um 
wirtschaftliche Interessen geht. Der steht im Wege; den 
kann man nicht brauchen. Wir sollten uns endlich einmal 
klarmachen, dass man nicht jeden Konflikt zwischen 
wirtschaftlichen Interessen und dem Arten- und Natur- 
schutz mit dem Gewehr lösen kann. Das führt zu keinem 
Ergebnis. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD - Jan Körte [DIE LINKE]: 

Wer will das denn? Was für ein Quatsch!) 

Um es gleich vorwegzunehmen: Wir werden keinem 
der beiden Anträge - weder dem der Linken noch dem 
der Koalition - zustimmen. 

(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] : Gott sei 
Dank!) 

- Gott sei Dank? Sie scheinen ja selber nicht viel von Ih- 
rem Antrag zu halten, wenn Sie sagen, wir sollten ihm 
nicht zustimmen. 

(Patrick Döring [FDP]: An Sachlichkeit nicht 
zu überbieten, der Beitrag!) 

Weil ich nur relativ wenig Zeit habe, werde ich mich 
nur auf wenige Punkte konzentrieren. 

(Patrick Döring [FDP]: Noch zu viel!) 

- Das glaube ich nicht; Sie sollten besser zuhören. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16599 


Undine Kurth (Quedlinburg) 

(A) Erstens. Sie tragen immer wieder die allseits beliebte 
Forderung vor, man müsse den Fischartenschutz mit 
dem Vogelschutz gleichstellen. 

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Ge- 
nau! Bravo!) 

Ute Vogt ist darauf schon eingegangen. Sie sollten zur 
Kenntnis nehmen: Es gibt im Artenschutz gar keine Vor- 
rangregelung. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Das deutsche und das europäische Naturschutzrecht be- 
stimmen nach Daten und Fakten Schutzkategorien. An 
die haben sich alle verbindlich zu halten. Ihnen geht es 
aber gar nicht - das behaupte ich - um mehr Fischarten- 
schutz, sondern um die Ertragslage der Fischer. 

(Cajus Caesar [CDU/CSU]: Wir wollen schüt- 
zen, nicht ausrotten!) 

Das ist völlig in Ordnung. Darum muss man sich auch 
kümmern. Man muss dann aber die Instrumente einset- 
zen, die wirklich eine Verbesserung bringen. 

(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Zum 
Beispiel? Welche? - Jan Körte [DIE LINKE]: 

Zum Beispiel?) 

- Sie kennen das. Sie wissen, dass wir für die Gewässer 
wesentlich mehr tun müssen. Dort, wo Fischer wirklich 
unter extremem Druck leiden, können wir mit Aus- 
gleichsmaßnahmen ansetzen oder Sonderregelungen 
zum Tragen bringen. 

(B) (Franz -Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Wel- 

che denn?) 

- Zu denen komme ich gleich noch. 

Ihnen ist berichtet worden, dass es Eingriffsmöglich- 
keiten gibt. Es liegt nämlich nicht - das ist das einzig 
Entscheidende - im Belieben irgendeines Mitgliedstaa- 
tes, festzulegen, an welche Artenschutzregelungen er 
sich gerade halten will und welche ihm gerade nicht pas- 
sen. Das Recht ist verbindlich. Wenn Sie der Meinung 
sind, dass der Kormoran inzwischen eine Allerwelts- 
vogelart ist, 

(Patrick Döring [FDP]: Ist er!) 

wobei ich ja eher den Eindruck hatte, es sei der böse 
Wolf, dann stellen Sie doch bitte den entsprechenden 
Antrag und bringen empirische Belege, die einem sol- 
chen Antrag, nämlich den Kormoran artenschutzrecht- 
lich neu einzugruppieren, als Grundlage dienen können. 
Das wäre doch eine Variante. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Ja, bitte, Frau Happach-Kasan. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Frau Kollegin Christel Happach-Kasan, bitte schön. 


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): 

Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit zu ei- 
ner Zwischenfrage. - Sicherlich haben Sie festgestellt, 
dass die Grünen in Rheinland-Pfalz inzwischen die Um- 
weltministerin stellen und damit an einer entscheidenden 
Stelle mitwirken. Sicherlich haben Sie auch festgestellt, 
dass diese Umweltministerin erst kürzlich darauf hinge- 
wiesen hat, dass die Fischbestände an den Nebenflüssen 
von Rhein und Mosel erstmalig existenziell gefährdet 
seien. Außerdem hat sie festgestellt, dass die Zahl der 
Brutplätze für den Kormoran um ein Drittel zugenom- 
men hat. Dies hat sie als bedenklich bewertet. 

(Franz- Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Eine 
gute Ministerin!) 

Sie hat außerdem die gestiegenen Bruterfolge als alar- 
mierende Hinweise bezeichnet. Ist Ihnen dieses be- 
kannt? Wie beurteilen Sie die Bemerkungen von Frau 
Ministerin Höfken? 

(Zuruf von der SPD: Das spricht für Sach- 
kunde!) 

- Sie war bei uns im Ausschuss! 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Die Frau Ministerin wird sicherlich im nächsten 
Schritt überlegen, welche der möglichen Ausnahmerege- 
lungen, die das Naturschutz- und Artenschutzrecht vor- 
sehen, zur Anwendung kommen sollen, wenn sich jetzt 
ein kausaler Zusammenhang offenbaren würde. Ganz 
einfache Antwort! 

Ich komme zu meinem zweiten Punkt. Das, was Sie 
von der Koalition und von der Linken in Ihren Anträgen 
vortragen, ist zum Teil wirklich abenteuerlich und for- 
dert zum Rechtsbruch auf. 

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wie 
bitte? Abenteuerlich sind Sie!) 

Machen Sie sich bitte bewusst: Der Kormoran ist nach 
Art. 2, 5, 6 und 4 Abs. 2 der europäischen Vögelschutz- 
richtlinie geschützt. 

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, ja! 

Weil es nämlich angeblich so wenige davon 
gibt!) 

Daraus ergeben sich erhebliche Zugriffsverbote und ein 
prinzipielles und generelles Jagdverbot. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischen- 
frage? 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Wir können das heute Abend gerne so weiterführen. 
Von wem diesmal, bitte? 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vom Kollegen Jan Körte. 



16600 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Ja. 

(Zuruf von der CDU/CSU: Einer von links, 
eine von rechts!) 

-Naja, diese Allianz gibt’s doch gerade! 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Bitte schön. 

Jan Körte (DIE LINKE): 

Liebe Kollegin Kurth, Sie haben gerade die EU-Vö- 
gelschutzrichtlinie angesprochen. Lassen Sie mich kurz 
daraus zitieren. Dort heißt es in Art. 2: 

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maß- 
nahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fal- 
lenden Vögelarten auf einem Stand zu halten oder 
auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den 
ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen 
Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaft- 
lichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rech- 
nung getragen wird. 

Wie konstruieren Sie damit bitte einen Gegensatz 
zwischen den vorliegenden Anträgen und der geltenden 
EU-Vögelschutzrichtlinie? Das verstehe ich nicht. 

(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU und 
der FDP) 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Jetzt hat der Angler gesprochen. - Ich wollte des Wei- 
teren sagen: Alle Maßnahmen, die zu einer Eingrenzung 
oder Beeinflussung der Population führen sollten, sind 
nach § 38 Bundesnaturschutzgesetz als Eingriff zu be- 
werten. - Darauf haben Sie gerade auch abgehoben. Ein 
Eingriff, wenn es darum geht, Veränderungen vorzuneh- 
men, kann einer Verträglichkeitsprüfung unterzogen 
werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch die geplante Maß- 
nahme eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebens- 
räume des Kormorans zu erwarten ist oder der günstige 
Erhaltungszustand der Bestände gefährdet wird. 

(Jan Körte [DIE LINKE]: Da verstehe ich 
nicht den Bezug zu unseren Anträgen! - 
Franz -Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das 
habe ich nicht verstanden! - Stefan Müller 
[Erlangen] [CDU/CSU]: Was ist mit dem Er- 
haltungszustand der Bestände? - Patrick 
Döring [FDP]: Ein scharfer Schuss zur rechten 
Zeit schafft Ruhe und Gemütlichkeit! - Heiter- 
keit bei der CDU/CSU und der FDP) 

- Herr Döring, mit dieser Haltung werden Sie im Natur- 
schutz und im Artenschutz natürlich besonders weit 
kommen. Sie stellen sehr deutlich klar, in welche Rich- 
tung Ihr Denken geht, in welche Richtung Ihr Verhältnis 
zum Natur- und Artenschutz geht. 

(Beifall der Abg. Ute Vogt [SPD]) 


Wenn Sie meinen, ein scharfer Schuss zur rechten Zeit (C) 
sei das Richtige, dann ist damit auch geklärt, was das be- 
deutet, was in Ihrem Antrag steht. 

(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das ist das Niveau der FDP!) 

Ich darf Sie darauf hinweisen, dass der Verwaltungs- 
gerichtshof Baden- Württemberg im März dieses Jahres 
eine solche Vergrämungsaktion, wie sie in der Gegend 
von Radolfzell durchgeführt worden ist, für unrechtmä- 
ßig erklärt hat. Es wird zukünftig nicht mehr zu solchen 
Aktionen kommen. Es wäre gut, wenn Sie endlich ein- 
mal die Rechtslage und die Rechtsprechung zur Kennt- 
nis nähmen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Wie gesagt: Es ist kein Geheimnis, dass der Kormo- 
ran gerne und gut Fisch isst. Das weiß jeder; das haben 
wir, Frau Happach-Kasan, übrigens noch nie geleugnet. 

Wir verkennen auch nicht das Problem, das es mit Popu- 
lationen gibt, wenn sich große Kolonien bilden. Aber 
dort müssen spezifische Lösungen gefunden werden; 
man kann sie auch finden, denn das Artenschutzrecht 
gibt bereits jetzt Ausnahmemöglichkeiten her, aber eben 
keine generellen, sondern nur im in der Sache geprüften 
Einzelfall. 

Es ist doch geradezu aberwitzig, wenn wir uns hier 
hinstellen und sagen: Wir haben zwar europäisches Na- 
turschutz- und Artenschutzrecht, aber wir müssen uns 
gerade einmal nicht daran halten. Wieso glauben Sie ei- 
gentlich, dass dieser Rechtsbereich der individuellen (pj) 
Entscheidung unterliegt, während man sich an andere 
Rechtsvorschriften zu halten hat? Das ist doch nicht be- 
liebig. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie der Abg. Ute Vogt [SPD]) 

Wir haben geltendes Recht, und das ist verbindlich für 
alle. 

(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Und der An- 
trag widerspricht nicht geltendem Recht!) 

- Doch, er widerspricht geltendem Recht, denn Manage- 
mentpläne sind gar nicht möglich. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Wir machen dann Schluss. 

(Heiterkeit und Beifall) 

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN): 

Das ist wahrscheinlich auch besser, denn wir müssen 
noch oft üben, ehe Sie offensichtlich bereit sind, zu be- 
greifen, was Naturschutzrecht bedeutet. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie der Abg. Ute Vogt [SPD] - Dr. Christel 
Happach-Kasan [FDP]: Sie haben es nicht be- 
griffen!) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16601 


Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Undine Kurth. 

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- 
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- 
schaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Frak- 
tion Die Linke mit dem Titel „Ökosysteme schützen, 
Artenvielfalt erhalten - Kormoranmanagement einfüh- 
ren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- 
fehlung auf Drucksache 17/5955, den Antrag der Frak- 
tion Die Linke auf Drucksache 17/5378 abzulehnen. Wer 
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die 
Koalitionsfraktionen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- 
nen und der größte Teil der Sozialdemokraten. Gegen- 
probe! - Linksfraktion und einige Stimmen aus der so- 
zialdemokratischen Fraktion. Enthaltungen? - Keine. 
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. 

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh- 
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An- 
trag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Fischarten- 
schutz voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für ein 
Kormoranmanagement“. Der Ausschuss empfiehlt in 
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7673, 
den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 17/7352 
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- 
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, die Links- 
fraktion und einige Stimmen aus der sozialdemokrati- 
schen Fraktion. 

(Ute Vogt [SPD]: Zwei! - Ulrich Kelber 
[SPD]: Zwei, nicht „einige“!) 

- Ich korrigiere mich: zwei Stimmen. - Gegenprobe! - 
Das sind der größte Teil der Fraktion der Sozialdemokra- 
ten sowie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthal- 
tungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist ange- 
nommen. 

Ich darf noch darauf hinweisen, dass Frau Kollegin 
Dr. Kirsten Tackmann eine Erklärung zur Abstimmung 
abgegeben hat. 1 ' 

(Patrick Döring [FDP]: Aha!) 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 7 auf: 

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- 
richtung und zum Betrieb eines bundesweiten 
Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ (Hilfete- 
lefongesetz - HilfetelefonG) 

- Drucksache 17/7238 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) 

Rechtsausschuss 

Haushaltsausschuss 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. 

(Unruhe) 


- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie Ihre Auf- (C) 
merksamkeit der ersten Rednerin zum neuen Thema 
schenken würden, wäre das schön; denn es ist für die 
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Elisabeth 
Winkelmeier-Becker. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie ha- 
ben das Wort. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 
Vielen Dank für das Wort. - Nach dieser sicherlich sehr 
wichtigen Debatte um das Kormoranmanagement wen- 
den wir uns nun einem vielleicht auch nicht ganz un- 
wichtigen, einem sicherlich wichtigen gesellschaftlichen 
Thema zu, nämlich der Gewalt gegen Frauen, und der 
Frage, was wir dagegen tun können. 

Das Hilfetelefon, um das es heute geht, ist ein zentra- 
les Vorhaben der Gleichstellungspolitik in dieser Legis- 
laturperiode. Ich bin sehr froh, dass wir mit diesem Ge- 
setzentwurf, den die Frauenministerin vorgelegt hat, nun 
einen entscheidenden Schritt weitergehen, auch wenn 
wir noch nicht ganz auf der Ziellinie sind. Noch einiges 
ist in der Umsetzung und Planung zu machen. 

Mit dem Hilfetelefon erfüllen wir eine internationale 
Verpflichtung. Das Übereinkommen des Europarats zur 
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen 
und häuslicher Gewalt hat Deutschland im Frühjahr als 
eines der ersten Länder unterschrieben. Wir nehmen ei- 
nen wesentlichen Punkt heraus und setzen die Konven- 
tion um. (D) 

Zugleich erfüllen wir hiermit ein Versprechen aus 
dem Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, 
mit der Einrichtung der bundesweiten Notrufnummer ein 
Hilfesystem im Bereich Gewalt gegen Frauen zu etablie- 
ren. Außerdem erstellen wir einen Bericht zur Lage der 
Frauenhäuser, an dem das Frauenministerium ebenfalls 
arbeitet. 

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es 
wird Zeit, dass der fertig wird!) 

- Soviel ich weiß, wird er bald vorgelegt. Es wäre nicht 
schlecht gewesen, ihn vorher zu haben, aber er wird 
nachgeliefert. - Das Wichtigste ist aber nicht, dass wir 
irgendwelche Versprechen erfüllen und abstrakte Rege- 
lungen beschließen, sondern dass wir ein konkretes Hil- 
feprojekt etablieren, das Frauen in besonders gewaltbe- 
hafteten Lebenssituationen konkret hilft. 

Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in Deutsch- 
land wird zumeist unterschätzt. Wenn es nicht die Studie 
des Frauenministeriums gäbe, würde man nicht für mög- 
lich halten, dass bereits 40 Prozent aller Frauen einmal 
in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert gewesen sind, 
und zwar in unterschiedlichen Formen: angefangen bei 
der häuslichen Gewalt bis hin zur sexuellen Belästigung 
am Arbeitsplatz. Stalking, Genitalverstümmelung und 
Zwangsverheiratung sind weitere Arten der Gewalt. 

25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben in 
einer früheren oder in ihrer aktuellen Partnerschaft Ge- 


’> Anlage 2 



16602 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Elisabeth Winkelmeier-Becker 

(A) walt erfahren. Es ist also ein wirklich wichtiges Thema, 
lim das wir uns heute kümmern. 

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr richtig!) 

Diesem Problem steht eine breite Hilfestruktur gegen- 
über. Es gibt 360 Frauenhäuser und Zufluchtswohnun- 
gen, an die 500 Beratungsstellen und Notrufe sowie be- 
sondere Beratungsstellen für besondere Problemlagen, 
für Opfer von häuslicher Gewalt oder Opfer von Frauen- 
handel. Viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, aber auch 
viele Profis arbeiten in diesem Bereich. Sie engagieren 
sich besonders und tun nicht nur das, was sie vom Ar- 
beitsvertrag her zu leisten hätten, also zum Beispiel 
38,5 Stunden arbeiten, sondern sie setzen sich in der Re- 
gel auch darüber hinaus ein. Ich finde es in diesem Zu- 
sammenhang wichtig, den Mitarbeiterinnen in den Bera- 
tungsstellen und Frauenhäusern unseren Dank auszu- 
sprechen. 

(Beifall im ganzen Hause) 

Die schon angesprochene Studie zeigt - und das ist 
erschreckend -, dass in einer konkreten Notsituation nur 
20 Prozent der Frauen das Hilfeangebot überhaupt wahr- 
nehmen können. 80 Prozent, also die weitaus größte 
Zahl der betroffenen Frauen, findet das nötige Angebot 
in einer solchen Situation nicht. Das ist auch kein Wun- 
der; denn Frauenhäuser sind in der Öffentlichkeit be- 
wusst nicht präsent. Wenn man sich in einer Gewalt- 
situation befindet, hat man nicht die Zeit, das 
Telefonbuch zu wälzen oder sich zu erkundigen. Es geht 
deswegen darum, die Nummer zu kennen und zu wissen, 
, R . an wen man sich wenden kann. Ziel des neuen Angebots 
' ist es, Bedarf und Angebot auf einfache Weise besser zu- 
sammenzubringen, damit ein Weg offensteht, wenn es 
nötig ist. Daraus ergeben sich bestimmte Merkmale und 
Anforderungen, die wir an diese Helpline stellen. 

Es geht um eine Lotsenfunktion. Es geht nicht darum, 
in Konkurrenz zu treten oder selbst ein Angebot zu un- 
terbreiten, sondern es geht darum, zu vermitteln. Wir set- 
zen dazu qualifizierte Kräfte ein, die aufgrund ihrer Aus- 
bildung in der Lage sind, mit den Frauen in der kon- 
kreten Situation zu kommunizieren, auf sie einzugehen 
und ihnen zu erklären, was für sie in der jeweiligen Si- 
tuation am besten ist. Wir müssen für ein mehrsprachi- 
ges Angebot sorgen, um Frauen unterschiedlicher Her- 
kunft beraten zu können. Es muss anonym, vertraulich, 
kostenlos und - ganz wichtig - 24 Stunden an sieben Ta- 
gen in der Woche zur Verfügung stehen, also rund um 
die Uhr. 

Wir lassen uns das einiges kosten. Die Prognose, auch 
aufgrund der Erfahrung anderer Länder, ist: Wir brau- 
chen dafür ungefähr 80 bis 90 Kräfte. Wenn das Ganze 
läuft, wird das jedes Jahr etwa 6 Millionen Euro kosten. 

Das Angebot steht allen betroffenen Frauen zur Ver- 
fügung, aber auch dem Umfeld, zum Beispiel der Nach- 
barin, die Geräusche hört, der Freundin, die blaue Fle- 
cken sieht, oder dem Mitarbeiter im Jugendzentrum, der 
Anhaltspunkte dafür hat, dass ein junges Mädchen in 
den Ferien im Heimatland seiner Eltern zwangsverheira- 
tet wird. Auch diesen Menschen hilft die Helpline, auch 
sie sollen sich an die Helpline wenden. Mit diesem Ge- 


setz wird der Appell verbunden, das Hilfetelefon zu nut- 
zen, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen. 

Ganz wichtig ist aber auch, dass das Angebot aus- 
reicht, dass ein gesichertes Angebot vorhanden ist. Wir 
müssen damit rechnen, dass der Bedarf steigt, sobald Be- 
darf und Angebot besser zusammengebracht werden. 
Das müssen wir im Auge behalten. Vielleicht kann das 
Hilfetelefon dazu beitragen, den Bedarf transparenter zu 
machen. Wenn die Beraterinnen keine Angebote mehr 
aufzuweisen haben, an die sie die Frauen vermitteln kön- 
nen, dann wird die politische Diskussion darüber, ob das 
Angebot ausgeweitet werden muss oder ob es ausreicht, 
auf Basis dieser Fakten geführt werden können. 

(Beifall bei der CDU/CSU) 

Die Helpline ist ein wichtiges Signal. Sie wird helfen, 
in den Fällen den Weg aus der Gewalt zu finden, in de- 
nen er bisher nicht gesehen wird. Es ist Zeit, dass wir das 
schaffen. Die Ministerin hat dabei unsere volle Unter- 
stützung. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP 
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmeier-Becker. - 
Jetzt für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kol- 
legin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kollegin 
Rupprecht. 

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaela 
Noll [CDU/CSU]) 

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 
Wir haben einen Gesetzentwurf zur Einrichtung eines 
Hilfetelefons vorliegen. Dieser Gesetzentwurf ist not- 
wendig, wichtig und richtig. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Katja 
Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 

Wir setzen damit internationale Vorgaben um. Wir haben 
uns verpflichtet, diese Vorgaben umzusetzen. Europa 
fordert uns auf - die Kollegin Winkelmeier-Becker hat 
das schon gesagt -, ein Hilfetelefon einzurichten und da- 
für zu sorgen, dass die Nummer europaweit bekannt 
wird. Mit den Telefonnummern 110 und 112 verbinden 
wir etwas. Bei dieser neuen Telefonnummer sollte das 
ebenfalls so sein. 

Wir in Europa sollten klar sagen: Wir schützen Frauen 
vor Gewalt, vor allem vor häuslicher Gewalt. Gewalt im 
familiären Umfeld akzeptieren die Gesellschaften Euro- 
pas nicht. 

Der Europarat - ich bin Mitglied der Parlamentari- 
schen Versammlung - hat in langen, manchmal schwie- 
rigen Verhandlungen ein Übereinkommen dazu erarbei- 
tet, das in Istanbul gezeichnet wurde, auch von 
Deutschland. Ich hoffe, es gelingt uns möglichst bald, es 
zu ratifizieren. Das Übereinkommen enthält viele Maß- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Marlene Rupprecht (Tuchenbach) 

(A) nahmen, die wir umzusetzen haben. An manchen Stellen 
brauchen wir gar nichts zu machen, weil wir schon seit 
vielen Jahren Aktionspläne haben und bereits Gesetze 
verabschiedet haben. Das heißt: Wir haben schon sehr 
viel. 

An dieser Stelle möchte ich, was man als Oppositi- 
onspolitikerin selten oder eigentlich gar nicht tut, den 
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die in diesem 
Bereich im Ministerium seit vielen Jahren gut und or- 
dentlich arbeiten. Sie sind auch im Ausland als Sachver- 
ständige für diesen Bereich anerkannt. 

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP 
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs bin ich etliche Male 
angesprochen worden mit dem Tenor: Nehmt doch das 
Geld und gebt es den regionalen Netzwerken! Gebt es 
denen, die schon etwas tun! Dazu sage ich: Wenn man 
sich das nur kurz anschaut, kann man auf die Idee kom- 
men, dass das eine Möglichkeit wäre. Dieses Hilfetele- 
fon ist aber keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung 
des bereits bestehenden Hilfeangebots. Das halte ich für 
richtig. 

Was uns fehlt, ist natürlich nach wie vor eine struktu- 
rierte Finanzierung all der Angebote vor Ort. Wir sollten 
nicht auf Spenden angewiesen sein und nicht jedes Jahr 
betteln müssen. Angesichts der Haushaltslage der Kom- 
munen werden die Mittel für die Frauenhäuser und die 
Notrufe gekürzt. Das Leistungs- und Hilfeangebot wird 
reduziert. Einen Ausgleich dafür kann dieses Hilfetele- 

(B) fon nicht darstellen. Deshalb appelliere ich hier noch 
einmal an die Regierung, an den Staatssekretär, der die 
Regierung hier vertritt: Wir müssen möglichst schnell 
gemeinsam eine Länderfinanzierung hinbekommen. 
Hierbei muss der Bund den Hut aufhaben. 

Heute Mittag habe ich mir als Nichtjuristin extra noch 
einmal einen Kommentar zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grund- 
gesetz - öffentliche Fürsorge - angesehen. Da heißt es: 
Hilfsmaßnahmen sind anzubieten, nicht nur bei wirt- 
schaftlichen Notlagen, sondern auch bei Notlagen in 
neuen Lebenssachverhalten. Ich denke, da müssen wir in 
die Gänge kommen, egal wo, ob auf Bundesebene, auf 
Landesebene oder sonst wo. Nach weit über 30 Jahren 
Frauenhäusem kann es nicht sein, dass diese als freiwil- 
lige Leistung angesehen werden. Ich finde, das ist ein- 
fach unerträglich. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der FDP und der LINKEN) 

Deshalb brauchen wir die Finanzierung dieser örtli- 
chen Netzwerke und Angebote. Ich habe 20 Jahre lang 
ein Frauenhaus geleitet. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe 
manchmal nicht gewusst, wie wir es das nächste Jahr fi- 
nanzieren, obwohl ich da sehr fantasievoll bin. Diese 
Gelder zu besorgen, mit wem man sich auseinanderset- 
zen muss, damit man Geld bekommt, das kann man 
schon fast mit Prostitution vergleichen; so habe ich das 
manchmal empfunden. Für mich selbst als Person würde 
ich dies nie tun, aber für das Frauenhaus bin ich zu ver- 
schiedenen Firmen gegangen und habe um Geld gebe- 


ten. Ich habe das Geld immer zusammenbekommen. (C) 
Aber so kann es doch nicht laufen. 

Es gehört zum Regelangebot der sozialen Daseinsvor- 
sorge der Kommunen, der Länder und des Bundes. Diese 
gemeinsame Verantwortung müssen wir wahrnehmen. 

Wir können nicht immer fragen, was grundgesetzlich ist. 

Ich finde, unser Grundgesetz besagt eindeutig, dass wir 
das Vorhalten müssen, dass wir unsere Verantwortung 
für die öffentliche Fürsorge wahrnehmen und Hilfsmaß- 
nahmen anbieten müssen. Deshalb lautet mein dringen- 
der Appell: Kommen Sie damit in die Gänge! Es täte mir 
leid, wenn dies noch einmal um eine Legislaturperiode 
verzögert würde. 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Ich habe eine weitere Bitte, diesmal an dieses Parla- 
ment. Der Europarat hat eine Kampagne zum Schutz der 
Frauen vor häuslicher Gewalt gestartet. Als Mitglied der 
Parlamentarischen Versammlung des Europarats bin ich 
Koordinatorin bei dieser Kampagne. Es wäre schön, 
wenn dieses Parlament sagte: Ja, wir machen mit, und 
wir sind auch bereit, hier eine Veranstaltung durchzufüh- 
ren für den Europarat, für die Länder, die erst jetzt be- 
greifen, dass es notwendig ist, so etwas in ihrem Land 
vorzuhalten. Wir haben etwas vorzuweisen. Wir haben 
uns schon vor langem auf den Weg gemacht. Vielleicht 
gelingt es uns, nächstes Jahr hier in Berlin so eine ge- 
meinsame Veranstaltung durchzuführen. 

Ich kann Ihnen eines sagen: Es ist den Parlamentari- 
ern aus anderen Staaten ziemlich egal, wer einen Gesetz- 
entwurf geschrieben oder einen Aktionsplan aufgelegt 
hat. Sie wollen sehen, was dieses Land auf den Weg ge- 
bracht hat. Ich bin stolz, dass wir etwas geschafft haben, 
auch wenn es mühsam war. Der gravierendste Kritik- 
punkt, den der Europarat uns gegenüber geäußert hat, 
war, dass unsere Frauenhausplätze nicht sicher und nicht 
in genügender Zahl vorhanden sind. Dies müsste sich 
beheben lassen. In allen anderen Punkten wurden wir ge- 
lobt. Deshalb freue ich mich, dass auch das Hilfetelefon 
nun eingeführt wird. Es ist schön, dass dessen Nutzung 
ausgewertet werden soll und dass eine Datenbank erstellt 
werden soll. Ich hoffe, dass alle kooperieren. 

In diesem Sinne sage ich Dankeschön und wünsche 
Ihnen einen schönen Abend. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Marlene Rupprecht. - 
Jetzt für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Sibylle 
Laurischk. Bitte schön, Frau Kollegin. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Sibylle Laurischk (FDP): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ver- 
einten Nationen haben im CEDAW-Übereinkommen die 



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Sibylle Laurischk 

(A) Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung der 
Frau verlangt. Dem widmen wir uns. Das sehen wir als 
eine Aufgabe, die wir auch auf europäischer Ebene for- 
muliert haben. So hat beispielsweise der Rat der Euro- 
päischen Union in seinen Schlussfolgerungen „Beseiti- 
gung der Gewalt gegen Frauen in der Europäischen 
Union“ vom 8. März 2010 die Einrichtung einer kosten- 
losen und einheitlichen Telefonnummer für von Gewalt 
betroffene Frauen gefordert. Es ist also durchaus eine in- 
ternationale Aufgabenstellung. 

Insofern war es für uns nur folgerichtig, diese Aufga- 
benstellung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Da 
es im Koalitionsvertrag steht, wird es vor allem von den 
Frauen in der Koalitionsfraktionen gefordert. Ich erin- 
nere mich gut an die Beratung, in der wir das vereinbart 
haben; Herr Kues, auch Sie erinnern sich sicherlich da- 
ran, auch wenn Sie gerade nicht zuhören. Wir haben ge- 
sagt: Wir wollen ein Hilfetelefon. - Ich bin froh, dass es 
tatsächlich auf den Weg gebracht wird und dass uns 
heute der Gesetzentwurf vorliegt; denn das ist ein wich- 
tiges Signal. 

Wir wollen etwas gegen die häusliche bzw. familiäre 
Gewalt, besonders gegen die Gewalt, die Frauen immer 
wieder erleben, unternehmen. Dabei geht es um eine Si- 
tuation, die wir uns, glaube ich, kaum vorstellen können. 
Frauen, die geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt 
werden, die sich in großer Not nicht zu helfen wissen 
und sich voller Scham kaum jemandem öffnen, sollten 
ein Gesprächsangebot bekommen: einfach, nieder- 
schwellig, anonym, aber mit der klaren Aussage, wo sie 

(B) Hilfe finden können, wenn sie sie in Anspruch nehmen 
wollen. Das brauchen wir. 

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als ich im Rahmen 
einer Frauenhausinitiative den Wochenenddienst über- 
nommen habe. Gerade am Wochenende, wenn die Fami- 
lie beisammen ist, ist die familiäre Gewalt besonders 
heftig. Die Kinder erleben sie mit, die Frauen wissen 
sich nicht zu helfen. Wenn sie dann eine Ansprachemög- 
lichkeit haben, ist das ein erster Schritt, der aus der Ge- 
waltspirale hinausführt. 

Wir brauchen ein vielsprachiges Angebot; denn Mi- 
grantinnen, die isoliert sind und oftmals zu geringe 
Sprachkenntnisse haben, wissen sich sonst nicht zu hel- 
fen. Es ist sehr wichtig, dass sie in ihrer Muttersprache 
nach Hilfe fragen können. Das ist ein notwendiges An- 
gebot, gerade vor dem Hintergrund, dass wir die 
Zwangsverheiratung unter Strafe gestellt haben. Wir 
müssen die flankierenden Maßnahmen ernsthaft anbie- 
ten. Dies ist ein erster Schritt. 

Dass wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben können, 
ist völlig klar. Wie Sie wissen, setze ich mich sehr dafür 
ein, dass die Finanzierung von Frauenhäusern stabilisiert 
und bundesweit einheitlich geregelt wird. Da sind wir 
noch nicht so weit wie beim Hilfetelefon. Wir müssen 
Schritt für Schritt Vorgehen. Die flankierenden Maßnah- 
men sind dabei notwendig. Ich bin froh, dass wir uns 
hier verständigen und einen breiten Konsens finden 
konnten. 

Vielen Dank. 


(Beifall bei der FDR der CDU/CSU, der SPD und 
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Laurischk. - Jetzt für die 
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Cornelia Möhring. 
Bitte schön, Frau Kollegin Möhring. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Cornelia Möhring (DIE LINKE): 

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen 
und Kollegen! Auch die Fraktion Die Linke begrüßt die 
Einrichtung eines zentralen Hilfetelefons. Eine einheitli- 
che Nummer - darüber sind wir uns alle im Klaren die 
kostenfrei zur Verfügung gestellt wird und unter der 24 
Stunden am Tag jemand erreichbar ist, übernimmt eine 
sehr wichtige Lotsenfunktion. Nach Aussage der Bun- 
desregierung können bisher immerhin 80 Prozent der 
von Gewalt betroffenen Frauen nicht in unser bestehen- 
des Hilfesystem vermittelt werden. Ich finde, das ist eine 
unglaublich hohe Zahl von Frauen, die, obwohl sie drin- 
gend Hilfe brauchen, keine Hilfe erhalten. 

Ich möchte daran erinnern - Frau Laurischk und die 
anderen Vörrednerinnen haben das eindrücklich geschil- 
dert -: Von Gewalt betroffen sind Frauen aller gesell- 
schaftlichen Schichten: die Professorin genauso wie die 
Verkäuferin im Supermarkt, die Hamburgerin genauso 
wie die Migrantin. Das geht quer durch alle gesellschaft- 
lichen Schichten und Berufe. Wir haben die Zahl schon 
gehört: 40 Prozent der Frauen und Mädchen machen im 
Laufe ihres Lebens Gewalterfahrungen. Das ist eine gi- 
gantische Größenordnung und macht den Handlungsbe- 
darf im Hinblick auf einen umfangreichen Schutz der 
von Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen deutlich. 

Die Bundesregierung rechnet im Zusammenhang mit 
der Einführung des bundesweiten Hilfetelefons mit 700 
Anrufen täglich. Das sind - ich habe es ausgerechnet; 
ich könnte das jetzt nicht so schnell im Kopf - 255 500 
Anrufe jährlich. Wir sollten uns immer wieder deutlich 
machen, was für ein wichtiger Schritt es ist, wenn eine 
Betroffene tatsächlich zum Telefon greift und sagt: Ich 
brauche Hilfe. - Wir müssen uns darüber im Klaren sein: 
Sie muss dann auch schnell Hilfe vor Ort bekommen. 
Der bundesweite Notruf kann dafür natürlich nur der 
erste Anstoß sein. 

Das Ausmaß der erwarteten Anrufe macht schon 
deutlich, dass die personelle und finanzielle Ausstattung 
der bestehenden Schutzeinrichtungen und die Zahl der 
Plätze bei weitem noch nicht ausreichen. In Schleswig- 
Holstein werden zurzeit aufgrund von Kürzungen und 
Kahlschlägen Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen 
plattgemacht. Ich möchte auch hier deutlich sagen: Ich 
finde es zwar gut, dass die Bundesregierung die Vor- 
gabe, die wir von der EU bekommen haben, jetzt um- 
setzt, aber in Schleswig-Holstein und in anderen Bun- 
desländern müssen Frauenhäuser und Beratungsstellen 
schließen. Das Frauenhaus in Wedel zum Beispiel, ob- 
wohl immer voll ausgelastet, steht vor dem Aus. Auch 
der Mädchentreff in Husum, an den sich betroffene Mäd- 
chen wenden konnten und wo sie bisher immer Hilfe be- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Cornelia Möhring 

(A) kommen haben, steht vor dem Aus und kann sich nur 
noch über Spenden aufrechterhalten, ln anderen Ländern 
sieht es ähnlich aus. Ich finde, das darf nicht sein. 

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Noch einmal zurück zum Hilfetelefon. Ich möchte 
noch ein wichtiges Anliegen der örtlichen Beratungsstel- 
len und Nottelefone anbringen, das bei der Umsetzung 
des Gesetzes unbedingt beachtet werden muss. Sie pla- 
nen zwar einen jährlichen Sachstandsbericht, aber die 
erste umfassende Evaluation soll erst nach fünf Jahren 
erfolgen. Ich finde, das ist viel zu spät. 

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- 
ten der SPD) 

Bei Fragen an das Ministerium - nicht wahr, Herr 
Dr. Kues - hören wir immer wieder: Das haben wir noch 
nicht geprüft, da haben wir noch keine Ergebnisse, dazu 
können wir noch nichts sagen. - Ich finde, wir sollten in 
dieser Sache weder Herrn Dr. Kues noch uns solche 
Bandschleifen weiter zumuten. Die Evaluation muss von 
Anfang an erfolgen. 

Der noch nicht erstellte Bericht zur Lage der Frauen- 
und Kinderschutzhäuser ist schon genannt worden. Ich 
finde, zwei Jahre nachdem die Vorlage dieses Berichts 
im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, wird es tatsäch- 
lich einmal Zeit dafür. 

(B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE 
GRÜNEN) 

Eine Evaluierung erst nach fünf Jahren ist aber auch 
fachlich völlig unlogisch. Projekte dieser Art, die ja völ- 
lig sinnig und richtig sind, müssen im Verlauf, im ständi- 
gen Prozess evaluiert werden, und zwar gemeinsam mit 
den Akteurinnen vor Ort. Damit wird, wie Sie gesagt ha- 
ben, Frau Winkelmeier-Becker, Transparenz hinsichtlich 
der Frage hergestellt, wo weiterer Bedarf besteht. Denn 
durch die vorliegenden Zahlen wird deutlich: Es wird 
weiteren Bedarf geben. 

Ich fordere Sie also ausdrücklich auf: Machen Sie aus 
dieser guten Idee eines zentralen Hilfetelefons auch tat- 
sächlich eine richtig gute Sache. Sorgen Sie dafür, dass 
es für die vielen Schutzbedürftigen dann auch wirklich 
Schutz und Unterstützung geben wird. Wir sind dabei an 
Ihrer Seite. 

Vielen Dank. 

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- 
geordneten der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. - Jetzt für die 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin 
Monika Lazar. Bitte schön, Frau Kollegin. 


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen 
und Kollegen! Gewalt ist für viele Frauen immer noch 
eine bittere Realität, und zwar, wie einige Vorrednerin- 
nen schon gesagt haben, quer durch die gesamte Gesell- 
schaft. 

Konfliktsituationen wie Trennung und Scheidung er- 
höhen die Gefahr für Frauen, Opfer von Stalking, von 
körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden. Frauen 
mit Behinderung sind übrigens besonders gefährdet, be- 
sonders dann, wenn sie durch Pflege oder Assistenz in 
Abhängigkeitsstrukturen leben. Gewalt ist ein patriar- 
chalisch geprägtes Phänomen, für das wir als Sozialstaat 
eine Lösung anbieten müssen. 

Mit dem Hilfetelefongesetz setzt Deutschland die in- 
ternationalen und europäischen Verpflichtungen zum 
Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen um. Wir be- 
grüßen es, dass die Regierung jetzt so weit ist und das 
Hilfetelefongesetz auf den Weg bringt. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Allerdings bleiben noch immer Fragen offen. Im Ge- 
setzentwurf steht - Zitat -: 

Die Einrichtung und der Betrieb des Hilfetelefons 
verursachen Ausgaben zu Lasten des Bundeshaus- 
halts. ... Für die Länder und Kommunen entstehen 
unmittelbar keine Kosten. 

Ich finde es richtig, dass der Bund hier in Vorleistung 
geht, allerdings muss natürlich auch geschaut werden, 
welche Folgeleistungen hier von den Kommunen und 
den Ländern zu übernehmen sind. 

Die Koalition will dieses Angebot schaffen, da die 
Untersuchungen gezeigt haben, dass circa 80 Prozent der 
von Gewalt betroffenen Frauen noch nicht erreicht wer- 
den. Ein Grund dafür ist unter anderem die unzurei- 
chende Ausstattung des bestehenden Hilfesystems. Da- 
ran wird auch das Hilfetelefon erst einmal nichts ändern. 
Was machen nämlich diese 80 Prozent der Frauen, die 
sich dann nicht nur an das Hilfetelefon wenden, sondern 
auch an die örtlichen Hilfsstellen überwiesen werden 
sollen, wenn diese gar nicht existieren bzw. nicht ausge- 
baut werden? Deshalb ist es wichtig, dass lokale Struktu- 
ren erhalten bleiben und nicht Kürzungszwängen zum 
Opfer fallen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Deswegen sind insbesondere auch die Länder und Kom- 
munen angehalten, ebenfalls Finanzmittel zur Verfügung 
zu stellen. 

Neben der Finanzierung ist auch das Problem der 
Frauenhäuser schon angesprochen worden. Ich hoffe, 
dass wir Anfang nächsten Jahres den Bericht dazu end- 
lich diskutieren können und dass wir noch in dieser 
Wahlperiode zügig eine gemeinsame Lösung finden; 
denn in den Beratungen sowohl im Plenum als auch im 
Ausschuss gab es einen ziemlich großen Konsens. Wir 
alle würden uns freuen, wenn wir mit guten Schritten vo- 
rankämen; denn wir als Bund müssen die Linie vorgeben 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Monika Lazar 

(A) und selbstverständlich auch die Kommunen und Länder 
mit ins Boot holen. Aber für uns - das hat auch Kollegin 
Rupprecht gesagt - ist das einfach eine grundgesetzliche 
Verpflichtung. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD) 

Das Hilfetelefon soll eine Erstberatung anbieten. 
Dann soll an die örtlichen Strukturen vermittelt werden. 
Diese Lotsenfunktion setzt allerdings eine Datenbank 
voraus, die es bis jetzt noch nicht gibt. Bei deren Erstel- 
lung müssen Qualitätsstandards eingehalten werden. Es 
ist insbesondere wichtig, dass die vorhandene Expertise 
von den Frauen und den Beratungsstellen in den Ländern 
genutzt wird. Deshalb unser Aufruf: Richten Sie jetzt ei- 
nen Beirat ein, mit dem Sie gemeinsam dieses Problem 
beheben. 

Laut Gesetzentwurf ist für das Hilfetelefon ein Ar- 
beitskräftebedarf von 80 bis 90 Personen vorgesehen. 
Qualifizierte weibliche Fachkräfte werden gesucht. 
Wichtig ist allerdings auch, dass diese Fachkräfte weiter- 
hin geschult werden. Bei einem Anfall von täglich circa 
700 Anrufen ist es wichtig, dass auch Supervision ange- 
boten wird; die Mittel dafür müssen spätestens in den 
Haushaltsplan 2013 eingestellt werden. Ansonsten sind 
die Fachkräfte sehr schnell ausgebrannt und fallen ent- 
sprechend aus. 

Die mit dem Hilfetelefon angesprochene Zielgruppe 
ist sehr weitreichend, da die Erscheinungsformen von 
Gewalt sehr breit gefächert sind. Es geht um sexuali- 
(ß) sierte und häusliche Gewalt, Stalking, Genital Verstüm- 
melung und um Gewalt im Rahmen von Prostitution und 
Zwangsverheiratung. Zum letzten Thema wurde gerade 
erst eine Studie erstellt, aus der hervorgeht, wie schwie- 
rig dieser Bereich ist. 

Die Einrichtung eines Hilfetelefons ist wichtig, aber 
bitte in Zusammenarbeit mit den Fachfrauen. Es muss 
für dieses Telefon, wenn es dann so weit ist, mit einer 
Kampagne geworben werden, damit die Frauen wissen, 
dass es dieses niedrigschwellige Angebot gibt und wohin 
sie sich wenden müssen. 

Insgesamt: Wir sollten uns in den nächsten Monaten 
alle gemeinsam zusammensetzen und insbesondere für 
die betroffenen Frauen eine Lösung finden; denn wir 
machen diese Sache nicht für uns, sondern für die 
Frauen, die uns dankbar sind, wenn sie nicht nur das Hil- 
fetelefon in Anspruch nehmen können, sondern auch die 
örtlichen Strukturen. 

Danke. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der 
SPD, der FDP und der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Wir haben zu danken. - Nächster Redner für die Frak- 
tion der CDU/CSU ist unser Kollege Norbert Geis. Bitte 
schön, Kollege Norbert Geis. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 


Norbert Geis (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 
Herren! Der Widerstand gegen Gewalt ist eine gesamt- 
gesellschaftliche Aufgabe. Deswegen ist es vielleicht 
nicht verkehrt, dass hier auch einmal ein Mann das Wort 
ergreift. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und 
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Ich freue mich, dass ich zu einem Thema reden darf, das 
auf Konsens trifft, und dass es nicht immer zu einer 
streitigen Auseinandersetzung kommen muss. 

Wenn man der Statistik glauben kann, dann leben wir 
in einem ganz sicheren Land, jedenfalls in einem relativ 
sicheren Land mit Blick auf andere Länder. Aber die Sa- 
che hat auch eine andere Seite. Es ist richtig, dass bei- 
spielsweise die Jugendgewalt in unserem Land zurück- 
geht. Aber wir erleben seit 10 bis 15 Jahren, dass die 
Gewalttäter brutaler werden. Die Gewalttaten nehmen 
an Brutalität zu. Das ist eine gefährliche Tendenz. Gegen 
diese Tendenz muss es einen gesellschaftlichen Wider- 
stand geben. Deswegen ist auch diese Diskussion von 
großer Bedeutung. 

Natürlich ist dieser gesellschaftliche Konsens insbe- 
sondere bei Gewalt gegen Frauen angebracht. Wir haben 
es vorhin schon gehört: 40 Prozent - man soll es nicht 
glauben - der in Deutschland lebenden Frauen sind be- 
reits Opfer einer körperlichen oder sexuellen Gewalt ge- 
worden. Das ist eine unvorstellbar hohe Zahl. Sie ist 
auch im europäischen Vergleich außerordentlich hoch. 
Das können wir so nicht mehr länger hinnehmen. 

Es gibt natürlich Gruppen von Frauen, die der Gewalt 
besonders ausgesetzt sind. Der Weiße Ring hat festgestellt, 
dass es sich dabei um Migrantinnen handelt - das ist hier 
schon zur Sprache gekommen um Frauen, die in Asyl- 
bewerberwohnheimen leben, und um Prostituierte. 

Auch gibt es in Deutschland Gewalt gegen Frauen, 
die voll und ganz in die Gesellschaft integriert sind. Das 
ist meistens Gewalt in der Privatheit der Wohnung. Es ist 
Gewalt, die in der Regel vom Partner ausgeht und im 
Grunde genommen aus einer intimen Beziehung heraus 
entstanden ist. Sie trifft die Frauen in einer ganz beson- 
deren Weise. 

Diese Frauen wenden sich aber nicht an die zuständi- 
gen Stellen. Sie suchen keine Hilfe, obgleich zwei Drit- 
tel dieser Vorfälle, vor allen Dingen häusliche Gewalt, so 
viele und so schwere Verletzungen verursachen, dass 
manchmal sogar lebensbedrohliche Verletzungen festge- 
stellt werden. Das ist ein gefährlicher Umstand. Davor 
kann man nicht die Augen verschließen. 

Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir die- 
sen Frauen klarmachen, dass sie Hilfe in Anspruch neh- 
men sollten. Aber da es sich um einen sehr intimen Be- 
reich, nämlich die eigene Wohnung, handelt und die 
Gewalt von Personen ausgeübt wird, mit denen man zu- 
nächst einmal in einer intimen Beziehung gelebt hat, ha- 
ben diese Frauen oft Scham. Sie wagen sich nicht an die 
Öffentlichkeit oder wollen nicht, dass ihr Fall irgendwo 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Norbert Geis 

(A) bekannt wird. Deswegen sind sie auch nicht bereit, eine 
entsprechende Stelle aufzusuchen. 

Oft sind auch keine Nachbarn da, die das mitbekom- 
men würden. Die eigenen Kinder bekommen es viel- 
leicht nicht mit. So leben diese Frauen in einem Teufels- 
kreis aus Privatheit, Abhängigkeit und Gewalt, aus dem 
sie nicht mehr allein herausfinden. Da ist Hilfe von au- 
ßen notwendig, zumindest die Möglichkeit, Hilfe zu be- 
kommen. 

Ich meine, das bundesweite Hilfetelefon ist eine gute 
und vernünftige Einrichtung. Es wurde schon angespro- 
chen, dass es in den europäischen Ländern längst ver- 
breitet ist und dass wir noch ein wenig nachhinken. Es 
ist höchste Zeit, dass eine solche Einrichtung bei uns ge- 
schaffen wird. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 
bei Abgeordneten der SPD) 

Dieses Hilfetelefon muss natürlich, wie schon gesagt 
wurde, barrierefrei sein. Es muss schnell erreichbar sein. 
Wenn eine Frau anruft und wieder auflegt, weil niemand 
am Ende der Leitung ist, dann hat sie nicht den Mut, 
gleich wieder anzurufen. Sie hat schon gar nicht den 
Mut, am nächsten Morgen anzurufen. Deshalb muss am 
anderen Ende der Leitung eine wache, gut ausgebildete, 
kompetente Person sein. Es muss in der Regel eine Frau 
sein, weil sich Frauen in einer solchen Situation nicht 
gerne Männern anvertrauen. 

Es muss darauf geachtet werden, dass wir kompetente 

(B) Personen einsetzen, die auch andere Sprachen sprechen. 
Auch eine türkische Frau muss beim Hilfetelefon anru- 
fen können und eine Antwort auf Türkisch bekommen, 
wenn sie die deutsche Sprache nicht versteht. Die techni- 
sche Ausstattung muss hervorragend sein, und am Tele- 
fon müssen hervorragend ausgebildete Personen sein. 
Das muss man mit berücksichtigen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der SPD und der LINKEN) 

Ich will einen weiteren Gedanken ansprechen, der 
noch nicht richtig zur Geltung gekommen ist. Nicht nur 
die Betroffenen, sondern auch andere Personen können 
dieses Hilfetelefon in Anspruch nehmen. Das können 
Kinder oder Nachbarn sein. Jeder, der entdeckt, dass ge- 
gen eine Frau Gewalt ausgeübt wird, soll und kann die- 
ses Telefon in Anspruch nehmen. Dafür muss natürlich 
die Nummer bekannt sein. Es muss also eine entspre- 
chende Öffentlichkeitsarbeit geben, damit die bundes- 
weite Telefonnummer weithin bekannt wird und genutzt 
werden kann. 

Ich meine, dass der Gesetzentwurf eine sehr gute Ini- 
tiative der Bundesregierung bzw. der Bundesministerin 
ist. Ich kann sie nur unterstützen. 

Ich möchte zum Schluss noch einen Gedanken an- 
sprechen. Es ist richtig, dass wir solche Möglichkeiten 
haben. Aber wir müssen in einem stärkeren Maße in un- 
serer Gesellschaft eine Ächtung jeglicher Gewalt herbei- 
führen. 


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C) 

bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) 

Der Gewalttäter muss merken, dass er auf geschlossenen 
Widerstand stößt. Dieser Widerstand muss auch einmal, 
wenn es notwendig ist, handfest werden. Darauf muss 
sich der Gewalttäter ebenfalls einrichten. Ich will nun 
nicht die Gewalt auf der anderen Seite predigen - das 
will ich tatsächlich nicht aber der Gewalttäter muss 
wissen: Ich stoße auf Widerstand. Das muss gesell- 
schaftsweit in das Bewusstsein der Bevölkerung einge- 
pflanzt werden. Ich meine, dass wir vielleicht tatsächlich 
zu einer größeren Freiheit von Gewalt innerhalb der ge- 
samten Gesellschaft kommen. 

Danke schön. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. Auch der Präsi- 
dent hätte geklatscht, wenn ihm dies möglich gewesen 
wäre. 

Nächste Rednerin in unserer Debatte ist die Frau Kol- 
legin Nicole Bracht-Bendt für die Fraktion der FDP. 

Bitte schön. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Nicole Bracht-Bendt (FDP): 

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten 
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Erst einmal freut es mich, dass wir heute Abend hier für- 
einander klatschen und so stimmig miteinander sind. Ich 
wünsche mir, dass das hier häufiger vorkommt. 

Etwa jede vierte Frau in Deutschland ist mindestens 
einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch 
derzeitige oder frühere Partner geworden. Gewalt gegen 
Frauen findet alltäglich und mitten unter uns statt, und 
zwar nicht nur im sozial kritischen Milieu, sondern über- 
all. Opfer von Gewalt gegen Frauen sind häufig auch de- 
ren Kinder. Für alle Betroffenen bedeutet Gewalt meis- 
tens erhebliche psychische und gesundheitliche Folgen. 

Die Bekämpfung von Gewalt ist ein vordringliches Ziel 
der Koalition. Wir sind uns alle einig, dass hier hoher 
Handlungsbedarf besteht. Deshalb handeln wir. 

Nachdem der Bundesrat im September dem Gesetz- 
entwurf der Bundesregierung zur Einrichtung und zum 
Betrieb eines bundesweiten Hilfetelefons „Gewalt gegen 
Frauen“ zugestimmt hat, ist der Weg frei für eine kosten- 
lose bundesweite Hotline - eine Nummer, die Frauen 
rund um die Uhr wählen können, wenn sie in Not sind. 

Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich maßgeblich für 
diese Hotline starkgemacht. In Deutschland existiert be- 
reits ein Netz von Anlaufstellen für betroffene Frauen. 
Untersuchungen haben aber gezeigt, dass circa 80 Pro- 
zent der Opfer von den bestehenden Hilfsstrukturen 
nicht oder nicht früh genug erreicht werden. Eine Frau, 
die Opfer einer Gewalttat wird, braucht sofort und nicht 
zu bestimmten Öffnungszeiten unbürokratische Hilfe. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Nicole Bracht-Bendt 

(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 

der CDU/CSU) 

Die Wirksamkeit der Hotline unter Federführung des 
Familienministeriums hängt allerdings davon ab, ob sie 
auch bekannt ist. Das A und O ist deshalb eine nachhal- 
tige Öffentlichkeitsarbeit. Opfer von Gewalt müssen 
wissen, wo sie rund um die Uhr Hilfe von Experten be- 
kommen können. Es handelt sich um ein bewusst 
niedrigschwelliges, barrierefreies Hilfsangebot, das 
Frauen jederzeit und auch anonym in Anspruch nehmen 
können. Die Experten am Telefon sind eng vernetzt und 
nennen Adressen, an die sich Frauen wenden können. 

Damit fällt die Hemmschwelle für viele Frauen weg. 
Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade in kleineren Städten 
scheuen sich Frauen häufig, Hilfe in Anspruch zu neh- 
men, weil sie sich schämen. Sie wollen nicht, dass in ih- 
rem Umfeld bekannt wird, was sich hinter ihrer Woh- 
nungstür abspielt, und versuchen lange, damit allein 
fertigzuwerden. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die 
bundesweit einheitliche Nummer einen höheren Be- 
kanntheitsgrad erreicht als bisherige Einzelmaßnahmen. 
Mit dem Hilfetelefongesetz setzt die Bundesregierung 
ein weiteres Ziel des Koalitionsvertrages um. 

Ganz herzlichen Dank. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie 
der Abg. Ute Vogt [SPD]) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. - Wir ha- 
' ' ben keine weiteren Wortmeldungen mehr. So schließe 
ich die Aussprache. 

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- 
wurfs auf Drucksache 17/7238 an die in der Tagesord- 
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es 
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann 
ist die Überweisung so beschlossen. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- 
ordnungspunkt 16 a und b auf: 

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz 
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem 
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, 
Dorothea Steiner, Hans- Josef Fell, weiterer Ab- 
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN 

Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu 
Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlage- 
rung hochradioaktiver Wiederaufarbeitungs- 
abfälle verursachergerecht neu gestalten 

- Drucksachen 17/7465, 17/7677 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth 
Ute Vogt 

Angelika Brunkhorst 
Dorothee Menzner 
Sylvia Kotting-Uhl 


b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) 
Dorothee Menzner, Johanna Vöß, Eva Bulling- 
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
DIE LINKE 

CASTOR-Transport 2011 nach Gorleben stop- 
pen 

- Drucksache 17/7634 - 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre 
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin in un- 
serer Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere 
Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau 
Kollegin Maria Flachsbarth. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 
debattieren heute Abend über zwei Anträge, einen der 
Grünen und einen der Linken, bezüglich der Ende des 
Monats geplanten Castortransporte von La Hague nach 
Gorleben, die die Forderung enthalten, diese Transporte 
zu stoppen. Anlass dazu sind Strahlenmessungen des 
Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, 
Küsten- und Naturschutz, der am 15. August und am 
21. August dem niedersächsischen Umweltministerium 
mitgeteilt hat, dass der Grenzwert am Zaun des Trans- 
portbehälterlagers in Gorleben in diesem Jahr mögli- (D) 
cherweise überschritten werden könnte. Das niedersäch- 
sische Ministerium hat daraufhin den Niedersächsischen 
Landtag unterrichtet und ein fachaufsichtliches Ge- 
spräch mit der Gesellschaft für Nuklear-Service als Be- 
treiberin der Anlage geführt. Die GNS wurde aufgefor- 
dert, vorsorglich Maßnahmen vorzuschlagen, die eine 
Einhaltung des genehmigten Wertes gewährleisten. Es 
wurden Prüfungen der Messungen durch den TÜV Nord 
initiiert und weitere Messungen durch die Physikalisch- 
Technische Bundesanstalt durchgeführt. All diese Über- 
prüfungen ergaben, dass die zunächst befürchtete Über- 
schreitung des Genehmigungswertes, auch bei Einlage- 
rung der Castoren aus La Hague, wohl nicht zu erwarten 
ist. 

Das wurde vom niedersächsischen Ministerium dem 
Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags und 
im Rahmen eines bundesaufsichtlichen Gesprächs dem 
Bundesumweltministerium mitgeteilt. Anschließend 
sind wir im Umweltausschuss des Deutschen Bundesta- 
ges am 28. September und am 9. November durch Ver- 
treter des niedersächsischen Ministeriums und des Bun- 
desumweltministeriums über diesen Sachverhalt 
umfassend informiert worden. Darüber hinaus kann man 
das Ganze in den Antworten der Bundesregierung auf 
zwei Kleine Anfragen zu dieser Thematik nachlesen. 

Nun heute Abend den Eindruck zu erwecken, wie es 
bei den Anträgen der Grünen und der Linken der Fall ist, 
dass bei diesem Castortransport nach Gorleben Sicher- 
heitsbestimmungen außer Acht gelassen oder Grenz- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16609 


Dr. Maria Flachsbarth 

(A) werte gröblich verletzt würden, ist einfach grob unred- 
lich. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Ulrich Kelber [SPD]: In Niedersachsen die 
Nachdenkliche spielen und hier atomfreund- 
lich!) 

Im Gegenteil: Aufgrund der geltenden Gesetzeslage, 
also wegen der nach dem Atomgesetz vorgenommenen 
Berechnungen und Messungen sowie aufgrund des völ- 
kerrechtlichen Vertrags zwischen der Bundesrepublik 
Deutschland und der Republik Frankreich über die 
Rücknahme der wiederaufgearbeiteten Abfälle bis zum 
31. Dezember 2011, ist gar keine andere Entscheidung 
möglich als die, die der niedersächsische Umweltminis- 
ter letztendlich getroffen hat, nämlich die Genehmigung 
für die Einlagerung zu erteilen. Allerdings - auch das 
will ich sagen - sollte man bezüglich der Rücknahme 
von Abfällen aus Sellafield ab 2014 - denn aus La 
Hague kommen jetzt keine Abfälle mehr - neu nachden- 
ken, insbesondere was die Frage des Standorts betrifft. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Niedersachsen 
nimmt seine Verantwortung bezüglich der Zwischen- 
und Endlagerung radioaktiver Abfälle wahr, nicht zuletzt 
aufgrund der Geologie seines Untergrunds. Aber wir rei- 
ßen uns nicht darum, dass radioaktive Abfälle nach Nie- 
dersachsen kommen. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Nicht mehr zumindest!) 

Ich bin davon überzeugt, dass die Zwischenlagerung der 
. Castoren in einem anderen Bundesland den Dialogpro- 
zess, den die Bundesregierung bezüglich der Weiterfüh- 
rung der ergebnisoffenen Erkundung in Gorleben ini- 
tiiert hat, intensivieren könnte. Ich will es ganz deutlich 
hier sagen: Gerade nach dem Ausstieg Deutschlands aus 
der Kernenergie ist die Suche nach einem sicheren End- 
lager dringlicher denn je. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Sie ist eine nationale und gesamtgesellschaftliche Auf- 
gabe, der sich der Bund und alle Bundesländer - nicht 
nur ein Bundesland - stellen müssen. Sie stehen gemein- 
sam in der Verantwortung. 

Deshalb begrüße ich die Initiative des Bundesum- 
weltministers, in Vorbereitung auf das im Rahmen des 
Atomausstiegs angekündigte Entsorgungsgesetz Gesprä- 
che mit allen Ländern zu führen. 

Schade finde ich es, dass nur zwei von 16 Minister- 
präsidenten teilnehmen, und schade finde ich es, dass 
aus den Reihen der Opposition versucht wird, schon im 
Vorfeld das Gespräch zu diskreditieren. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Der Minister sei mit der Vorlage des Gesetzes ins 
Hintertreffen geraten, wird gesagt. Ich will Ihnen eines 
sagen: Wenn der Minister ein Gesetz vorgelegt hätte, 
dann würde genau aus dieser Richtung des Hauses der 
Vorwurf ertönen, dass der Minister Fakten schaffen will, 
bevor solche Gespräche stattgefunden haben. 


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Einen Zeitplan soll er vorlegen! - 
Ulrich Kelber [SPD]: Einen Entwurf soll er 
vorlegen und nicht zur Abstimmung spre- 
chen!) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ziemlich 
leicht, einen solch schwierigen Dialogprozess zu torpe- 
dieren, und es braucht ziemlich viel Mut, sich in ihn hi- 
neinzubegeben und die Schützengräben der Vergangen- 
heit zu verlassen. 

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Wir sollten aber nicht vergessen, dass 
ein grüner Ministerpräsident das angestoßen 
hat! - Ulrich Kelber [SPD]: Die Gesetze der 
Vergangenheit!) 

Der Bundesumweltminister und die beiden Ministerprä- 
sidenten aus Niedersachsen und aus Baden-Württemberg 
haben diesen Mut, und ich bitte Sie, dass auch der Deut- 
sche Bundestag, also wir Abgeordnete und die Fraktio- 
nen dieses Hauses, den Mut haben, die politischen 
Schaukämpfe beiseite zu lassen und wirklich gemeinsam 
diese dringliche nationale Frage 

(Ulrich Kelber [SPD]: 20 Jahre haben Sie sich 
einem Dialog verweigert! Und jetzt die ande- 
ren angreifen! Das ist eine Frechheit!) 

der Endlagerung anzugehen. 

Herzlichen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Ulrich Kelber [SPD]: Ihr dreht euch nicht um 
360 Grad, sondern um 380 Grad!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth. - Jetzt 
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere 
Kollegin Kirsten Liihmann. Bitte schön, Frau Kollegin 
Lühmann. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - 
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Aber zum Thema, Kirsten! Gerade ha- 
ben wir ja nichts zum Thema gehört!) 

Kirsten Lühmann (SPD): 

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin- 
nen! Liebe Zuhörenden! Ganz besonders begrüße ich die 
Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis Uelzen, 

(Patrick Döring [FDP]: So ein Zufall! - Ge- 
genruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD] : Wir mö- 
gen die Leute aus Uelzen im Gegensatz zu Ih- 
nen!) 

die bis zur Behandlung dieses wichtigen Themas, das sie 
natürlich auch betrifft, ausgeharrt hat. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN) 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Kirsten Lühmann 

Zitat: 

Eine Absage des geplanten Castor-Transports nach 
Gorleben würde das Land Niedersachsen Millionen 
kosten. „Wir mussten die Transportbehälter bereits 
anmieten und müssten sie auch bei einer Absage 
bezahlen“, sagte Niedersachsens Innenminister 
Uwe Schiinemann (CDU). 

Das war die Antwort auf die Forderung der Deut- 
schen Polizeigewerkschaft, den Castortransport in die- 
sem Jahr aus sachlichen Gründen abzusagen. Wenn das 
die Antwort des Innenministers ist, hat man natürlich 
den Verdacht, dass bei der Genehmigung dieses Trans- 
ports nicht wissenschaftlich begründete Sicherheitskrite- 
rien ausschlaggebend waren, sondern wirtschaftliche 
Kostenkriterien den maßgeblichen Anlass dazu gaben, 
die Genehmigung zu erteilen, und das, liebe Herren und 
Damen, ist einfach inakzeptabel. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN und der LINKEN) 

Worum geht es? - Wir haben ein Zwischenlager, das 
eine Genehmigung für eine maximale Strahlendosis hat, 
die am ungünstigsten Messpunkt 0,3 Millisievert im Jahr 
nicht überschreiten darf. Wir haben Messungen, die Fol- 
gendes aussagen: Wenn wir zusätzliche Castoren einla- 
gern, dann droht diese Zahl überschritten zu werden. 

Frau Flachsbarth, es ist eben nicht unbestritten, dass 
diese Messungen stimmen. Sie haben von neuen Mes- 
sungen geredet. 

(Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ 
CSU]) 

Ich würde viel lieber über neue Berechnungsmodelle re- 
den, aufgrund derer andere Zahlen herauskommen. 

Die Frage, die sich stellt, ist: Was tut die Regierung 
angesichts dieser Zahlen? 

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das habe ich 
vorgetragen, was die Regierung tut!) 

Als Erstes beruhigt sie die Bevölkerung. Ich zitiere 
wieder: 

Die von Greenpeace dargestellten Zusammen- 
hänge entbehren jeder technischen und naturwis- 
senschaftlichen Grundlage, sind somit unhaltbar . . . 

Als Nächstes haben Sie Transparenz angekündigt. Ich 
zitiere: 

Man sei froh, dass Greenpeace die Einwände jetzt 
formuliert hätte, „da die Entscheidung über den 
Castor-Transport noch nicht gefallen ist“, 

sagte eine Sprecherin der niedersächsischen Umweltmi- 
nisteriums der Berliner Zeitung. Sie würden nun geprüft. 

Aber was ist dann passiert? - Bei einer öffentlichen 
Veranstaltung im Wendland hat sich die niedersächsi- 
sche Regierung geweigert, eingeladene Experten dort 
hinzuschicken. Die hätten Transparenz herstellen kön- 
nen. 


Als eine Gruppe Bundestagsabgeordneter nach telefo- (C) 
nischer Anmeldung und der Zusage, dass sie in das Zwi- 
schenlager hineingehen könne, vor Ort war, wurde ihr 
mitgeteilt, man könne sie leider nicht hineinlassen, weil 
die Zeit für die Sicherheitsüberprüfung ihrer Personen 
nicht ausgereicht habe. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Unglaublich! Keine 
Unterstützung von euch! - Gegenruf des Abg. 

Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hör auf zu 
schreien!) 

Ich möchte nur kurz erwähnen, dass der Deutsche 
Bundestag 48 Stunden braucht, um die Sicherheitsprü- 
fung durchzuführen. Ich habe es jedoch auch schon er- 
lebt, dass er es in sechs Stunden geschafft hat. Wenn man 
so etwas weiß, dann weiß man auch, dass die Begrün- 
dung der Betreibergesellschaft an den Haaren herbeige- 
zogen ist, meine Herren und Damen. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN und der LINKEN - Zuruf des Abg. 

Ulrich Kelber [SPD]) 

Es ist unter diesen Voraussetzungen natürlich schwierig 
für uns, zu glauben, dass nichts zu verbergen ist und dass 
Transparenz hergestellt werden soll. 

Für den Fall, dass die heute vorliegenden Anträge hier 
eventuell nicht die nötige Mehrheit bekommen und es ei- 
nen Castortransport geben wird, lade ich Sie, insbeson- 
dere die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitions- 
fraktionen, herzlich ein. Die SPD wird wieder ein 
Castorcamp machen, in dem sich Polizistinnen und Poli- 
zisten mit heißem Kaffee aufwärmen können, in dem (D) 
sich die Bevölkerung an einer Suppe laben kann. Da 
können Sie einmal schauen, woher denn dieses Miss- 
trauen kommt und was Ihre Politik vor Ort bewirkt, 
meine Herren und Damen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Was mich auch verwundert, ist die Tatsache, dass die 
Betriebserlaubnis für das Zwischenlager für 40 Jahre 
und für 420 Castorbehälter erteilt wurde. Wir haben bis- 
her noch nicht einmal die Hälfte der genehmigten Be- 
triebszeit erreicht, und es ist nur ein Viertel der vorgese- 
henen Transportbehälter eingelagert. Aber schon haben 
wir Probleme mit dem festgelegten Grenzwert. Ange- 
sichts der Tatsache, dass dieser Grenzwert für die vierfa- 
che Menge an Müll ausgelegt war, frage ich mich doch: 

Ist 1995 falsch gerechnet worden, oder sind die Werte 
schöngerechnet worden? Beides ist auf alle Fälle inak- 
zeptabel. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN und der LINKEN - Dr. Georg 
Nüßlein [CDU/CSU]: Oder die Werte saldie- 
ren sich nicht einfach!) 

Ich hatte in meiner Heimatgemeinde eine Diskothek 
gehabt. In der Genehmigung war ein Lärmrichtwert ent- 
halten. Wir alle wissen, auch Lärm macht ab einer gewis- 
sen Stärke krank. Als Messungen ergaben, nachdem sich 
die Bevölkerung beschwert hatte, dass dieser Lärmgrenz- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16611 


Kirsten Lühmann 

(A) wert überschritten war, musste die Diskothek schließen. 
Es wurden Auflagen erlassen; es mussten bauliche Ver- 
änderungen vorgenommen werden. Nachdem sicherge- 
stellt worden war, dass der Lärm das zulässige Maß nicht 
überschreitet, durfte die Diskothek wieder öffnen. Ich 
frage Sie jetzt: Wieso ist das, was bei einer Diskothek in 
Bezug auf das Problem Lärm selbstverständlich ist, bei 
einem Zwischenlager in Bezug auf das Problem Strah- 
lung ganz anders? Das kann ich nicht verstehen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Darum wird die SPD dem Antrag der Grünen, die unter 
anderem fordern, den Castortransport für dieses Jahr 
auszusetzen, zustimmen. 

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, wie die 
Planungen für diesen Castortransport in diesem Jahr ge- 
laufen sind. Der ursprüngliche Termin Anfang Novem- 
ber konnte nicht eingehalten werden, weil die französi- 
sche Polizei angab, sie könne den Transport auf 
französischer Seite nicht schützen, weil sie aufgrund der 
Belastungen durch den G-20-Gipfel erst ausreichende 
Ruhezeiten brauche, bevor sie in den neuen Großeinsatz 
gehen könne. Dann gab es diverse Diskussionen. Jetzt ist 
der erste Advent als Transporttermin vorgesehen. Jede 
Person in diesem Land weiß: Erster Advent heißt Weih- 
nachtsmärkte. Einige wissen: Erster Advent ist das Wo- 
chenende mit mehreren problematischen Fußballspielen 
der Ersten bis Dritten Liga. Viele in diesem Land wissen 
inzwischen: Es gibt Probleme mit Grenzwerten. Daher 

(B) haben beide Polizeigewerkschaften, die DPolG und die 
GdP, die berechtigte Forderung gestellt, den Castortrans- 
port zu diesem Zeitpunkt auszusetzen. 

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN und der LINKEN - Patrick Döring 
[FDP]: Das sind doch Beamte!) 

Wenn Sie sagen, diese Bedenken seien nicht gerecht- 
fertigt, möchte ich Ihnen kurz die Situation bei einem 
normalen Castortransport schildern. Einige Polizeibe- 
amte und Polizeibeamtinnen tragen persönliche Strah- 
lenmessgeräte. Aufgrund verschiedener technischer Pro- 
bleme zeigen die aber erst Werte an, die deutlich über 
den Grenzwerten liegen. Darum gibt es auch eine An- 
weisung über maximale Aufenthaltszeiten im Nahbe- 
reich des Castors oder des Zwischenlagers. Wir haben es 
aber oft erlebt, dass die Einsatzlage es nicht zulässt, 
diese Zeiten einzuhalten. Ich persönlich habe erlebt, dass 
Kollegen die dreifache Zeit in unmittelbarer Nähe des 
Castortransportes verbringen mussten, weil eine Ablö- 
sung nicht möglich war. Jetzt haben wir Hinweise auf 
mögliche zusätzliche Belastung. Ich verstehe die Forde- 
rungen der Gewerkschaften. Eigentlich sollte es unser 
aller Anliegen sein, dass wir den transportbegleitenden 
Polizeibeamten nur die unvermeidbare Belastung zumu- 
ten und nicht noch zusätzliche. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Präsident Sarkozy hat sich schützend vor seine Poli- 
zei gestellt und ihr ausreichend Erholungszeiten ermög- 


licht. Ich finde, es würde Frau Merkel gut anstehen, (C) 
wenn sie bei der Frage möglicher zusätzlicher Belastun- 
gen für die Gesundheit der Bevölkerung und der Polizei 
sich genauso fürsorglich verhalten würde wie ihr franzö- 
sischer Kollege und den Castortransport 2011 verschie- 
ben würde. 

(Beifall bei der SPD - Patrick Döring [FDP]: 

Wohin damit? - Dr. Georg Nüßlein [CDU/ 

CSU]: Die Demonstranten sollten fürsorglich 
sein!) 

Ich befürchte allerdings, dass ich dieses Zeichen von 
Kraft und Entscheidungsfähigkeit in dieser Regierung 
nicht nur bei der Kanzlerin vergeblich suche. 

Danke schön. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Liihmann. - Jetzt für die 
Fraktion der FDP unsere Kollegin Angelika Brunkhorst. 

Bitte schön, Frau Kollegin Brunkhorst. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Angelika Brunkhorst (FDP): 

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! 

Wie in jedem Jahr geht es darum, radioaktive Abfälle zu- 
rückzunehmen, die die Franzosen in La Hague aus abge- 
brannten Kernbrennstäben aus deutschen Kernkraftwer- 
ken aufbereitet haben. Das Entsorgungskonzept voran- 
gegangener Bundesregierungen sah vor, den noch nutz- 
baren Kernbrennstoff aus den abgebrannten Brennele- 
menten wiederaufzuarbeiten und nur das zurückblei- 
bende Abfallgebinde in den Castoren zentral in einem 
Zwischenlager, dem sogenannten Transportbehälterlager 
in Gorleben, zu lagern. 

Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde die 
Wiederaufarbeitung verboten und die dezentrale Zwi- 
schenlagerung der abgebrannten Brennstäbe an den 
Kernkraftwerksstandorten vorgeschrieben. Anstelle von 
zwei bzw. drei zentralen Lagern haben wir nunmehr 15 
dezentrale Zwischenlager. Aber einzig und allein das 
Transportbehälterlager in Gorleben hat eine Genehmi- 
gung, die Abfälle aus der Wiederaufbereitungsanlage in 
La Hague überhaupt aufzunehmen. 

Der Castortransport Ende November nach Gorleben 
ist erforderlich; denn wir sind zur Rücknahme des deut- 
schen Atommülls rechtlich, aber vor allen Dingen auch 
moralisch verpflichtet. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Ich kann das Gejammer, insbesondere der Griinen- 
Fraktion, hier nicht so ganz nachvollziehen; denn diese 
besondere Genehmigungssituation ist Ihnen längst be- 
kannt. Sie haben sie auch nicht geändert. Auch Herr 
Trittin hat sie nicht geändert. Also, sorry. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Angelika Brunkhorst 

Nach dem Willen der Grünen und der Linken soll der 
anstehende Castortransport nach Gorleben dennoch ab- 
geblasen werden, weil der sogenannte Eingreifwert von 
0,27 Millisievert pro Jahr möglicherweise überschritten 
wird. Sie werfen den zuständigen Ministerien und Be- 
hörden einen laxen Umgang mit den Strahlenwerten am 
Zwischenlager vor. 

Meine Kollegin Frau Flachsbarth hat schon ausrei- 
chend erläutert, dass hier einiges getan wurde, um mit 
zusätzlichen Messungen sicherzustellen, dass dieser Ein- 
greifwert gar nicht erst erreicht wird. 

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Man hat so lange herumgerechnet, bis 
es stimmte!) 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen doch 
selbst - spätestens seit den Beratungen im Umweltaus- 
schuss -, dass der Betreiber bei Erreichen des sogenann- 
ten Eingreifwerts die Einlagerungsmaßnahmen unterbre- 
chen muss oder auf jeden Fall Maßnahmen ergreifen 
muss, lim die Einhaltung des geltenden Grenzwerts von 
0,3 Millisievert im Jahr zu gewährleisten. 

Ich möchte hier, weil auch Frau Liihmann sehr viel 
über Grenzwerte erzählt hat, eine Klarstellung zu den 
Grenzwerten vornehmen. Der Grenzwert für das zentrale 
Zwischenlager in Gorleben beträgt 0,3 Millisievert pro 
Jahr. Umweltminister Trittin hat ja, wie schon gesagt, die 
dezentralen Zwischenlager eingerichtet. Für Zwischen- 
lager, die sich dezentral an den Kernkraftwerken befin- 
den, gilt demgegenüber ein Grenzwert von 1 Millisievert 
pro Jahr. Das ist also das Dreifache. 

(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Hört! Hört!) 

- Hört, hört; so ist das. 1 Millisievert gilt demnach auch 
für das Zwischenlager im Kernkraftwerk Philippsburg. 
Es wurde von Greenpeace durchaus als Option vorge- 
schlagen, die Castoren dorthin zu verbringen. Ich frage 
mich wirklich, wo die vielen Greenpeace-Atomexperten 
waren, als Herr Trittin die Regelung getroffen hat, die ei- 
nen Grenzwert von 1 Millisievert vorsieht. 

Damit Sie einmal ein Gefühl für die Werte entwickeln 
können: Die natürliche Strahlendosis, der wir ausgesetzt 
sind, beträgt im Jahr durchschnittlich 2,1 Millisievert. 
Das ist also das Siebenfache. Da kann man doch sagen, 
dass der Grenzwert von 0,3 Millisievert ein sehr ambi- 
tionierter Wert ist. Ich denke, das Eingreifen des libera- 
len Umweltministers in Niedersachsen war genau rich- 
tig. Ich habe auch großes Vertrauen zu den Beamten, 

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Haben Sie auch Vertrauen zu Herrn 
Sander?) 

die dargelegt haben, was sie alles getan haben, um zu ge- 
währleisten, dass dieser Wert auch eingehalten wird. 

Zum Schluss möchte ich noch sagen: Die Behaup- 
tung, dass jeder zusätzliche eingelagerte Castor im 
Atomzwischenlager in Gorleben eine Manifestierung ist, 
kann ich nicht untermauern. Ich bin der Meinung: Nicht 
die Zahl der dort befindlichen Castoren ist ausschlagge- 
bend, sondern die Frage, ob wir eine Schadensvorsorge 


nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik (C) 
gewährleisten können. Das wird unser Maßstab für die 
Zukunft sein. 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Brunkhorst. - Jetzt 
spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin 
Dorothee Menzner. Bitte schön, Frau Kollegin Menzner. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Dorothee Menzner (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es 
sind jetzt 102 von 420 genehmigten Castoren im Zwi- 
schenlager in Gorleben. Bereits jetzt wird hin- und her- 
geschoben, weil die Strahlendosiswerte im Grenzbereich 
des Zulässigen liegen. Wenn eine Badewanne überläuft, 
muss man das Wasser abstellen und nicht die Hähne neu 
anordnen. 

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- 
neten der SPD) 

Die gesetzlich festgelegten Grenzwerte sind nicht 
dazu da, sie zu ignorieren. Sie sollen die Werte der 
künstlichen Strahlendosen aus Atomanlagen auf einem 
akzeptablen Niveau halten. Das ist eigentlich gar nicht 
möglich. Denn es gibt kein akzeptables Niveau für 
künstliche Strahlendosen. Die Grenzwerte sind höchs- 
tens eine Obergrenze einer wachsenden Unverantwort- (D) 
lichkeit. Auf welcher Höhe diese festzulegen sind, ist 
eine ethische Frage. 

Wir alle wissen und haben es erlebt, dass im Falle ei- 
nes Falles Grenzwerte auch veränderbar sind. In Fuku- 
shima wurden sie sukzessive hochgesetzt, und zwar aus 
zwei Gründen: Erstens klingt es immer harmloser, wenn 
man formuliert, dass sich die Werte innerhalb der gesetz- 
lichen Bestimmungen bewegen. Zweitens übertrifft der 
radioaktive Ausstoß immer wieder alle Erwartungen der 
Atombefürworter, mit denen man die Gesellschaft seit 
Beginn der Nutzung der Atomkraft versucht hat zu beru- 
higen. 

Das alles ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Aber mit 
der permanenten Unbelehrbarkeit und mit dem kapital- 
trächtigen Lobbyismus, den wir Tag für Tag und Jahr für 
Jahr erleben, wird ein unausräumbarer Widerspruch ge- 
schaffen, der täglich größer wird. 

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist aus- 
gesprochener Unfug!) 

Sie vergrößern diesen Widerspruch, indem Sie nicht so- 
fort aus der Atomkraft aussteigen, indem Sie die Castor- 
transporte nach Gorleben nicht stoppen und indem Sie 
nicht bereit sind, sich auf einen gesellschaftlichen Dia- 
log wirklich einzulassen, bei dem die Bevölkerung mit- 
reden darf, wie es mit der Atommüllverwahrung weiter- 
gehen soll. 

(Beifall bei der LINKEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Dorothee Menzner 

(A) Ich will Ihnen auch sagen, warum Sie nicht bereit 
sind, diese gesellschaftlich dringend notwendige Debatte 
zu führen. Sie haben Angst, und Sie wissen, dass es ei- 
gentlich keine Lösung gibt. Dieser Widerspruch ist nicht 
auflösbar. Das Vertrauen der Menschen ist grundlegend 
verspielt. 

Nein, mit den Akteuren in der Atomindustrie, aber 
auch in den Parlamenten, die seit Jahrzehnten dieses De- 
saster angerichtet haben, wird es nicht möglich sein, mit 
dieser Problematik verantwortungsvoll umzugehen. Sie 
sind an sinnvollen Lösungen offensichtlich nicht interes- 
siert, sondern hören nach wie vor auf das Deutsche 
Atomforum, auf den BDI und auf die anderen Verbände. 

Wir haben derzeit kein Zwischenlager für die Castor- 
behälter aus der Wiederaufarbeitung. Das ist Ihr Ver- 
schulden. Deutschland ist momentan nicht in der Lage, 
diesen strahlenden Müll aus Frankreich aufzunehmen. 
Das Zwischenlager Gorleben ist das einzige Lager, das 
über eine entsprechende Genehmigung verfügt. Dort 
sind die Grenzwerte aber erreicht. Das Lager ist damit 
voll. 

Es wurde versäumt, sich rechtzeitig nach Alternativen 
umzuschauen. Die Konsequenz für das französische 
Volk ist unzumutbar: Die Genehmigung für den Castor- 
transport ist zu widerrufen. Das Zeug muss offensicht- 
lich noch Jahre in La Hague bleiben, was für die Franzo- 
sen, wie gesagt, unzumutbar ist. Wir wissen aber alle, 
dass es Jahre dauern wird, bis die Genehmigung für ein 
weiteres Zwischenlager erteilt wird. Welchem Land- 
strich wollen wir dieses Lager bitte schön aufbürden? 

' ' Ich sehe nicht, dass es eine Lösung wäre, einen der 
Standorte der Atomkraftwerke als Atommülllager auszu- 
weisen. 

(Patrick Döring [FDP] : Was ist denn Ihr Vor- 
schlag?) 

Ich komme zu den Konsequenzen. Erstens. Den 
Castortransport untersagen. 

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein 
[CDU/CSU]: Und dann?) 

Zweitens. Die Atomkraftwerke abschalten. Drittens. In 
der Vergangenheit gemachte Fehler eingestehen. Vier- 
tens. Gorleben und Schacht Konrad als Endlager aufge- 
ben. Fünftens. Einen gesellschaftlichen Dialog begin- 
nen. Dieser Dialog muss Menschen einbeziehen und 
Vertrauen schaffen. Dann kann in der Gesellschaft da- 
rüber diskutiert werden, wie wir dieses in 50 Jahren ent- 
standene Problem lösen können. Wie können wir diese 
Probleme gemeinsam lösen? Das funktioniert nur mit ei- 
nem Dialog auf Augenhöhe, und nicht mit Durchknüp- 
peln, mit Erlassen oder der Einschränkung von Demo- 
kratierechten. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Von daher wird die Linke am ersten Adventswochen- 
ende wieder mit vielen Menschen bunt und vielfältig im 
Wendland unterwegs sein. 

Ich danke Ihnen. 


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute 
Vogt [SPD]) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Menzner. - Jetzt spricht 
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin 
Sylvia Kotting-Uhl. Bitte schön, Frau Kollegin Kotting- 
Uhl. 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! 
Wie mehrere der Rednerinnen und Redner bei dieser De- 
batte bin ich erst vorhin aus dem Untersuchungsaus- 
schuss Gorleben gekommen. Wenn man sich mit der Ge- 
schichte von Gorleben befasst, dann trifft man auf das 
Prinzip: Was nicht passt, wird passend gemacht. 

(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Waren Sie in 
derselben Veranstaltung? Ich habe das nicht 
gehört!) 

Das bezieht sich auf das Endlagerbergwerk, an dem dort 
gearbeitet wird. Man kann heute hinzufügen: Oder es 
wird so lange gemessen, bis es passt. Das bezieht sich 
auf das Zwischenlager. 

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Quatsch!) 

Was passt nicht? Es passt nicht, dass der zuständige 
Landesbetrieb NLWKN eine Neutronenstrahlung von 
bereits 0,41 Millisievert gemessen und hochgerechnet 
hat, dass nach Einlagerung weiterer elf Castoren, die im 
November erwartet werden, der Eingreifwert voraus- 
sichtlich überschritten wird. 

Was ist seitdem passiert? Es wurden Behälter umge- 
stellt, die PTB hat gemessen, der TÜV hat gerechnet. Ei- 
nige Abgeordnete - ich selbst war eine dieser Abge- 
ordneten - haben versucht, ihre Kontrollfunktion 
wahrzunehmen und in dem Transportbehälterlager ein- 
mal zu prüfen, was dort an sogenannten Optimierungs- 
maßnahmen vorgenommen wurde. Das wurde uns je- 
doch verwehrt. 

(Dr. Michael Paul [CDU/CSU]: Hätte man 
sich angemeldet, wäre man reingekommen! - 
Gegenruf der Abg. Kirsten Liihmann [SPD]: 
Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass 
sie angemeldet war!) 

Trotz des Wustes von Hintergrundwerten, Messun- 
sicherheiten, Tageswerten und jeder Menge offene Fra- 
gen ist für das NMU eines klar: Es gibt keine Bedenken 
gegen die Einlagerung der Castoren. Der Transport kann 
rollen. Umweltminister Sander ist hier genauso wider- 
sprüchlich wie die Messungen; denn er spricht sich ge- 
gen weitere Castortransporte aus. Er ist aber derjenige, 
der diesmal den Schlüssel in der Hand hat, den Castor- 
transport zu verhindern. Er hat die Entscheidung in der 
Hand, und er kneift vor dieser Entscheidung, 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 



16614 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Sylvia Kotting-Uhl 

und zwar möglicherweise aus Gründen, die Sie, Frau 
Liihmann, uns dargelegt haben. 

Dahinter steckt ein Problem, das - wie so oft bei der 
Atomkraft - unschön und schwer lösbar ist. ln Deutsch- 
land gibt es keinen anderen genehmigten Ort für die 
Rücknahme des atomaren Wiederaufarbeitungsmülls als 
dieses Zwischenlager in Gorleben. Abhilfe schafft aber 
nicht eine Spielwiese, auf der man einfach einmal mit 
den bestehenden Grenzwerten, den Eingreifwerten und 
dem Strahlenminimierungsgebot herumjongliert. Ab- 
hilfe schafft man nur, wenn man die AKW-Betreiber ge- 
mäß dem Verursacherprinzip dazu auffordert, Genehmi- 
gungsanträge für die Aufbewahrung des Mülls in den 
standortnahen Zwischenlagern zu stellen. 

Zu den Grenzwerten will ich Ihnen einmal etwas sa- 
gen, Frau Brunkhorst: Grenzwerte sind gesetzliche Re- 
gelungen, die zumeist ihren Grund haben. Grenzwerte 
sind immer Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem 
gesundheitlich Notwendigen und dem, was wirtschaft- 
lich als notwendig erachtet wird. Deswegen haben 
Grenzwerte für unterschiedliche Müllsorten an unter- 
schiedlichen Standorten auch unterschiedliche Flöhen. 

(Angelika Brunkhorst [FDP]: Herr Trittin war 
ja sehr großzügig!) 

Das müssten Sie in der - immer noch - vermeintlichen 
Wirtschaftsfraktion eigentlich wissen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Wir haben jetzt die Möglichkeit, gemeinsam eine ent- 
sprechende Forderung an die Atomkraftwerksbetreiber 
zu stellen. Dazu fordere ich Sie auf. Das muss umgehend 
geschehen, damit die Zeit des Verbleibs der Castoren in 
La Hague so kurz wie möglich ist; denn für die Franzo- 
sen ist es unzumutbar, sie noch länger in ihrer Obhut zu 
haben. Diese Aufforderung können wir gemeinsam stel- 
len, wenn Sie unserem Antrag zustimmen. 

Die Widersprüche von Herrn Sander zeigen, dass er 
offensichtlich bundesaufsichtliche Hilfe braucht. Deshalb 
würde ich an dieser Stelle gern Herrn Röttgen - wenn er 
denn da wäre, aber vielleicht liest er ja meinen Antrag - 
auffordern, damit aufzuhören, den Kopf in den Sand zu 
stecken, sich wegzuducken und die Dinge laufen zu las- 
sen. Es ist Zeit für eine bundesaufsichtliche Weisung. 
Herr Röttgen sollte seiner Aufgabe jetzt gerecht werden. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- 
KEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Zu einer Kurzinterven- 
tion hat unsere Kollegin Frau Skudelny das Wort. Bitte 
schön, Frau Kollegin Skudelny. 

Judith Skudelny (FDP): 

Ich weiß, es ist nicht die Uhrzeit dafür, aber ich ma- 
che es ganz kurz. - ln Baden-Württemberg stellen die 
Grünen nicht nur den Ministerpräsidenten, sondern auch 
den Umweltminister. Von Greenpeace wurde vorge- 


schlagen, die Anlage in Philippsburg als Zwischenlager (C) 
- so wie Sie es sagen - zu nutzen. Die EnBW gehört 
etwa zur Hälfte dem Land Baden- Württemberg. Ich 
frage mich, warum Sie die Schleife über den Bund dre- 
hen, wenn Ihr Landesumweltminister eigentlich das ei- 
gene Unternehmen dazu auffordern könnte. Das wäre 
doch der erste Schritt, bevor man die große Schleife über 
die Bundesregierung dreht. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - 
Ulrich Kelber [SPD]: Das sagt die Atom- 
werbe-Skudelny! Bis zuletzt waren Sie noch 
für die Laufzeitverlängerung! Sie waren die 
Unverbesserlichste von allen! - Gegenruf der 
Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Was hat 
das jetzt mit der Frage zu tun?) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Zur Antwort, Frau Kollegin Kotting-Uhl. 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Ich werde jetzt ganz sachlich auf das antworten, was 
Sie hier vorgetragen haben, 

(Patrick Döring [FDP]: Das wäre das erste 
Mal, dass Ihnen das gelingt!) 

obwohl es da noch viele andere Dinge zu sagen gäbe. - 
Greenpeace hat gefordert, diese Castorbehälter aus- 
schließlich zum standortnahen Zwischenlager in Phi- 
lippsburg zu bringen. Hätten Sie mir zugehört, den An- 
trag gelesen oder dem Umweltminister von Baden- (p)) 
Württemberg zugehört, dann wüssten Sie, dass sowohl 
der Umweltminister von Baden-Württemberg wie auch 
ich dafür sind, diesen Transport abzusagen und diese 
Castoren zu den verschiedenen standortnahen Zwischen- 
lagern in Deutschland zu bringen, nicht nur zu dem 
standortnahen Zwischenlager in Philippsburg. Ich will 
Ihnen auch sagen, warum: Nachdem Baden-Württem- 
berg jetzt, und zwar wohlweislich nach dem Regierungs- 
wechsel, das erste Land war, das gesagt hat: „Wir wer- 
den unserer Verantwortung für die Lagerung des 
Atommülls gerecht und öffnen uns für eine Endlager- 
suche“, kann es nicht sein, dass man zum Dank dafür ei- 
nem einzigen Zwischenlager in diesem Land just den 
ganzen anstehenden Müll vor die Füße wirft. 

(Lachen des Abg. Patrick Döring [FDP] - 
Patrick Döring [FDP]: Lächerlich!) 

Baden- Württemberg ist für 20 Prozent des Mülls zu- 
ständig, der jetzt zurückkommt. Für diese 20 Prozent soll 
Baden-Württemberg nach der Vorstellung des baden- 
württembergischen Umweltministers und meiner Frak- 
tion die Verantwortung übernehmen. Die Aufgabe liegt 
im Moment darin, dass die AKW-Betreiber die Geneh- 
migungsanträge stellen. Es ist deren Sache, wie sie sich 
auf eine Verteilung der Transporte einigen und wie sie 
das ausrechnen. Es sind noch einige Transporte zu er- 
warten: Es ist nicht der letzte Transport aus La Hague; es 
wird noch schwach- und mittelradioaktiver Müll aus La 
Hague kommen. Es kommen auch noch 22 Castoren aus 
Sellafield. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Sylvia Kotting-Uhl 

(A) Wir in Baden- Württemberg sind im Gegensatz zu vie- 
len anderen Ländern bereit, Verantwortung zu überneh- 
men, übrigens auch im Gegensatz zur früheren schwarz- 
gelben Regierung in Baden-Württemberg; Gott sei Dank 
ist diese Zeit vorbei. Die schwarz-gelbe Regierung hat 
immer nur gesagt: Nicht bei uns! Not in my backyard! - 
Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei; Baden- 
Württemberg übernimmt seine Verantwortung. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU 
unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege 
Dr. Georg Nüßlein. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - 
Ulrich Kelber [SPD]: Der Mann, der immer 
die komischen Sachen erklären muss! Das ist 
ein fieser Job!) 

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): 

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Nach 
der Rücknahme der Laufzeitverlängerungen und einer 
Präzisierung, insbesondere einer zeitlichen Klarstellung, 
zum Ausstieg aus der Kernenergie bleibt bei mir immer 
noch die Hoffnung, dass es diesem Haus gelingen mag, 
solche Themen wie das heutige mit großer Sachlichkeit 
und Verantwortung für das, was noch vor uns liegt, anzu- 
gehen. Andererseits ärgert es mich natürlich, wenn von 

(B) einer Seite immer wieder Panikmache und Betroffen- 
heitsrhetorik kommen. 

Liebe Frau Kollegin Menzner, es ist nun einmal hane- 
büchen, uns den Vorschlag, die Untersuchungen in Gor- 
leben und gleich auch noch den Schacht Konrad aufzu- 
geben, als Lösung der Endlagerfrage zu präsentieren; 
das muss man einmal ganz deutlich sagen. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Ich will klipp und klar festhalten, dass für uns beim 
Thema Kerntechnologie und Strahlenschutz Sicherheit 
das oberste Gebot ist; ich gestehe es allen anderen Frak- 
tionen zu, dass sie es genauso sehen. Vor diesem Hinter- 
grund möchte ich eindeutig klarstellen, dass die Messun- 
gen, über die wir hier diskutieren, in § 6 Atomgesetz, der 
Strahlenschutzverordnung, der Aufbewahrungsgenehmi- 
gung des Bundesamtes für Strahlenschutz, der Richtlinie 
zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechni- 
scher Anlagen sowie den Messanleitungen für die Über- 
wachung radioaktiver Stoffe in der Umwelt und externer 
Strahlung so festgehalten sind. 

(Kirsten Liihmann [SPD] : Aber nicht die Be- 
rechnungsmodelle! ) 

Das ist richtig und wichtig. Die Messungen sind auf die- 
ser Grundlage erfolgt. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen wurde die 
Grundlage ja auch verändert!) 


Sobald es auf dieser Basis einen Handlungs- und Ein- (C) 
griffsbedarf gibt, hat dieser Eingriff unmittelbar und so- 
fort zu erfolgen, und zwar ohne Wenn und Aber; das 
sage ich klipp und klar. 

(Ulrich Kelber [SPD]: Die Basis wird verän- 
dert!) 

Ich sage dann aber auch klar: Ich bin zunächst einmal 
absolut darüber erleichtert, dass uns in der Umweltaus- 
schusssitzung vom 9. November vom Bundesumweltmi- 
nisterium noch einmal ausführlich erläutert wurde, dass 
der genehmigte Jahreswert nicht überschritten wird - 
ganz klipp und klar. 

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das war nur eine Prognose, keine 
Rechnung, Herr Nüßlein!) 

Ich bin - vermutlich wie auch Sie - unglücklich über 
die Kommunikation in der letzten Woche. Aber in der 
gestrigen Umweltausschusssitzung wurde das Thema 
noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei wurde 
ausführlichst erläutert, wie die unterschiedlichen Mess- 
werte des Niedersächsischen Landesbetriebes für Was- 
serwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, der Physika- 
lisch-Technischen Bundesanstalt sowie des TÜV Nord 
zustande kamen. Das haben die meisten der hier anwe- 
senden Ausschussmitglieder mitbekommen. 

Im Übrigen gibt es dazu eine schriftliche Abhand- 
lung, nämlich die Antwort der Parlamentarischen Staats- 
sekretärin Heinen-Esser, nachzulesen in der Drucksache 
17/7239. 

(D) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Herr Kollege Nüßlein, geben Sie der Frau Kollegin 
Kotting-Uhl die Chance für eine Zwischenfrage? 

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! - Gegenruf 
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Warum 
denn nicht? - Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt lassen Sie sich 
nichts vorschreiben, Herr Nüßlein!) 

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): 

Die Kolleginnen und Kollegen sind nicht begeistert; 
ich bin es um 22.31 Uhr auch nicht übermäßig. Aber 
wenn Sie meinen, Sie müssten noch einmal zwischenfra- 
gen, tun Sie es doch. 

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Machen wir es kurz! - Gegenrufe 
von der CDU/CSU: Bitte!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Sie haben versprochen, sich kurzzufassen. 

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Ich will mich nur auf das „klipp und klar“ beziehen. 

Der TÜV hat klipp und klar ausgerechnet, dass man bei 
0,254 mSv landen wird. Dabei ist eine Prognose von 
plus/minus 10 Prozent. Wenn Sie die 10 Prozent addie- 
ren, sind Sie bei über 0,27 mSv. Das ist genau der Ein- 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Sylvia Kotting-Uhl 

(A) greifwert. Das heißt, nach dem Strahlenminimierungsge- 
bot muss man eingreifen. 

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): 

Man liegt unter dem Eingriffswert. 

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Nein!) 

- Es heißt: „plus/minus 10 Prozent“. Sie haben Werte 
zwischen 0,238 mSv und 0,254 mSv plus/minus 10 Pro- 
zent. 

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN]: Rechnen Sie die 10 Prozent da- 
rauf!) 

Also liegt man aus meiner Sicht, jedenfalls wenn man 
diese Werte begutachtet, unter dem Eingriffswert. Damit 
ist man ganz eindeutig in einer Situation, in der das in 
dieser Art und Weise jedenfalls nicht geboten ist. 

Die Frage ist, was Sie damit erreichen wollen. Sie 
müssen natürlich dann auch erklären, liebe Frau Kolle- 
gin, wie Sie mit dieser Thematik umgehen wollen, wie 
Sie den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die wir erfül- 
len müssen, nachkommen wollen, wie Sie den Franzosen 
erklären wollen, weshalb Sie die Castoren, die von dort 
zu Recht wieder zurück nach Deutschland gebracht wer- 
den müssen, jetzt nicht in diesem Land annehmen kön- 
nen. Diese Fragen müssen sie aus meiner Sicht beant- 
worten. 

Fest steht, dass in Gorleben derzeit 102 Castorbehäl- 

(B) ter liegen. Die Lagergenehmigung ist auf über 400 dieser 
Behälter ausgerichtet. 

Eigentlich wollte ich nicht konfrontativ Vorgehen. 
Aber weil Sie mich gefragt haben, möchte ich Folgendes 
zur Sicherheit und den Castortransporten sagen: Dazu 
können Sie einen entscheidenden Beitrag leisten. Ich er- 
innere mich gut an die Aktion im Herbst letzten Jahres. 
Damals sind elf Castorbehälter von Nordfrankreich nach 
Gorleben transportiert worden. 

(Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Gleich nach der Laufzeitverlängerung! 
Genau!) 

Dabei wurde ein neuer Begriff geprägt, nämlich der Be- 
griff des Schotterns. Das wurde von verschiedenen Sei- 
ten - ich schaue bewusst niemanden an - ganz massiv 
protegiert. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Das wurde auch von Ihnen in dem Wissen, dass mit 
solch einem Eingriff in den Schienenverkehr am Ende 
auch Risiken für Menschen verbunden sind, unterstützt. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Das ist nicht nur ein unzulässiges Eingreifen in Eigen- 
tumsrechte. Das muss ich deutlich sagen. 

(Zuruf von der LINKEN) 

Von Ihrer Seite ist schon die übliche Folklore angekün- 
digt worden. Sie haben schon gesagt, was Sie in den 


nächsten Wochen Vorhaben und wie Sie demonstrieren (C) 
wollen. 

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Nein! Gar nicht!) 

Meine Damen und Herren, nichts gegen das Demons- 
trationsrecht. 

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 

Das wäre ja noch schöner!) 

Das ist ein hohes Rechtsgut. Aber was Sie persönlich be- 
treiben und vormachen, geht weiter über das Demons- 
trieren hinaus. Das ist ein Eingriff ins Eigentum und 

(Zuruf von der LINKEN) 

gefährdet Sicherheit. Das muss man in dieser Klarheit 
sagen. Ich hoffe, dass Sie damit anders umgehen. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 

Ich sage das auch an Herrn Trittin und an Herrn Gysi 
gerichtet, die jetzt wieder zu Demonstrationen aufrufen. 

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So sind sie!) 

Während seiner Amtszeit hat Herr Trittin Castortrans- 
porte genehmigt. Ich erinnere mich noch gut an die Aus- 
sagen von Herrn Trittin. 

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Waren Sie schon einmal bei einer De- 
monstration, Herr Nüßlein?) 

Er hat sich hingestellt und gesagt: Gegen die Castor- 
transporte - die guten, von den Grünen genehmigten - (D) 

(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) 

dürften die Grünen weder singend, tanzend noch sonst 
irgendwie demonstrieren. Aber gegen die, die von uns 
genehmigt werden müssen, muss man natürlich demons- 
trieren. 

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN] : Wir haben schon immer demons- 
triert!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? 

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): 

Nein. - Es wäre gut gewesen, wenn Sie diese Doppel- 
züngigkeit eingestellt hätten. Es hätte mich gefreut, 
wenn Sie bei Ihren Redebeiträgen außer der angekündig- 
ten Folklore etwas dazu gesagt hätten, dass es verant- 
wortlich wäre, zu Zurückhaltung aufzurufen. 

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Kommen Sie doch mit! Dann lernen 
Sie noch etwas!) 

Das hätte ich von Ihnen erwartet, aber anscheinend kann 
man so viel von Ihnen nicht erwarten. 

In diesem Sinne: Vielen Dank. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16617 


Vizepräsident Eduard Oswald: 

Ich schließe die Aussprache. 

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- 
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit 
dem Titel „Kein CASTOR-Transport nach Gorleben zu 
Lasten des Strahlenschutzes - Zwischenlagerung hoch- 
radioaktiver Wiederaufarbeitungsabfälle verursacherge- 
recht neu gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner 
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7677, den An- 
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. 
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind 
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die 
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD sowie Teile 
der Linksfraktion. Enthaltungen? - Das ist die übrige 
Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenom- 
men. 

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke 
auf Drucksache 17/7634 mit dem Titel „CASTOR- 
Transport 2011 nach Gorleben stoppen“. Wer stimmt für 
diesen Antrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer 
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. 
Enthaltungen? - Das sind die Sozialdemokraten und 
Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist abgelehnt. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 8 auf: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- 
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
über die Besetzung der Großen Straf- und Ju- 
gendkammern in der Hauptverhandlung 

-Drucksachen 17/6905, 17/7276 - 

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 
schusses (6. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7669 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg 
Christoph Strässer 
Mechthild Dyckmans 
Jens Petermann 
Jerzy Montag 

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu 
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sie 
sind alle damit einverstanden? - Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. Ich ver- 
zichte auf die Verlesung. 1 ' 

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- 
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Be- 
setzung der Großen Straf- und Jugendkammern in der 
Hauptverhandlung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in 
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7669, 
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- 
sachen 17/6905 und 17/7276 in der Ausschussfassung 
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- 
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um 
das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. 
Wer stimmt dagegen? - Das sind die Sozialdemokraten 


*> Anlage 3 


und die Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die (C) 
Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- 
tung angenommen. 

Dritte Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - 
Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - 
Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange- 
nommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: 

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- 
führung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 
des Europäischen Parlaments und des Rates 
vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitia- 
tive 

- Drucksache 17/7575 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Petitionsausschuss 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. 

Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): 

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung 
dient dazu, für das Institut der Europäischen Bürgerini- 
tiative, das mit Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die 
Europäische Union neu geschaffen wurde, nationale Zu- 
ständigkeiten zuzuweisen und Verfahren festzulegen. 

Da es sich bei der Europäischen Bürgerinitiative um 
ein neuartiges Instrument direkter Demokratie handelt, 
das den Unionsbürgern ab 1. April 2012 zur Verfügung 
steht und ihnen erstmals die Möglichkeit verschafft, di- 
rekt und nicht vermittelt über Wahlen oder eine Petition 
an der europäischen Gesetzgebung mitzuwirken, möchte 
ich zunächst einige wichtige Voraussetzungen und Ver- 
fahrensschritte dafür kurz darstellen. 

Inhalt einer solchen Bürgerinitiative muss die Auffor- 
derung an die Europäische Kommission sein, im Rah- 
men ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen 
zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürgerin- 
nen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um 
die europäischen Verträge umzusetzen. Da die Kommis- 
sion in fast allen Politikbereichen, die in den Kompe- 
tenzbereich der Union fallen, das Initiativrecht hat, sind 
die Initiatoren einer Bürgerinitiative thematisch kaum 
eingeschränkt. Der vorgeschlagene Rechtsakt darf aber 
höherrangigem europäischem Recht nicht widerspre- 
chen und die Grundrechte der Union nicht verletzen. 

Eine Änderung des Primärrechts, also der grundlegen- 
den Verträge der EU, ist ebenfalls ausgeschlossen. 

Nachdem die Europäische Kommission die Bürger- 
initiative auf einer Website registriert hat, können die 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ingo Wellenreuther 

(A) Organisatoren der Initiative innerhalb eines Jahres Un- 
terstützungsbekundungen sammeln. Neben der Papier- 
form können auch online Unterstützungsbekundungen 
gesammelt werden, wofür die Europäische Kommission 
eine kostenfreie Open-Source-Software bereitstellt. 

Für eine gültige Bürgerinitiative bedarf es der Unter- 
zeichnung durch 1 Million Unionsbürger, die nach dem 
jeweiligen nationalen Recht bei den Wahlen zum Euro- 
päischen Parlament wahlberechtigt sind. Die Zcdd der 
Unterzeichner entspricht 0,2 Prozent der Unionsbürger 
und ist damit sehr niedrig angesetzt. 

Um sicherzustellen, dass die Angelegenheit von euro- 
paweitem Interesse ist, müssen die Unterstützer aus min- 
destens einem Viertel der Mitgliedstaaten, derzeit also 
aus sieben Mitgliedstaaten, kommen. Erforderlich ist 
auch eine jeweilige Mindestzahl aus diesen Staaten. Aus 
Deutschland müssen es mindestens 74 250 Unterzeich- 
ner sein. 

Liegen edle Voraussetzungen vor und ist eine Bürger- 
initiative danach zulässig, prüft die Europäische Kom- 
mission diese und legt innerhalb von drei Monaten Un- 
beabsichtigtes Vorgehen und die Gründe da für dar. Falls 
sie nicht beabsichtigt, Maßnahmen zu ergreifen, erläu- 
tert sie die Gründe dafür ebenfalls. Den Organisatoren 
wird zuvor die Möglichkeit gegeben, ihre Bürgerinitia- 
tive innerhalb einer öffentlichen Anhörung im Europäi- 
schen Parlament vorzustellen. 


(B) 


Die EU-Verordnung über die Bürgerinitiative ver- 
langt nationale Zuständigkeitszuweisungen und Verfah- 
rensfestlegungen, die mit dem vorliegenden Gesetz er- 
folgen sollen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um 
folgende Regelungen: 


Das Bundesversicherungsamt wird als zuständige Be- 
hörde für die Überprüfung der Unterstützungsbekun- 
dungen sowie das Ausstellen von Bescheinigungen über 
die Zcdd der gültigen Bekundungen in Deutschland be- 
nannt. 


Um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, wird 
von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Zulässig- 
keit der gesammelten Unterstützungsbekundungen stich- 
probenartig zu überprüfen. Zudem soll die Überprüfung 
von Unterstützungsbekundungen durch einen automati- 
sierten Datenaustausch zwischen Bundesversicherungs- 
amt und Meldebehörden erleichtert werden. Zu diesem 
Zweck wird die Bundesmeldedatenübermittlungsverord- 
nung ergänzt. 

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informations- 
technik wird als die zuständige Behörde benannt, die be- 
scheinigt, ob ein Onlinesammelsystem mit den techni- 
schen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der EU- 
Verordnung über die Bürgerinitiative vereinbar ist. 

Außerdem werden Bußgeldvorschriften erlassen, die 
Verstöße der Organisatoren einer Bürgerinitiative gegen 
die EU- Verordnung sanktionieren. 

Da ein Demokratiedefizit auf der europäischen Ebene 
offensichtlich ist und dies auch von einer großen Zahl 
der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beklagt 
wird, begrüßen wir die Europäische Bürgerinitiative 


und die dazu erforderlichen nationalen Umsetzungs- (C) 
regelungen, die mit dem vorliegenden Gesetz erfolgen 
sollen. Das Instrument kann ein Schritt sein, dieses De- 
fizit abzubauen. 

Allerdings dürfen die positiven Wirkungen der Euro- 
päischen Bürgerinitiative auch nicht überschätzt wer- 
den. Denn die gestalterischen Möglichkeiten, die den 
Unionsbürgern mit diesem Instrument gesetzt wurden, 
sind eingeschränkt: Die Europäische Kommission kann 
das Begehren der Bürgerinitiative mit Gründen zurück- 
weisen und von konkreten Umsetzungsmaßnahmen ab- 
sehen. Im Falle der Ablehnung der Bürgerinitiative ist 
auch keine Volksabstimmung vorgesehen. 

Dennoch sehen wir die Europäische Bürgerinitiative 
positiv, verbindet sich damit doch die Hoffnung, dass 
sich mit der unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeit die 
Kenntnis und das Verständnis über die europäische Poli- 
tik und das dortige Gesetzgebungsverfahren erhöhen. 

Das Interesse an Europa soll gesteigert werden und für 
Europa-Kritiker soll es schwieriger werden, zu argu- 
mentieren, dass ausschließlich ferne EU-Bürokraten 
über machtlose Unionsbürger entscheiden. Aufgrund 
der Tatsache, dass die Unterstützer aus mindestens sie- 
ben Mitgliedstaaten kommen müssen, ist eine Vernet- 
zung von nationalen Bewegungen und Organisationen 
erforderlich, wodurch ein transnationales, europäisches 
Bewusstsein vertieft werden soll. 

Gerold Reichenbach (SPD): 

Ein Fokus liegt auf Europa, und das leider nicht nur 
positiv. Die Zeitungen sind voll von Europa. Es geht um (D) 
die Finanzkrise, es geht um Milliardenrettungspakete, es 
geht um drohenden Staatsbankrott und tiefe Einschnitte 
in die Lebensumstände der Bürger Im Kern aber geht es 
um den Zusammenhalt Europas und seine Legitimation 
gegenüber seinen Bürgern, die zunehmend den Eindruck 
haben, dass anonyme Zirkel und Mächte über ihre Köpfe 
hinweg über ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschei- 
den. 

Die Einführung einer Europäischen Bürgerinitiative 
stellt vor diesem Hintergrund eine enorme Chance dar 
Sie kann den Menschen die Möglichkeit und das Gefühl 
geben, Europapolitik nicht ausgeliefert zu sein, sondern 
diese aktiv mitgestalten zu können. 

Bürgerwille und Protest sind bereits jetzt ein wichti- 
ges Korrektiv zu politischen Entscheidungen. So ist es 
dem stetigen Beharren vieler engagierter Menschen zu 
verdanken, dass die Bundesregierung in ihrer Energie- 
politik nach Fukushima eine Kehrtwende vollzogen und 
die erst 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerungen 
von Atomkraftwerken zurückgenommen hat. 

Die neuen Medien und sozialen Netzwerke eröffnen 
uns zugleich die Möglichkeit, jenseits traditioneller Me- 
dienhoheit Themen über nationale Grenzen hinweg zu 
kommunizieren und sich politisch zu organisieren. Ein 
gutes Beispiel ist die „ occupy-Bewegung “, egal wie man 
inhaltlich dazu stehen mag. 

Wer den Bürger in Europa aber lediglich auf die 
Straße als Artikulationsmöglichkeit verweist, wird ihn 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Gerold Reichenbach 

(A) auf Dauer gegen die europäische Idee mobilisieren und 
nicht für sie gewinnen. Will Europa von den Bürgern als 
ihres begriffen werden, so muss es ihnen jenseits der 
sehr indirekten Strukturen von Rats-, Kommissions- und 
Parlamentsentscheidungen direktere demokratische Mit- 
wirkungsmöglichkeiten eröffnen. 

Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von Anfang an 
für die Europäische Bürgerinitiative ausgesprochen und 
den Prozess begleitet. Da gibt es deutliche Erfolge zu 
verzeichnen! Die notwendige Unterstützeranzahl einer 
solchen Initiative wurde von 160 000 Bürgerinnen und 
Bürger auf 72 000 reduziert. 

Die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen 
die Unterstützer kommen müssen, wurde von neun auf 
sieben gesenkt. Das ist erfreulich, denn Bürgerinnen und 
Bürger aus einem Viertel der Mitgliedstaaten können be- 
reits sicherstellen, dass es um Fragen von europaweitem 
und nicht nur nationalem Interesse geht. 

Bedauerlich ist, dass der Zeitraum für die Sammlung 
von Unterstützungsbekundungen nicht von zwölf Mona- 
ten auf achtzehn Monate erhöht wurde. Wir haben da- 
mals schon gesagt, dass es einen enorm hohen Aufwand 
bedeutet, Menschen aus so vielen EU -Mitgliedstaaten 
miteinander zu vernetzen und dass das angemessen bei 
der Zeitraumbestimmung berücksichtigt werden sollte. 

Trotz allem ist es jetzt dringend geboten, die Möglich- 
keiten der Bürgerbeteiligung in Europa zügig Realität 
werden zu lassen. 

(B) Die EU-Verordnung zur Europäischen Bürgerinitia- 
tive soll im April 2012 in Kraft treten. Bis dahin müssen 
die nationalen Regelungen angepasst sein. Es mag der 
Tatsache geschuldet sein, dass es hier um die Anpassung 
deutschen Rechts an eine ohnehin unmittelbar geltende 
EU-Verordnung ging, was insoweit kaum eigenständi- 
gen Regelungsgehalt aufweist. Die SPD-Bundestags- 
fraktion hat dennoch erfreut zur Kenntnis genommen, 
dass die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen, 
einen Gesetzentwurf zur Durchführung der EU-Verord- 
nung vorzulegen, ausnahmsweise frühzeitig ergriffen 
hat. 

Wenn die Regierungen Europas es nicht schaffen, 
eine Finanztransaktionsteuer in Europa durchzusetzen, 
dann werden mit der Europäischen Bürgerinitiative künf- 
tig die Bürgerinnen und Bürger Europas dazu die Gele- 
genheit haben. 

Klaus Hagemann (SPD): 

Die Menschen in Europa haben bis heute wenige 
reale Möglichkeiten, aktiv am europäischen Willensbil- 
dungsprozess teilzunehmen. Europa muss dringend nach 
grenzübergreifenden Beteiligungsformen über die Wahl 
des Europäischen Parlaments hinaus suchen. Gerade 
jetzt, in Zeiten der europäischen Krise und der ,, Wutbür- 
ger“, die sich nicht so einfach mit politischen Entschei- 
dungen abfinden wollen, sollten die Menschen stets in 
Politikprozesse einbezogen werden. Sie müssen die 
Chance erhalten, ihre Anliegen zu artikulieren, Argu- 
mente auszutauschen und angehört zu werden. 


Mit der Europäischen Bürgerinitiative erhalten Men- (C) 
sehen in Europa endlich ein direktdemokratisches In- 
strument, mit dem die Europäische Kommission gezwun- 
gen werden kann, in einem bestimmten Bereich initiativ 
zu werden. Zurzeit wird die europäische Politik von den 
Bürgerinnen und Bürgern der EU oft als bürgerfern und 
technokratisch empfunden. Dem muss entgegengewirkt 
werden. Die Europäische Bürgerinitiative ist ein erster 
Schritt für mehr direkte Teilnahme an europäischen poli- 
tischen Prozessen für mehr Akzeptanz für die Idee vom 
vereinten Europa. Sie trägt zu mehr europäischer Soli- 
darität bei, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern der 
Mitgliedstaaten die Kraft gibt, etwas bewirken zu kön- 
nen. Gerade in Zeiten starker finanzieller Turbulenzen 
und von Zweifeln an dem europäischen Zusammenhalt 
ist Solidarität unabdingbar. 

Die Europäische Bürgerinitiative bietet neue, nie da 
gewesene grenzüberschreitende Partizipationsmöglich- 
keiten. Sie ist dazu da, um europaübergreifend über poli- 
tische Fragen zu diskutieren. Sie bietet die Chance, 
neue, aktuelle Themen unmittelbar in die europäische 
Politik einzubringen. Sie ermöglicht Initiativen und die 
Übermittlung politischer Vorschläge direkt an die Euro- 
päische Kommission. 

Ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Bür- 
gerinitiative zum Element eines politischen Frühwarn- 
systems wird, das Defizite auf der EU-Ebene verdeut- 
licht. Sie kann aufzeigen, in welche Richtung sich die 
politischen Wünsche und Hoffnungen der Bürgerinnen 
und Bürger der EU entwickeln, so wie das zurzeit in 
Deutschland über Petitionen, insbesondere die öffentli- ' 
chen Petitionen, passiert. Petitionen sind das einzige 
Element der direkten Demokratie auf Bundesebene. 

Eine klug genutzte und unbürokratisch umgesetzte 
Bürgerinitiative kann ein Schrittmacher für mehr Bür- 
gernähe und Demokratie sein. Sie kann auch eine Waffe 
gegen die Politikverdrossenheit sein. Ich hoffe sehr, dass 
die Bürgerinnen und Bürger Europas die Chancen für 
mehr Beteiligung über die Bürgerinitiative nutzen. 

Die Politik ist gut beraten, wenn sie die Europäische 
Bürgerinitiative nicht nur schnellstens und unbürokra- 
tisch umsetzt, sondern die Bürgerinitiative und ihre 
Breitenwirkung auch aufmerksam verfolgt, nutzt und ge- 
bührend berücksichtigt. Beschämend ist allerdings, dass 
es demnächst direktdemokratische Elemente in den 
Kommunen, Ländern und der EU gibt, und auf der Bun- 
desebene direkte Beteiligung nur über das Petitionsrecht 
möglich ist. 

Jimmy Schulz (FDP): 

Meine letzte Rede zur Europäischen Bürgerinitiative, 

EBI, vom 10. Juni 2010 ist schon einige Zeit her. In der 
Zwischenzeit ist viel passiert. Die EU-Verordnung 
Nr 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Ra- 
tes vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative 
wurde verabschiedet. Die Bundesregierung hat ihren 
Gesetzentwurf zur Umsetzung dieser Verordnung nun 
vorgelegt. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Jimmy Schulz 

(A) Ich freue mich sehr, dass die EB1 durch diesen Ge- 
setzentwurf immer greifbarer wird. Aus der Idee, eine 
europäische Möglichkeit, sich zu beteiligen, zu etablie- 
ren, ist ein konkreter Gesetzentwurf geworden, der das 
Verfahren zur Umsetzung einer EB1 regelt. Die Idee wird 
also zunehmend lebendiger. 


In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich ge- 
fordert, dass der Schutz der Unterstützerdaten durch die 
Organisatoren und die zuständigen Behörden sicherge- 
stellt werden muss. Damals wie heute erachte ich es als 
besonders wichtig, dass die Möglichkeit der Sammlung 
von Unterschriften über das Internet möglich ist. Dies 
wird in Art. 6 der EU-Verordnung extra geregelt. Als 
erster Schritt zur Umsetzung einer EBI soll in Deutsch- 
land durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informa- 
tionstechnik, BSI, eine Bescheinigung ausgestellt wer- 
den, die den Organisatoren einer EBI die Erfüllung der 
Anforderungen zum Onlinesammelsystem gemäß dieses 
Art. 6 Abs. 4 bestätigt. Das BSI überprüft also erst ein- 
mal das Sammelsystem der Organisatoren auf die fest- 
gelegten Datenschutz- und Sicherheitsbestimmungen. 
Gibt das BSI das Okay, können die Organisatoren sam- 


Das BVA beschränkt den Datenabgleich auf das zu 
diesem Zweck Erforderliche, beispielsweise indem 
es die Überprüfung zunächst nur anhand von Fami- 
lienname, Vorname, Geburtstag und Anschrift 
durchführt und nur, wenn anhand dieser Daten 
keine eindeutige Identifizierung möglich ist, den 
Datensatz um die frühere Anschrift oder weitere 
Daten erweitert. 

Diese Abschichtung ist im Gesetzentwurf leider nicht 
angelegt. Hier würde ich mir eine konkretere Festlegung 
der Vorgehensweise wünschen. 

Insgesamt sollten wir uns jedoch freuen, dass wir ei- 
nen Schritt weiterkommen bei der Umsetzung von mehr 
Mitspracherechten für alle Europäerinnen und Euro- 
päer. Gerade jetzt brauchen wir das umso mehr. Wir dis- 
kutieren über die Situation Griechenlands und die beste 
Lösung für ein zusammenwachsendes Europa. Aller- 
dings bietet die Debatte auch Raum für Euro-Skeptiker 
und Euro-Kritiker. 

Ich bin davon überzeugt, dass wir durch mehr Parti- 
zipationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger 
das Gemeinschaftsgefühl für unser Europa weiter stär- 
ken können. Die EBI ist eine Methode, die Europäische 
Union bürgernäher zu gestalten. Hier müssen wir alle 
über weitere Möglichkeiten nachdenken, die europäi- 
sche Politik für die Bürgerinnen und Bürger transparen- 
ter und verständlicher zu machen. 

Ich habe mir jetzt erst einmal den 1. April 2012 als 
Geburtstag der EBI im Kalender markiert, den ich gerne 
mit allen Europäerinnen und Europäern gemeinsam fei- 
ern möchte. Ich hoffe, dass besonders aus Deutschland 
viele interessante Initiativen kommen werden. 

Hali na Wawzyniak (DIE LINKE): 

Wir beraten heute ein Gesetz zur Durchführung einer 
europäischen Verordnung, die keinen großen Wurf dar- 
stellt, sondern nur ein kleiner Schritt in Richtung Beteili- 
gungsdemokratie ist. Die EU-Verordnung 211/2011 er- 
möglicht ab April 2012, dass mindestens 1 Million 
Staatsangehörige aus mindestens sieben EU-Mitglied- 
staaten die Europäische Kommission auffordern, eine 
Gesetzesinitiative zu ergreifen. Wir sollen nun die ent- 
sprechenden gesetzlichen Bedingungen dafür schaffen, 
dass diese Verordnung umgesetzt werden kann. 

Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht mehr als 
ein Massenpetitionsrecht, und es fehlt ihr an Verbind- 
lichkeit. Mit dieser Unverbindlichkeit wird ein grund- 
legendes Defizit fortgeschrieben, das der Vertrag von 
Lissabon postulierte und das die Linke kritisiert. Er ver- 
weigert seinen Bürgerinnen und Bürgern direktdemo- 
kratische Partizipation. Auch mit der Europäischen Bür- 
gerinitiative bekommen sie nichts an die Hand, das es 
ihnen ermöglicht, direkten Einfluss auf die Politik der 
Europäischen Union zu nehmen. 

Meine Fraktion hat im Juni vergangenen Jahres den 
Antrag ,, Europäische Bürgerinitiative bürgerfreundlich 
gestalten “ ins Parlament eingebracht, mit dem der Ver- 
such unternommen wurde, aus dem halbherzigen Ange- 
bot zumindest noch das Bestmögliche im Sinne der Biir- 


meln. 

In der EU-Verordnung heißt es nämlich, die Online- 
sammelsysteme müssen über angemessene Sicherheits- 
merkmale und technische Merkmale verfügen. Dies ist 
zunächst natürlich sehr zu begrüßen. Der Datenschutz 
ist ein wichtiger Aspekt, der garantiert werden muss. Bis 
zum 1. Januar 2012 will die Kommission nun noch tech- 
nische Spezifikationen für die Umsetzung verabschie- 
den. Diese werde ich dann genau betrachten und analy- 
sieren. 

Neben der Sammlung der Daten müssen diese dann 
auch in einem professionellen Verfahren überprüft wer- 
den. Das fällt in die Zuständigkeit des Bundesverwal- 
tungsamtes. Die Organisatoren übermitteln also die Da- 
ten an das Amt. Dieses wird stichprobenartig die 
Gültigkeit der Daten überprüfen und arbeitet dafür mit 
den Meldebehörden zusammen. Um Missbrauch zu ver- 
meiden ist dies ein wichtiger und richtiger Ansatz. Vo- 
raussetzung für eine EBI muss natürlich ihre Legitimität 
sein, die so bestätigt wird. 

Allerdings möchte ich die Vorgehensweise hier nicht 
ganz unkritisch stehen lassen. In § 3 Abs. 3 ist festge- 
schrieben, welche Daten mit den Melderegistern abge- 
glichen werden können. Darunter fallen auch frühere 
Anschriften und frühere Namen. In der Begründung 
steht, dass zunächst nur die erforderlichen Daten für 
den Abgleich genutzt würden, und später erst weitere 
wie frühere Adressen zum Tragen kämen: 


Wichtig ist es, Bürgerinnen und Bürger zu einer Bür- 
gerinitiative zu ermutigen und zu motivieren - sie mitzu- 
nehmen. Gerade deshalb ist es entscheidend, die Verfah- 
ren so benutzerfreundlich und einfach wie nur möglich 
zu gestalten. Das Verfahren entscheidet schließlich auch 
über die Häufigkeit der Anwendung einer EBI. Gleich- 
zeitig muss natürlich auch der Datenschutz gewahrt 
bleiben. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 201 1 


16621 


Halina Wawzyniak 

(A) gerinnen und Bürger zu machen. Wir haben goutiert, 
dass die Europäische Bürgerinitiative ein Instrument 
sein kann, grenzüberschreitende Debatten anzustoßen 
und zum Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit bei- 
zutragen. Wir haben aber auch gesagt, einen Schritt zur 
unmittelbaren Volksgesetzgebung stelle sie indes nicht 
dar. Aber, wie wir - im Zusammenhang mit der Frage 
nach Volksabstimmungen zu europäischen Fragen - erst 
wieder in den vergangenen Tagen seitens der CDU hö- 
ren konnten: Es ist auch gar nicht gewünscht, dass die 
Menschen in diesem und allen anderen Mitgliedslän- 
dern der Europäischen Union mehr Beteiligungsmög- 
lichkeiten haben und größeren Ein fluss auf politische 
Entscheidungen nehmen können. Bundestagspräsident 
Norbert Lammert hat es deutlich gemacht, indem er 
sagte: ,,Das Hauptproblem der Leute scheint mir nicht 
zu sein, dass sie sich von Entscheidungen ausgeschlos- 
sen fühlen, die sie selbst fällen möchten. Im Gegenteil: 
Die meisten fühlen sich von diesen Fragen zwar betrof- 
fen, aber auch überfordert. Sie wollen doch nicht ernst- 
haft die Entscheidung anstelle der gewählten Gremien 
treffen. “ Diese Art des Paternalismus ist es, die den 
Geist des Vertrages von Lissabon ausmacht und die ver- 
hindert, dass wir in Deutschland und in der EU auch nur 
ein Stück vorankommen in Richtung direkter Bürgerin- 
nen- und Bürgerbeteiligung. Eine ehrliche Antwort edler 
Bundestagsabgeordneten auf die Frage, ob sie vollstän- 
dig verstehen, worüber sie beim dauerhaften Euro-Ret- 
tungsschirm ESM abstimmen, oder sich überfordert füh- 
len, überraschte uns sicher. 

Gut ist, dass die Bundesregierung mit dem vorliegen- 

(B) den Entwurf zur Europäischen Bürgerinitiative zumin- 
dest von ihrem ursprünglichen Plan, die Kosten, die bei 
Onlinebürgerinitiativen entstehen, teilweise an die Or- 
ganisatoren durchzureichen, absieht. Es wäre auch ei- 
ner Verhöhnung der Menschen gleichgekommen, die in- 
itiativ werden und sich im Sinne der Fortentwicklung 
unserer Demokratie engagieren. 

Die EBI ist keine bedeutende Neuerung in Richtung 
,, Europa für Bürgerinnen und Bürger“. Sie bietet zwar 
vernetzten Organisationen die Möglichkeit, initiativ zu 
werden; für alle anderen aber ist sie zu elitär. Die EBI 
hat kein wirkliches Initiativrecht und bietet keine Mög- 
lichkeit, die Politik tatsächlich zu beeinflussen. So ent- 
steht kein europäisches Bewusstsein, das sich daraus 
nährt, auf politische Prozesse einwirken, sie mitgestal- 
ten zu können. Sie ist nur ein bisschen mehr als Kosmetik 
und hat mit wirklicher europäischer Bürgerbeteiligung 
wenig zu tun. Sie wird das strukturelle Demokratiedefizit 
der Europäischen Union nicht aufheben, auch weil es 
die Mitgliedstaaten der Union sind, die ein europäisches 
Bewusstsein zu verhindern suchen. Wir fordern die Bun- 
desregierung auf auf europäischer Ebene die Initiative 
für mehr direkte demokratische Bürgerinnen- und Bür- 
gerbeteiligung zu ergreifen. 

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Das Jahr 2012 wird für Europa und die europäische 
Idee ein gutes Jahr. Ab dem 1. April 2012 wird es für 
jede Europäerin und jeden Europäer möglich sein, eine 
Europäische Bürgerinitiative einzuleiten. Adressat der 


Initiative ist die EU -Kommission. Sie soll geeignete (C) 
Handlungsvorschläge zu Themen unterbreiten, die der 
Umsetzung der europäischen Verträge dienen. 

In Zeiten, in denen sich Europa in einer tiefen Krise 
befindet wie seit Jahrzehnten nicht mehr, ist die Euro- 
päische Bürgerinitiative Balsam für die Seele eines je- 
den überzeugten Europäers. Die europäische Integra- 
tion kommt damit unmittelbar bei den Bürgerinnen und 
Bürgern an. Jetzt können die Bürgerinnen und Bürger 
der Europäischen Union direkt die Politik der Europäi- 
schen Union mitgestalten, zusätzlich zu den alle fünf 
Jahre stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parla- 
ment. Die Europäische Union etabliert mit der Europäi- 
schen Bürgerinitiative das erste staatenübergreifende 
Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Die damit ein- 
hergehende Ausstrahlungskraft dürfte auch über die 
Grenzen Europas hinaus wahrgenommen werden. 

Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verord- 
nung über die Bürgerinitiative gibt dieser Bundesregie- 
rung gleichwohl keinen Grund, sich auf die Schulter zu 
klopfen. Die Europäische Bürgerinitiative ist nicht auf 
engagiertes Betreiben der Bundesregierung oder der 
Regierungsfraktionen entstanden. Das deckt sich im Üb- 
rigen auch mit Ihrem mäßigen Engagement für direkte 
Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. An 
der Wiege der Europäischen Bürgerinitiative standen 
die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union 
und ihre Initiativen. Wir Grünen haben diesen Prozess 
von Anfang an intensiv begleitet und uns bereits im Eu- 
ropäischen Konvent, später im Europäischen Parlament 
und auch hier im Bundestag für eine bürgerfreundliche (j)) 
Ausgestaltung der Europäischen Bürgerinitiative einge- 
setzt. 

Die Bundesregierung unterdessen versuchte in ihrem 
ersten Entwurf zur Umsetzung der EU-Verordnung, die 
Bürgerinitiative gen null zu führen. Wie sonst lässt sich 
erklären, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger für 
die Wahrnehmung ihres demokratischen Rechts zur 
Kasse gebeten werden sollten? Die Bundesregierung 
hatte allen Ernstes vor, die Kostenlast zur Zertifizierung 
von Onlinesammelsystemen auf die Organisatorinnen 
und Organisatoren der Bürgerinitiativen abzuwälzen. 
Unser Protest vom 18. Juli dieses Jahres hat dazu beige- 
tragen, diese von der Bundesregierung beabsichtigte 
Hürde gegen mehr direkte Demokratie zu verhindern. 
Damit sind die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die 
sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben, nun ausrei- 
chend gewahrt. Gemeinsam können wir daher feststel- 
len, dass die kostenfreie Nutzung der Europäischen Bür- 
gerinitiative ein Erfolg ist. 

Es ist auch ein Erfolg, dass die Hürden, die die Euro- 
päische Kommission zunächst in die Ausgestaltung der 
Bürgerinitiative eingebaut hatte, nun abgebaut sind. Wir 
Grünen haben daran intensiv mitgearbeitet. Im Einzel- 
nen: Die Anzahl der Mitgliedstaaten, in denen Unter- 
schriften für die Initiative gesammelt werden müssen, ist 
auf ein Viertel, also auf jetzt sieben Mitgliedstaaten, ab- 
gesenkt worden. Die Zulässigkeitsprüfung findet gleich 
am Anfang - und nicht erst nach dem Sammeln von über 
300 000 Unterschriften - statt. Die Initiatoren zulässi- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Ingrid Hönlinger 

(A) ger Bürgerinitiativen haben ein Recht auf Anhörung bei 
der EU. Die Kommission und das Europäische Parla- 
ment stellen sicher, dass diese Anhörung im Europäi- 
schen Parlament stattfindet, dass gegebenenfalls andere 
Organe und Einrichtungen der Union an der Anhörung 
teilnehmen und dass die Kommission auf geeigneter 
Ebene vertreten ist. Bürgerinnen und Bürger können da- 
mit nicht mehr nur mit einem Brief der EU -Kommission 
abgespeist werden. Es wird eine Open-source-Software 
für die Onlineunterschriftensammlung geben. Die Euro- 
päische Kommission wird eine Kontaktstelle für Bera- 
tungen und Nachfragen einrichten. 

Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Schritt in die 
richtige Richtung. Aber sie ist nur ein erster Schritt. Wir 
Grüne wollen mehr. Wir wollen, dass sich die EU-Kom- 
mission nicht nur mit dem Anliegen der Initiative befas- 
sen muss, um dann eventuell nach Belieben einen ent- 
sprechenden Gesetzesvorschlag zu erarbeiten. Wir wollen 
mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten, die über die 
bloße Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der 
politischen Agenda hinausgehen. Europa sollte seinen 
Bürgerinnen und Bürgern mehr Zutrauen. Wir tun es und 
fordern auch die Bundesregierung und die Regierungs- 
koalition dazu auf. Vertrauen Sie den Menschen, und öff- 
nen Sie die Türen für mehr Demokratie in der Europäi- 
schen Union! 


(B) 


Vizepräsident Eduard Oswald: 

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- 
wurfs auf Drucksache 17/7575 an die in der Tagesord- 
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es 
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann 
ist die Überweisung so beschlossen. 


Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: 


Beratung des Antrags der Fraktion der SPD 


Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika 
durch die Stärkung der Menschenrechte för- 
dern 


- Drucksache 17/7370 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) 

Auswärtiger Ausschuss 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Arbeit und Soziales 

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und 

Entwicklung 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu 
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. - 
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin- 
nen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. 1 ' 

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7370 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein- 
verstanden. Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist die 
Überweisung so beschlossen. 


■> Anlage 4 


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: 

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- 
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 
zur Änderung von Vorschriften über Verkün- 
dung und Bekanntmachungen 

- Drucksache 17/6610 — 

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- 
schusses (6. Ausschuss) 

- Drucksache 17/7560 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg 
Dr. Edgar Franke 
Mechthild Dyckmans 
Jens Petermann 
Ingrid Hönlinger 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. 

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): 

Art. 82 GG verlangt, dass die nach den Vorschriften 
dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze im 
Bundesgesetzblatt verkündet werden. Das vorliegende 
Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Verkündung 
und Bekanntmachungen setzt an dieser grundgesetzli- 
chen Regelung an und geht einen fortschrittlichen Weg, 
indem es die nicht mehr zeitgemäße Form der Veröffent- 
lichung im Bundesgesetzblatt durch eine elektronische 
Form der Veröffentlichung im Bundesanzeiger ersetzt. 

Der Bundesanzeiger wird nun ausschließlich in elek- 
tronischer Form erscheinen, da das Nebeneinander von 
Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger 
nicht mehr erforderlich und zudem unwirtschaftlich ist. 

Wie die bisherige gedruckte Fassung des Bundesan- 
zeigers enthält auch die elektronische Form zwei Teile; 
einen amtlichen Teil und einen Teil für beispielsweise 
gerichtliche Bekanntmachungen, Bekanntmachungen 
der Kommunen und gesellschaftsrechtliche Bekanntma- 
chungen. 

Die beschriebenen Bekanntmachungen und Verkün- 
dungen erhalten ihre rechtsverbindliche Fassung mit 
der Einstellung in das Internet. Personen ohne Internet- 
zugang erhalten Ausdrucke des Bundesanzeigers oder 
bestimmter Teile des Bundesanzeigers gegen ein Entgelt. 

Drei Aspekte sprechen für die ausschließliche Veröf- 
fentlichung in elektronischer Form: 

Zuerst ist hier zu nennen, dass der Zugang der Bevöl- 
kerung zu den Gesetzestexten deutlich vereinfacht wird. 
Gleichzeitig erhält der Informationssuchende die Mög- 
lichkeit, die Suchfunktionen der elektronischen Fassung 
zu nutzen und einen umfassenden Einblick in die jeweili- 
gen Ausgaben des Bundesanzeigers zu erhalten. Somit 
gewinnt der Informationssuchende Zeit bei der Recher- 
che, und die Zurverfügungstellung der zu verkündenden 
Texte erfolgt ebenfalls ohne Zeitverzug. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16623 


Dr. Patrick Sensburg 

(A) Weiter wird der Zugang aus dem Ausland erst durch 
die elektronische Veröffentlichung ermöglicht. Durch 
die elektronische Veröffentlichung erhält somit nicht nur 
jeder in Deutschland wohnende Interessierte Zugang, 
sondern auch jede Person, die im Ausland wohnt und In- 
teresse an den in Deutschland verkündeten Texten hat. 
Im europäischen Kontext wird so ein Zusammenwachsen 
gefördert. 

Letztlich können durch die Umstellung auf die elek- 
tronische Verkündung bei Druck und Vertrieb Kosten- 
einsparungen realisiert werden. Diese Einsparungen 
kommen der Wirtschaft zugute. Dies ist dem Umstand 
geschuldet, dass nach dem Vertrag mit der Bundesanzei- 
ger Verlagsgesellschaft Kostensenkungen weiterzuge- 
ben sind. 

Mit dem heute zu beschließenden Gesetz zur Ände- 
rung von Verkündung und Bekanntmachungen wird aber 
gleichzeitig eine Korrektur des Gesetzes zur Reform der 
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung vom 
29. Juli 2009, Bundesgesetzblatt I, Seite 2258, beschlos- 
sen. Die entsprechenden Korrekturen und Änderungen 
sind im Wesentlichen die grundlegende Neukonzeption 
der Vermögensverzeichnisse und der Schuldner-Ver- 
zeichnisse. Die Vermögensverzeichnisse und die Schuld- 
nerverzeichnisse werden derzeit in Papierform geführt 
und lokcd bei den einzelnen Vollstreckungsgerichten ver- 
waltet. Dies beeinträchtigt die Effektivität von Vollstre- 
ckungsmaßnahmen des Gläubigers erheblich. 

Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der 
Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung am 1. Ja- 

(B) 

nuar 2013 werden die Vermögensverzeichnisse künftig in 
jedem Land zentral an einem Vollstreckungsgericht ver- 
waltet. Die Schuldnerverzeichnisse werden zentral an 
diesem Vollstreckungsgericht geführt. Beides erfolgt 
künftig in elektronischer Form. 

Im Zuge der Ausarbeitung der Verordnung über das 
Vermögensverzeichnis hat sich Anpassungsbedarf bei 
den gesetzlichen Grundlagen für den Erlass der Verord- 
nungen ergeben. Die Änderungen sind für den Erlass ei- 
ner widerspruchsfreien Verordnung, die auf die prakti- 
schen Bedürfnisse der Länder abgestimmt ist, zwingend 
notwendig. 

Das Gesetz über Änderungen von Vorschriften über 
Verkündungen und Bekanntmachungen, das einerseits 
eine elektronische Form des Bundesanzeigers festlegt 
und gleichzeitig einige notwendige Korrekturen an dem 
Gesetz zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangs- 
vollstreckung vornimmt, stellt für den interessierten 
Bürger eine Erleichterung in zeitlicher Hinsicht dar und 
schafft eine zeitnähere Informationsmöglichkeit des 
Bürgers. Gleichzeitig führt die Einführung des elektroni- 
schen Bundesanzeigers zur Einsparung von Druck- und 
Vertriebskosten, ohne solche Kosten ungerechtfertigter 
Weise umzuverteilen. 

Auch im Hinblick auf die Entwicklungen in der Euro- 
päischen Union ist die Einführung des elektronischen 
Bundesanzeigers notwendig. Das Amtsblatt der Euro- 
päischen Union wird nun elektronisch veröffentlicht. 
Das entsprechende Gesetz wurde am 27. Oktober 2011 


in zweiter und dritter Lesung beraten und angenommen. 
Damit nun der deutsche Standard der Veröffentlichung 
des Bundesanzeigers nicht hinter dem europäischen 
Standard zurückbleibt, ist die Einführung des elektroni- 
schen Bundesanzeigers unabdingbar. 

Der Einwand, dass nicht jedem der Zugang zum Bun- 
desanzeiger möglich sei, da Ausdrucke nur gegen Ent- 
gelt erhalten werden können, schlägt fehl. § 6 Abs. 2 des 
Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über Verkün- 
dungen und Bekanntmachungen schreibt fest, dass Ver- 
öffentlichungen im amtlichen Teil des Bundesanzeigers 
von jedermann unentgeltlich ausgedruckt und gespei- 
chertwerden können. Lediglich der Bezug einzelner Ver- 
öffentlichungen ist entgeltpflichtig. Jeder hat mithin die 
Möglichkeit, den amtlichen Teil des Bundesanzeigers 
entgeltfrei einzusehen. 

Da das vorliegende Gesetz mithin bei Schaffung vie- 
ler Vorteile für den interessierten Bürger und sogar fi- 
nanzieller Einsparmöglichkeiten keinerlei Nachteile 
birgt, darf ich um die Zustimmung zu diesem Gesetz wer- 
ben. 

Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass die christlich- 
liberale Koalition selbst bei so praktischen Vorhaben 
wie der elektronischen Veröffentlichung des Bundesan- 
zeigers gleichzeitig fortschrittliche und an den Interes- 
sen der Bürger orientierte politische Entscheidungen 
fällt. 

Dr. Edgar Franke (SPD): 

Der Bundesanzeiger soll künftig ausschließlich elek- 
tronisch geführt werden. Mit dem vorliegenden Gesetz- 
entwurf soll das Verkündungs- und Bekanntmachungs- 
wesen des Bundes für den Bereich der Verkündungen 
und Bekanntmachungen im Bundesanzeiger nur noch 
elektronisch erfolgen. 

Die Rechtsnormen sind der Öffentlichkeit in einer 
Weise förmlich zugänglich zu machen, dass die Betroffe- 
nen sich verlässlich Kenntnis von ihrem Inhalt verschaf- 
fen können. Nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgeset- 
zes werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes 
zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten 
nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesge- 
setzblatt verkündet. Rechtsverordnungen des Bundes 
werden nach Art. 82 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes 
von der Stelle, die sie erlässt, ausgefertigt und grund- 
sätzlich ebenfalls im Bundesgesetzblatt verkündet. 
Rechtsverordnungen können alternativ gemäß Art. 82 
Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit den Regelungen des 
Gesetzes über die Verkündung von Rechtsverordnungen, 
RVVerkG, auch im Bundesanzeiger verkündet werden. 

In elektronischer Form sollen Verkündungen und Be- 
kanntmachungen im Bundesanzeiger künftig unproblema- 
tisch bereitgestellt werden. Die Bezeichnung ,, Bundesanzei- 
ger'' wird weitergeführt. Das nutzt dem Bekanntheitsgrad 
des Oigans und unterstreicht die grundgesetzlich geforderte 
Verlässlichkeit. 

Ein wichtiges Argument für die ausschließliche Ein- 
führung des elektronischen Bundesanzeigers ist die er- 
hebliche Kosteneinsparung. Druck und Vertrieb des 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Edgar Franke 

(A) Bundesanzeigers verursachen hohe Kosten. Der Auf- 
wand für die Herstellung einer Papierausgabe für Infor- 
mationen, wie etwa Tarife oder technische Regeln, die 
nur von einem vergleichsweise kleinen Kreis von Spezi- 
alisten nachgefragt werden, ist unverhältnismäßig. Der 
Gesetzentwurf führt zu Recht aus, dass mit dem elektro- 
nischen Bundesanzeiger inzwischen eine funktionsfä- 
hige elektronische Veröffentlichungsmöglichkeit besteht, 
die dem bisherigen gedruckten Bundesanzeiger überle- 
gen ist. 

Durch die Veröffentlichung im elektronischen Bun- 
desanzeiger werden die Rechtsnormen der Öffentlichkeit 
zugänglich gemacht. Der gedruckte Bundesanzeiger 
wurde nur noch von etwa 1 700 Abonnenten bezogen. 
Die elektronische Fassung bietet über das Internet eine 
sehr gute Verbreitungsmöglichkeit. Zu Recht wird im 
Gesetzentwurf festgestellt, dass ein Nebeneinander von 
Bundesanzeiger und elektronischem Bundesanzeiger da- 
mit nicht mehr erforderlich und unwirtschaftlich ist. 

Durch eine Zusammen führung der verschiedenen 
Verkündungen im elektronischen Medium können die 
An forderungen an eine ordentliche Verkündung auf Voll- 
ständigkeit einerseits und einfache Handhabbarkeit so- 
wie zügige Veröffentlichung andererseits ideal erfüllt 
werden. 

Bei der Bekanntmachung muss aber auch die Identi- 
tät des Textes selbst sichergestellt werden. Dies betrifft 
zum einen die „Authentizität" , die inhaltliche Überein- 
stimmung mit der Originalvorlage. Das hat auch mit 

(ß) „Amtlichkeit“ zu tun. Die Bürgerinnen und Bürger ver- 
trauten darauf, dass fehlerhafte oder gar falsche Texte 
schnell erkannt und publik gemacht werden. Dieses Ver- 
trauen, das vor edlem auch mit der greifbaren Verfüg- 
barkeit der Hefte verbunden ist, fehlt dem elektronischen 
Dokument. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Er- 
scheinungsbild eines Gesetzblattes imitiert wird und ge- 
zielt Fälschungen in Umlauf gebracht werden. In den 
Begründungen zu den einzelnen Paragrafen des Gesetz- 
entwurfs ist zur Umsetzung des § 7 die Verwendung und 
Beifügung einer qualifizierten elektronischen Signatur 
entsprechend dem Signaturgesetz vorgesehen. 

Die Überprüfung sollte aber für den Anwender direkt 
möglich sein, das heißt, die Überprüfung muss direkt auf 
der Webseite des Bundesanzeigers angeboten werden. 
Es darf nicht sein, dass die Anwender eine Software von 
Drittanbietern erst auswählen, dann downloaden und 
installieren müssen. 

Zum anderen betrifft dies die Formatierung der In- 
halte. Die Sicherungsanforderungen des § 7 Abs. 2 se- 
hen vor, dass ein Dokument in einem ständig und dauer- 
haft verfügbaren und lesbaren Format bereitgestellt 
wird. Durch technische Vorkehrungen muss sicherge- 
stellt sein, dass nachträgliche inhaltliche Veränderun- 
gen eines Dokuments zuverlässig erkennbar sind. 

Dies kann nach unserer Auffassung und bestätigt 
durch die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für 
Recht und Informatik e. V, die DGRI, das PDF-Format 
gewährleisten. Das Portable Document Format ist ein 


ständig und dauerhaft verfügbares Format, das den ISO- (C) 
Standards entspricht. 

Der Änderungsantrag der Regierungsfraktionen be- 
trifft fast ausschließlich unwesentliche redaktionelle Än- 
derungen. Außerdem soll durch Änderung des § 802 k 
Abs. 1 ZPO (S. 37, 45 AA) künftig ermöglicht werden, 
dass die Länder eine zentrale und länderübergreifende 
Datensammlung einrichten und per Internet verfügbar 
halten können, unter der eine Einsichtnahme in die Ver- 
mögensverzeichnisse möglich ist. Diese soll allerdings 
erst im Jahr 2013 in Kraft treten. 

Vermögensverzeichnisse müssen angelegt werden im 
Rahmen der Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung 
nach der Abgabenordung wegen Steuerschulden und im 
Rahmen einer Vermögensauskunft, die vom Gerichts- 
vollzieher bei der Vollstreckung von Geldforderungen 
abverlangt werden kann. 

Die Einsichtnahme ist möglich für Gerichtsvollzieher, 
Vollstreckungsgerichte, Insolvenzgerichte, Registerge- 
richte und Strafverfolgungsbehörden. Bisher gibt es eine 
solche bundesweite Datensammlung nach § 882 b ZPO 
nur für das Schuldnerverzeichnis, in das Name, Adresse, 
Geburtsdatum und Aktenzeichen von Schuldnern einge- 
tragen werden, wenn die Eintragung im Rahmen der 
Zwangsvollstreckung, der Eintreibung einer Steuer- 
schuld oder im Rahmen eines Insolvenzverfahrens ange- 
ordnet wird. 

Die zentrale bundesweite Sammlung von Vermögens- 
verzeichnissen ist ein großer Datensammelschritt, aber 
richtig. Ohne diese Sammlung müssten die Behörden (ß) 
und Gerichte erst das bundesweite Schuldnerverzeichnis 
einsehen und dann in den Ländern nachforschen, ob es 
dort Vermögensverzeichnisse gibt. 

Mechthild Dyckmans (FDP): 

Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften über Ver- 
kündung und Bekanntmachungen hat zum einen das 
Ziel, den Bundesanzeiger künftig ausschließlich elektro- 
nisch über das Internet herauszugeben. 

Darüber hinaus werden weitere Änderungen der ZPO 
und der Abgabenordnung vorgenommen, die im Wesent- 
lichen Korrekturen hinsichtlich der Vorschriften über 
die Vermögensverzeichnisse enthalten. 

Diese unterschiedlichen Regelungsmaterien bedin- 
gen auch eine Anpassung des Titels des Gesetzes. 

Der Bundesanzeiger wird kün ftig ausschließlich elek- 
tronisch über das Internet herausgegeben werden. Da- 
mit wird das Nebeneinander von Bundesanzeiger und 
elektronischem Bundesanzeiger, das seit Inbetrieb- 
nahme der elektronischen Veröffentlichung im Jahr 
2002 besteht, aufgegeben. Der gedruckte Bundesanzei- 
ger, dessen Druck und Vertrieb hohe Kosten verursa- 
chen, wurde zuletzt nur noch von etwa 1 200 entgelt- 
pflichtigen Abonnenten in einer Stückzahl von 1 700 
Exemplaren bezogen, während die Verbreitungsmög- 
lichkeit über das Internet wesentlich mehr Interessenten 
erreicht. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, über den ei- 
genen Internetanschluss, ein Internetcafe oder eine öf- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Mechthild Dyckmans 

(A) fentliche Bibliothek Einsicht in den elektronischen Bun- 
desanzeiger zu nehmen. Daneben erhalten Personen, die 
mit dem Internet nicht umgehen wollen oder können, die 
Möglichkeit, Ausdrucke des Bundesanzeigers oder be- 
stimmter Teile davon gegen Entgelt zu beziehen. Die 
elektronische Veröffentlichung wird inzwischen auf- 
grund spezieller Ermächtigungen in verschiedenen Ge- 
setzen sicher und erfolgreich auch für die Verkündung 
von Rechtsverordnungen genutzt. Damit liegen ausrei- 
chende Erfahrungen mit diesem Medium vor, und ein 
Nebeneinander von gedruckter Fassung und elektroni- 
schem Bundesanzeiger ist nicht mehr erforderlich und 
darüber hinaus auch unwirtschaftlich. 

Durch die neue Form der Veröffentlichung wird der 
Zugang der Bevölkerung zu den Gesetzestexten wesent- 
lich verbessert. Die Gesetze werden schneller und leich- 
ter auffindbar und auch die jederzeitige Einsicht vom 
Ausland her wird erst durch die elektronische Verkün- 
dung möglich. 

Wichtig ist, dass die Funktion des Bundesanzeigers 
als Bekanntmachungs- und Verkündungsorgan erhalten 
bleibt, und ebenso wichtig ist, dass ein sicheres Verfah- 
ren entwickelt wurde, das Authentizität und Dauerhaf- 
tigkeit der veröffentlichten Texte gewährleistet. 

Mit der Umstellung auf die alleinige elektronische 
Verkündung und Bekanntmachung des Bundesanzeigers 
können auch praktische Erfahrungen gesammelt werden 
auf dem Weg zu einem einheitlichen elektronischen 
Rechtsinformationssystem. 

(B) Der zweite Hauptgegenstand des Gesetzentwurfs be- 
trifft im Wesentlichen Korrekturänderungen des Geset- 
zes zur Reform der Sachaufklärung, das zum 1. Januar 
2013 in Kraft tritt und eine Vielzahl von Verbesserungen 
bei der Informationsgewinnung bei der Durchführung 
der Zwangsvollstreckung mit sich bringt. Schuldner- 
und Vermögensverzeichnis werden künftig zentral ver- 
waltet und in elektronischer Form geführt, wobei die 
Einzelheiten betreffend Verwaltung und Löschung der 
Verzeichnisse durch Rechtsverordnung geregelt werden. 
Im Rahmen der Ausarbeitung der Verordnungen hat sich 
ein Korrekturbedarf bei den gesetzlichen Grundlagen 
für ihren Erlass ergeben, der zeitnah vorgenommen wer- 
den muss, damit die Länder ausreichend Gelegenheit 
haben, die elektronische Führung der Verzeichnisse ein- 
zuführen. Dabei befürworten die Länder ausdrücklich 
einen einheitlichen bundesweiten Abruf der Vermögens- 
verzeichnisse über eine Adresse im Internet. Dies soll 
durch § 802 kAbs. 1 ZPO ermöglicht werden. 

Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zeigt 
der Gesetzgeber, dass er die moderne Informations- und 
Kommunikationstechnologie auch in Gesetzgebung und 
öffentlicher Verwaltung verantwortungsbewusst ein- 
setzt. 

Jens Petermann (DIE LINKE): 

Der Bundesanzeiger wird seit Jahrzehnten in Papier- 
form durch das Bundesministerium für Justiz veröffent- 
licht. Daneben wurde am 30. August 2002 der elektroni- 
sche Bundesanzeiger eingerichtet. Beide werden mittler- 


weile für gesellschaftliche und amtliche Bekanntma- (C) 
chungen sowie für die Verkündung von Rechtsverord- 
nungen genutzt. 

Im Zuge der Entwicklung hin zu einer papierlosen 
bzw. papierarmen Verwaltung begrüßt die Linke die aus- 
schließlich elektronische Herausgabe des Bundesanzei- 
gers über das Internet. Zudem ist nach Ausführungen 
des Statistischen Bundesamtes die Bedeutung der kos- 
tenintensiven Papierform stark zurückgegangen. Alles 
in allem ein Schritt in die richtige Richtung. 

Doch nun kommt das obligatorische Aber der Linken: 

Der umfangreiche Änderungsantrag der Koalition zu ih- 
rem eigenen Gesetzentwurf beseitigt fast ausschließlich 
Fehler, die redaktioneller Natur sind. Aber: Ganz am 
Ende taucht auf einmal ein neuer Artikel zur Zivilpro- 
zessordnung auf Und was regelt dieser? Absolut gar 
nichts, was mit dem elektronischen Bundesanzeiger zu 
tun hat. Nein, laut Begründung werden vermeintliche 
Fehler, die mit dem Gesetz zur Reform der Sachaufklä- 
rung in der Zwangsvollstreckung gemacht wurden, aus- 
gebügelt. Das heißt, in einem laufenden Gesetzgebungs- 
verfahren zu einer speziellen Sachmaterie wird eine 
vollkommen neue Sachmaterie ohne Bezug zum ur- 
sprünglichen Gesetz behandelt. Und um dem ganzen 
Vorgang noch eine Krone aufzusetzen, hat die Koalition 
versucht, das gesamte Verfahren ohne Debatte in einer 
ersten, zweiten und dritten Lesung durch den Bundestag 
zu schleusen. Aber nicht mit uns! Die Vorgehensweise, 
einfach einem Gesetzentwurf durch einen Änderungsan- 
trag eine völlig fremde Materie ohne Sachzusammen- 
hang anzuhängen, in der Hoffnung, dass es niemand be- 
merken wird, ist unseres Erachtens eine unzulässige 
Umgehung der formellen Vorschriften zum Gesetzge- 
bungsverfahren. Auf diese Weise wird die erste Lesung 
der neuen Sachmaterie übergangen, sodass sich der 
Bundestag nicht in verfassungskonformer Weise mit der 
Materie beschäftigen konnte. Meine Damen und Herren 
der Koalition, es hat schon seinen Sinn, jede Gesetzes- 
änderung in drei Lesungen im Bundestag zu verhandeln. 
Finden Sie nicht? 

Da die Koalition diese Verfahrensweise häufiger 
wählt, habe ich beim Wissenschaftlichen Dienst des 
Deutschen Bundestages ein Gutachten in Auftrag gege- 
ben. Dieses hatte die Frage zu klären, ob dieses Omni- 
busverfahren mit Art. 76 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar 
ist. 

Darin heißt es: Eine Veränderung eines Gesetzent- 
wurfs durch Anderungsbeschliisse des federführenden 
Ausschusses würde verfassungsrechtlich dann proble- 
matisch, wenn sie auf ein dem Ausschuss nicht zustehen- 
des Gesetzesinitiativrecht hinauslaufen würde. Die Ge- 
schäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt, dass 
die Ausschüsse dem Bundestag bestimmte Beschlüsse 
nur empfehlen dürfen, wenn sie sich auf die in ihren Vor- 
lagen oder mit diesen in unmittelbaren Sachzusammen- 
hang stehenden Fragen beziehen. Ein eigenes Initiativ- 
recht gegenüber dem Plenum steht den Ausschüssen 
nicht zu - § 62 Abs. 1 Geschäftsordnung des Deutschen 
Bundestages. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Jens Petermann 

(A) Der Geschäftsordnungsausschuss hat in seiner Ausle- 
gungsentscheidung vom 15. November 1984 Folgendes 
festgelegt: Ausschussmitglieder dürfen bei der Beratung 
eines Gesetzentwurfs Anträge zu seiner Änderung oder 
Ergänzung einbringen, die in unmittelbarem Sachzu- 
sammenhang zu der Vorlage stehen. Ein unmittelbarer 
Sachzusammenhang ist anzuerkennen, wenn die Ergän- 
zungen am Gesetzgebungsgrund oder an den Gesetzge- 
bungszielen der ursprünglichen Vorlage anknüpfen. 

Da im vorliegenden Fall durch den Änderungsantrag 
Vorschriften zur Zwangsvollstreckung aufgenommen 
wurden, die mitnichten mit dem Gesetzgebungsgrund 
oder auch den Gesetzgebungszielen, den elektronischen 
Bundesanzeiger festzuschreiben, verknüpfbar sind, ist 
der erforderliche Sachzusammenhang nicht gegeben. 
Durch Annahme dieses Änderungsantrages und Vorlage 
zum Plenum verstößt der Rechtsausschuss gegen seine 
Pflicht aus § 62 Geschäftsordnung des Bundestages und 
maßt sich das Gesetzgebungsinitiativrecht des Art. 76 
Abs. 1 Grundgesetz an. Das ist nicht hinnehmbar. 

Die Linke kann nicht sehenden Auges einem nicht 
verfassungsgemäß entstandenen Gesetzentwurf die Zu- 
stimmung erteilen und muss demnach unabhängig von 
den inhaltlichen Erwägungen leider mit Ablehnung vo- 
tieren. 

Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Das Internet und andere elektronische Medien gewin- 
nen in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung. 
Über das Internet können wir auf eine unendliche Fülle 

(B) von Dokumenten zugreifen. Die Informationsbeschaf- 
fung ist auf diese Weise leichter und vor allem schneller 
geworden. Im Laufe der Zeit haben wir uns immer wie- 
der neuen technischen Herausforderungen gestellt und 
haben unser Leben daran angepasst. E-Mails haben bin- 
nen kürzester Zeit dem Briefverkehr den Rang abgelau- 
fen. Eine komplett neue Infrastruktur der Kommunika- 
tion hat sich eröffnet. Wer kann sich heute noch eine 
Welt ohne elektronische Medien vorstellen? 

Auch die deutsche Verwaltung und Justiz haben sich 
den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation 
gegenüber aufgeschlossen gezeigt. Eine klare Tendenz 
zur verstärkten Nutzung elektronischer Kommunika- 
tionsformen ist erkennbar. Nicht umsonst entstehen neu- 
deutsche Begriffe wie „E-Justice“, die elektronische 
Justiz. Als erfolgreiches Beispiel der elektronischen Jus- 
tiz möchte ich hier das EGVP nennen - das Elektroni- 
sche Gerichts- und Verwaltungspostfach. Das EGVP ist 
eine Software, die es Verfahrensbeteiligten ermöglicht, 
mit Gerichten, Behörden und untereinander elektroni- 
sche Nachrichten schnell und sicher auszutauschen. 
Zum einen macht dies eine effizientere Bearbeitung bei 
den Gerichten und Behörden möglich. Zum anderen er- 
leichtert es den Bürgerinnen und Bürgern den Zugangzu 
Gericht und Behörden. Mitte dieses Jahres waren bereits 
45 000 Nutzer des EGVP registriert, wie dem Internet zu 
entnehmen ist. 

Die elektronische Fassung des Bundesanzeigers ist 
bereits heute jedem Internetnutzer frei zugänglich. Die 
Onlineversion erleichtert nicht nur den Zugriff auf den 


Bundesanzeiger, sondern vereinfacht auch die Reeller- (C) 
che. Jede und jeder Internetnutzer kann jederzeit gezielt 
Informationen zu bestimmten Rubriken oder mittels Voll- 
textsuche erlangen. Wird die Druckversion des Bundes- 
anzeigers abgeschafft, wie mit dem Entwurf, den wir 
heute diskutieren, geplant, verringern sich Verwaltungs- 
aufwand und Bürokratiekosten. Die Verkündung wird 
beschleunigt. Deutschland kann so auch im internatio- 
nalen Trend hin zur verstärkten Elektronisierung mithal- 
ten. Die Europäische Union plant übrigens gerade, die 
elektronische Fassung des Amtsblatts der Europäischen 
Union als rechtsverbindliche Version einzuführen. 

Bei allen Vorteilen dürfen wir aber nicht außer Acht 
lassen, dass nicht alle Bürger am technischen Fort- 
schritt gleichermaßen teilhaben. Deshalb müssen wir 
gewährleisten, dass auch Nichtinternetnutzern der Zu- 
griff auf den Bundesanzeiger möglich bleibt. Niemand 
darf aufgrund technischer Barrieren vom Informations- 
zugang ausgeschlossen werden oder Nachteile erleiden. 

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht hierzu 
vor, dass Ausdrucke einzelner Veröffentlichungen des 
Bundesanzeigers gegen ein angemessenes Entgelt beim 
Betreiber des Bundesanzeigers bezogen werden können. 

Der Zugang zur elektronischen Version ist demgegen- 
über kostenfrei. Menschen ohne Internetzugang sind in 
der Regel ältere Personen oder Personen, die in sehr 
ländlichen Gegenden leben. Für diese ist häufig auch 
der Zugang zu einer Bibliothek nicht ohne Weiteres mög- 
lich. Wir müssen darauf achten, dass das verlangte Ent- 
gelt für einen Ausdruck des Bundesanzeigers tatsächlich 
„ angemessen “ ist. Kosten, die über Bearbeitungsgebüh- (D) 
ren und Porto hinaus gehen, sind nach meiner Ansicht 
eine unzulässige Diskriminierung der Menschen, die 
keinen Internetzugang haben. Dem müssen wir Vorbeu- 
gen. 

Mit dem Gesetzentwurf haben wir die Möglichkeit, 
Erfahrungen mit Onlineveröffentlichungen zu sammeln. 

Diese Erfahrungen können wir auch dazu nutzen, 
Onlineveröffentlichungen weiterer amtlicher Blätter, 
wie zum Beispiel des Bundesgesetzblattes, anzustoßen. 

Die Elektronisierung von Dokumenten ist zwar keine 
neue Idee, jedoch kann sie für die elektronische Veröf- 
fentlichung von Bundesblättern ein Pilotprojekt bilden. 

Wir sollten zukunftsgerichtet denken und uns neuen 
Möglichkeiten nicht verschließen. Gleichzeitig sollten 
wir uns vom technischen Fortschritt nicht unter Druck 
setzen lassen. Ein Vorgehen Schritt für Schritt halte ich 
an dieser Stelle für den richtigen Weg. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss 
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- 
sache 17/7560, den Gesetzentwurf der Bundesregierung 
auf Drucksache 17/6610 in der Ausschussfassung anzu- 
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in 
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- 
zeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bünd- 
nis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten. Wer 
stimmt dagegen? - Das ist die Linksfraktion. Vorsichts- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16627 


Vizepräsident Eduard Oswald 

(A) halber frage ich: Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent- 
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. 

Dritte Beratung 

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - 
Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grü- 
nen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - 
Das ist die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Der 
Gesetzentwurf ist angenommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21a und b auf: 

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta 
Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 
sowie der Abgeordneten Agnes Malczak, Volker 
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN 

Gegen eine Aufweichung des Verbots von 
Streumunition 

-Drucksache 17/7637 — 

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge 
Höger, Jan van Aken, Christine Buchholz, weite- 
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

Streumunition nicht wieder zulassen - Gegen 
ein Protokoll über Streumunition zum CCW 

- Drucksache 17/7635 - 

(B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die 
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Sie sind da- 
mit einverstanden. Damit ist das so beschlossen. 

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für 
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau 
Uta Zapf. - Bitte schön, Frau Kollegin Uta Zapf. 

Uta Zapf (SPD): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 
haben uns in diesem Jahr schon mehrfach mit dem Thema 
Streumunition beschäftigt. Im Mai und im September 
haben wir ein Round-Table-Gespräch mit Vertretern von 
Nichtregierungsorganisationen zum Thema Investi- 
tionsverbot in Firmen, die Streumunition hersteilen, 
durchgeführt. Am 20. Oktober dieses Jahres haben wir 
die Reden zu diesem Antrag zu Protokoll gegeben. Heute 
reden wir zwar zu später Stunde darüber, aber ich glaube, 
es ist gut, dass wir die Reden heute nicht zu Protokoll ge- 
ben; denn dieses Thema ist von großer Wichtigkeit. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie der Abg. Inge Höger 
[DIE LINKE]) 

Ein Aspekt im Zusammenhang mit Streumunition ist 
in der heutigen Debatte von ganz besonderer Brisanz: 
Der Inhalt und der Geist des von uns allen hochgelobten 
Oslo-Abkommens zum Verbot von Streumunition steht 
auf dem Spiel. Die Convention on Cluster Munition, 
CCM, wurde von uns, vom Deutschen Bundestag, ein- 
dringlich gefordert. Wir waren alle froh, dass die Bun- 


desregierung die Konvention von Oslo sehr schnell ge- (C) 
zeichnet hat und wir sie im Jahr 2009 ratifiziert haben. 

Wir sind alle sehr froh darüber, dass wir vorfristig mit 
der Vernichtung dieser grausamen Munition fertig sein 
können. 

In dem Protokoll, über das ich hier rede, geht es auch 
um Streubomben. Man muss sagen: „immer noch“; denn 
bereits 2008 wurde deutlich, dass ein Verbot von Streu- 
munition nicht in die UN-Waffenkonvention aufgenom- 
men würde. Daraufhin hat die norwegische Regierung 
den sogenannten Oslo-Prozess initiiert. Es entstand ein 
Übereinkommen zum Verbot von Streumunition außer- 
halb der Genfer Abrüstungskonferenz. Ich zitiere den 
Außenminister. Minister Westerwelle nannte diese Kon- 
vention einen „Meilenstein hin zu einer weltweiten Äch- 
tung dieser unmenschlichen Waffen“. Jetzt will ebendie- 
ser Außenminister der Konvention jegliche Wirkung 
rauben, indem er bei der anstehenden vierten Revisions- 
konferenz vom 14. bis 25. November dieses Jahres in 
Genf einem zahnlosen Protokoll zustimmen will. Mir 
will die Logik eines solchen Verhaltens einfach nicht in 
den Kopf. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 

Das von uns ratifizierte Abkommen von Oslo be- 
inhaltet ein umfassendes Verbot dieser grausamen 
Waffe, die Zivilisten, Kinder, Alte und Junge ohne Un- 
terschied tötet, und dies noch Jahre nach Abwurf. Im- 
merhin 111 Staaten haben die Konvention unterzeichnet; 
viele EU- und NATO-Staaten sind dabei. Nur die ganz 
großen Staaten und Besitzer dieser Waffen, vor allen (D) 
Dingen die USA, Russland und China, aber auch Indien, 
Pakistan und einige andere - sie produzieren und ver- 
kaufen diese Munition und wenden diese an -, sind nicht 
dabei. Sie sind es, die auf eine Miniversion des Verbots 
im UN-Kontext drängen. Durch dieses Protokoll würde 
ihre Weigerung, auf diese inhumane Waffe zu verzich- 
ten, legitimiert. Ich glaube, das können wir nicht wollen. 

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 

DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der 
LINKEN) 

Die Oslo-Konvention hat in hohem Maße zur Delegi- 
timierung und Stigmatisierung von Streumunition beige- 
tragen. China und Russland nehmen zum Beispiel als 
Beobachter an den Konventionskonferenzen teil. Beide 
sind nicht Vertragsstaaten und haben hohe Bestände an 
Streumunition. Die USA verzichten seit geraumer Zeit 
auf den Einsatz dieser Waffen. 

In dieser Situation soll im November im Rahmen der 
Convention on Certain Conventional Weapons, CCW, 
über Streumunition verhandelt werden. Das erst 2011, 
also kürzlich erneuerte Mandat soll sich - ich zitiere - 
„mit der humanitären Problematik durch Streumunition 
... befassen und dabei eine Balance zwischen militäri- 
schen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten ... 
wahren“. Schon dieser Satz ist eine Ungeheuerlichkeit. 

Das, was vorgeschlagen wird, ist noch ungeheuerli- 
cher. Künftig wäre wieder erlaubt, was von der Oslo- 
Konferenz verboten wurde. Nur wenige Einschränkun- 



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Uta Zapf 

(A) gen werden auferlegt. Produktion und Transfer bleiben 
erlaubt. Nur Streumunition, die vor 1980 hergestellt wor- 
den ist, wird verboten; alles andere bleibt erlaubt. Die 
Munition, die vor 1980 hergestellt wurde, hat eine Über- 
gangsfrist von zwölf Jahren. Dies ist ein Null verbot, weil 
derart überalterte Munition heute ohnehin nicht mehr ein- 
gesetzt wird. Der Text des Entwurfes erlaubt darüber hi- 
naus die Nutzung für weitere zwölf Jahre. Sollte dies be- 
schlossen werden, werden alle der Oslo-Konvention 
nicht beigetretenen Länder leichten Gewissens wieder 
Streumunition verwenden. 

Streumunition mit einer Fehlerquote von bis zu 1 Pro- 
zent mit integriertem Sicherheitsmechanismus wäre er- 
laubt. Aber Fehlerquoten sind im Test realistisch nicht 
feststellbar. Im Libanon wurde 2006 die M 85 eingesetzt, 
die eine Fehlerquote von unter 1 Prozent haben sollte; 
tatsächlich kam es bei ihrem Einsatz zu 15 Prozent 
Blindgängern. 

Ein solches Protokoll ist in der Tat eine Nulllösung. 
Die humanitäre Frage wird nicht gelöst. Im Gegenteil: 
Es gibt keine konkrete Verpflichtung zur Opferunterstüt- 
zung, zur Munitionsbeseitigung, zur Lagerbestands- 
auflösung usw. Mit diesem Protokoll wird also alles, was 
in Oslo beschlossen wurde, wieder rückgängig gemacht. 
Es ist richtig - dieses Argument wird jetzt natürlich ge- 
nannt werden Deutschland bleibt selbstverständlich an 
die hohen Standards von Oslo gebunden. Deutschland 
gäbe aber den USA, China, Russland, Pakistan, Israel 
und noch einigen anderen, die ein Zusatzprotokoll über 
Streumunition abgelehnt haben, einen Freibrief, ohne 
(ß) schlechtes Gewissen in die Steinzeit der Streumunition 
zurückzufallen. 

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des 
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 

Die Argumentation, man hole diese Staaten näher an 
die Oslo-Standards heran, kann ich angesichts dieses 
mickrigen Entwurfs nun wirklich nicht teilen. Ich zitiere 
aus dem Abrüstungsbericht: Die Bundesregierung glaubt, 
„substanzielle Verpflichtungen der großen Herstellerlän- 
der und einen deutlichen humanitären Mehrwert“ zu er- 
zielen, der „die weltweite Streumunitionssituation ent- 
scheidend verbessern“ wird. Das glaube ich nicht. Das ist 
auch nicht zu erwarten. Der Vertreter eines Landes, das 
über große Bestände verfügt, nämlich der russische UN- 
Botschafter Antonov, hat zu diesem Entwurf - er nennt 
ihn „Verbotsvertrag“ - gesagt, dieser Verbotsvertrag 
dürfe Russlands Verteidigungsfähigkeit in Bezug auf den 
Einsatz von Streumunition nicht beeinträchtigen und 
keine finanziellen Konsequenzen für sein Land haben, 
und alle technischen Vorschriften des Verbotsvertrages 
müssten unverbindlich formuliert sein. 

Ich fordere die Bundesregierung auf, über einen sol- 
chen Entwurf nicht zu verhandeln, sich dem zu verwei- 
gern und damit die Oslo-Kriterien, die wir erkämpft und 
unterschrieben haben, zu schützen und beizubehalten. 

Ich danke Ihnen. 

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christoph 


Schnurr [FDP]: Das wird so oder so passie- 
ren!) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Zapf. - Nächster Redner 
ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Erich 
Fritz. Bitte schön, Kollege Erich Fritz. 

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 
neten der FDP) 

Erich G. Fritz (CDU/CSU): 

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen 
und Herren! Abrüstungsschritte und die Ächtung von be- 
stimmten Waffen auf unterschiedlichen Feldern waren in 
den letzten Jahren weltweite Erfolge; da sind wir uns ei- 
nig. Wir sind uns auch darin einig, dass es keinen Ein- 
satz von Streumunition mehr geben soll und dass wir mit 
aller Entschiedenheit für die Beseitigung dieser Waffen 
kämpfen wollen. Das sind Waffen, die von der Welt ver- 
schwinden müssen. 

Diese eindeutige Position Deutschlands wird nicht al- 
lein daran deutlich, dass hierzulande keine Produktion 
solch inhumaner Waffen stattfindet. Tatsache ist auch, 
dass Deutschland einen erheblichen Beitrag dazu geleis- 
tet hat, dass wir mit dem CCM-Protokoll bzw. der Oslo- 
Konvention vorankommen. Dieser völkerrechtliche Ver- 
trag beinhaltet das Verbot des Einsatzes, der Herstellung 
und der Weitergabe bestimmter Typen von konventionel- 
ler Streumunition und ist am 1. August 2010, wie Frau 
Kollegin Zapf schon gesagt hat, in Kraft getreten - ein 
wichtiger Schritt, den man nicht hoch genug einschätzen 
kann. 

Wünschenswert wäre nun, dass die weltweite Staaten- 
gemeinschaft den CCM- Vertrag ratifiziert. Das ist nach 
unserer Auffassung das Ideal. Auch mit noch so viel Ide- 
alismus ist an dieser Stelle aber leider eine eindeutige 
Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen: Gegenwärtig er- 
fasst das Übereinkommen nur 10 bis 20 Prozent der 
weltweiten Streumunitionsbestände. Deshalb frage ich: 
Was muss man angesichts der Gewissheit, dass einige 
Staaten das CCM-Übereinkommen nicht, zumindest 
nicht kurz- oder mittelfristig, ratifizieren werden, tun? 
Was der Vertreter eines dieser Länder in aller Offenheit 
gesagt hat, haben wir gerade gehört. 

Hier wird im Prinzip die Schwäche plurilateraler Ab- 
kommen sichtbar. Häufig sind die Gutwilligen die Ver- 
tragspartner, aber die, auf die es besonders ankäme, ste- 
hen, weil sie scheinbar bedeutende Interessen wahren 
wollen, abseits. 

(Uta Zapf [SPD]: Immerhin die Hälfte der 
NATO-Staaten!) 

Wie soll man das überbrücken? Das ist die Kunst. 

Das Protokoll VI zum Übereinkommen der Vereinten 
Nationen über bestimmte konventionelle Waffen, CCW, 
bleibt hinter den restriktiven Festlegungen des Vertrags 
von Oslo zurück. Hier gibt es keine Fehldeutung; das ist 
eine Tatsache. Dennoch ist die Umsetzung dieses Proto- 
kolls nach unserer Auffassung wünschenswert, da es den 



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Erich G. Fritz 

(A) einzigen zurzeit möglichen Einstieg in ein weltweites 
und mit der Autorität eines UN- Abkommens ausgestat- 
tetes Streumunitionsregime darstellt. Ein solches mit 
dieser Bedeutung gibt es bisher nicht. Es wäre nicht all- 
umfassend - klar - und erreichte nicht das Niveau des 
Oslo-Abkommens, aber erstmals wäre die Teilnahme 
und Zustimmung von Russland und den Vereinigten 
Staaten möglich. 

(Christoph Schnurr [FDP]: Völlig richtig!) 

Ein multilateraler Ansatz unter Einbindung der Groß- 
mächte - das wäre ein solcher - brächte uns also einen 
Schritt in die richtige Richtung. Multilaterale Regeln 
würden die Politik gegen Streumunition auf eine neue, 
qualitativ höhere Stufe stellen. 

Erstens wird ein sofortiges Verbot von Streumunition, 
die vor 1980 hergestellt wurde, erreicht. Sie ist zu zerstö- 
ren. Das kann man bagatellisieren, und darüber kann 
man auch gut diskutieren, aber das ist ein Zugeständnis, 
das nicht zu erwarten war und mit dem wir uns zunächst 
einmal doch zufrieden zeigen können. 

Zweitens gibt es ein Verbot jeder nach 1980 herge- 
stellten Streumunition ohne Sicherheitsmechanismus. 
Da wir eine bestimmte Einschätzung dieser Waffen ha- 
ben, tröstet uns das nicht sehr. Staaten, die diese Bedin- 
gungen nicht sofort erfüllen können, werden für nach 
1980 produzierte Streumunition Übergangsfristen er- 
möglicht. Sie haben gleich die höchstmögliche ange- 
führt. Eigentlich sollen es für Gebrauch, Lagerung und 
Rückbehalt acht Jahre sein - einmalig um vier Jahre ver- 

(B) längerbar. Für eine Weitergabe von Streumunition, also 
den Transfer, den Sie angesprochen haben, Frau Zapf, 
sowie für deren Beschaffung und Produktion sind Über- 
gangsfristen dagegen nicht vorgesehen. Hier müssen Sie 
noch einmal hinschauen. 

Nicht zu verachten ist, dass die quantitative Wirkung 
des Protokolls von Anfang an deutlich höher wäre als die 
des gesamten Oslo-Übereinkommens. Eben dies ist der 
entscheidende Punkt. Wichtig ist im Ergebnis doch nicht 
die Anzahl der Staaten, die mitmachen, sondern die 
Menge an Munition, die keine Gefährdung mehr darstel- 
len kann. 

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist 
die Richtung, in die es jetzt geht! - Agnes 
Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es 
geht ja um die Wirkung!) 

- Auch das, ja, klar. 

Der potenzielle Einsatz der ältesten und unzuverläs- 
sigsten Streumunitionstypen sowie deren Weiterverbrei- 
tung würde zumindest stark begrenzt. Das kann einem 
zu wenig sein und ist uns allen zu wenig. Wenn diese 
Möglichkeit aber besteht, dann ist es doch allein aus hu- 
manitären Aspekten geboten, sie auch zu nutzen. 

(Christoph Schnurr [FDP]: Ja!) 

Die hier eingebrachten Anträge sind hingegen Status- 
quo-orientiert und somit leider wenig konstruktiv. Ich 
meine sogar, sie mindern die Durchsetzungsfähigkeit des 


Verbots von Streumunition, indem sie das VN -Protokoll VI (C) 
blockieren. Dabei führt dieses Protokoll dazu, dass Staa- 
ten, die das CCM-Übereinkommen noch nicht unter- 
zeichnet haben, zumindest gewisse Limitierungen und 
Reglements beachten. 

(Beifall des Abg. Christoph Schnurr [FDP]) 

Mir wäre es auch lieber, die anderen Staaten hätten 
das Oslo-Übereinkommen ratifiziert. Ich glaube, nie- 
mand hier hat eine andere Vorstellung. Genau deshalb 
hat die Bundesregierung seit 2008 viele diplomatische 
Versuche unternommen, mehr Staaten von der Ratifizie- 
rung des CCM zu überzeugen. Aber Sie wissen, wer mit 
welchen Interessen und aus welchen mehr oder weniger 
nachvollziehbaren Gründen das nicht getan hat. 

Wenn wir jetzt auf die Rolle Deutschlands innerhalb 
der Vereinten Nationen eingehen, dann ist es vielleicht 
wichtig, zu erwähnen, dass angesichts unserer derzeiti- 
gen Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat und des deut- 
schen Bestrebens, in den VN mehr Verantwortung zu 
übernehmen, auch ein besonderes deutsches Interesse an 
der Stärkung der Vereinten Nationen und seiner Institu- 
tionen besteht. 

(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das ist eine Schwächung, wenn das so 
durchkommt!) 

Ein Scheitern der Verhandlungen im November, das 
durch die Anträge in Kauf genommen oder sogar geför- 
dert wird, würde nicht nur eine Abwertung der Vereinten 
Nationen im Allgemeinen, sondern auch des CCW, also (D) 
des UN-Protokolls, als wichtigem Forum der Vereinten 
Nationen im Besonderen nach sich ziehen. Das gilt es 
auf jeden Fall abzuwenden. Im Gegenteil müssen wir 
versuchen, dieses Protokoll mit einer höchstmöglichen 
Autorität auszustatten. Durch das VN-Protokoll werden 
erstmals auch Verbotsstandards für die großen Hersteller 
geschaffen. 

Jetzt wird es vielleicht ein bisschen technisch: Eine 
klar definierte Bemühensklausel würde diese großen 
Hersteller dazu verpflichten, sich in Zukunft auf stärkere 
Verbote einzulassen. Sie wissen doch selbst, auf welche 
Prozesse man sich einlassen muss und dass man gedul- 
dig sein muss, um solche Ziele zu erreichen. Alleine die 
Forderung, man müsse sich auf das einlassen, was wir 
für richtig halten, ist ja leider kein besonders guter Bei- 
trag zur Lösung dieser Probleme. Ich plädiere deshalb 
dafür, dass Deutschland in den Verhandlungen den Fo- 
kus auf eine Verschärfung der aktuellen Bemühensklau- 
sel legt. Es war Deutschland, das diese für meine Be- 
griffe schon starke Brücke zwischen CCM und CCW in 
die Verhandlungen eingebracht hat. 

Man bedenke, dass alleine die USA 300 Millionen 
Stück Submunition zerstören müssten. Das ist mehr als 
doppelt so viel Streumunition, wie alle Oslo-Vertrags- 
staaten zusammen zerstören müssen. 

(Christoph Schnurr [FDP]: So ist es, ja!) 

Das ist doch eine Hausnummer. 



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Erich G. Fritz 

(A) (Christoph Schnurr [FDP]: Das ist ein Meer an 
Vernichtung! - Uta Zapf [SPD]: Und was dür- 
fen sie behalten?) 

- Sie gehen ja davon aus, dass mit einem solchen Proto- 
koll der ganze moralische Druck sozusagen weggenom- 
men wird. Das bestreite ich. 

(Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN]: Das ist naiv!) 

Wir dürfen über dem Wünschenswerten nicht das 
Mögliche aus den Augen verlieren. Insofern liegt es in 
unserem Interesse, wenigstens einen Großteil der Streu- 
munitionsbestände so schnell wie möglich zu vernichten 
und die bestehende Lücke jenseits der Oslo-Zeichner zu 
schließen. Die legitime Forderung nach universeller 
Übernahme der CCM-Standards ist weiterhin unser Be- 
streben. Daran halten wir fest. Meines Erachtens steht 
das aber nicht im Widerspruch zu den Verhandlungen 
über ein VN-Protokoll. 

Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass mit der An- 
nahme des VN -Protokolls eine verminderte Stigmatisie- 
rungswirkung einhergehen würde. 

(Uta Zapf [SPD]: Natürlich! Was denn sonst?) 

Ganz im Gegenteil belegt das Nebeneinander von AP II 
und Ottawa-Konvention in der ähnlich gelagerten Frage 
des Verbots von Antipersonenminen, dass auf einer 
solch zweigleisigen Strecke Fortschritte möglich sind. 

Rechtlich - so entnehme ich einer juristischen Exper- 

(B) teneinschätzung - schließen sich das VN-Protokoll und 
die CCM-Standards nicht aus. Ich war nicht bei der An- 
hörung, sondern habe das nur nachgelesen. Dabei hat 
mich die Darstellung von Frau Dr. Jana Hertwig vom 
Bochumer Institut für Friedenssicherungsrecht und Hu- 
manitäres Völkerrecht überzeugt. Sie erklärte: Das Wie- 
ner Übereinkommen über das Recht der Verträge aus 
dem Jahre 1969 hält für den Fall, dass Staaten Vertrags- 
parteien aufeinander folgender Verträge über denselben 
Gegenstand sind, eine entsprechende Regelung in 
Art. 30 Abs. 2 bereit. Dort heißt es: 

Bestimmt ein Vertrag, dass er einem früher . . . ge- 
schlossenen Vertrag untergeordnet ist ..., so hat der 
andere Vertrag Vorrang. 

Der VN-Protokollentwurf enthält ausdrücklich eine 
solche Bestimmung, in welchem Verhältnis das Proto- 
koll zum Oslo-Übereinkommen stehen soll. In Art. 1 
Ziff. 3 heißt es, dass das Protokoll die Rechte und Pflich- 
ten der Vertragsstaaten des Oslo-Übereinkommens nicht 
beeinträchtigt. Oslo geht vor! 

(Uta Zapf [SPD]: Das habe ich doch gesagt! 

Aber was hilft das?) 

Das ist wichtig. Deshalb ist es keine Relativierung, son- 
dern der Versuch der Einbeziehung derer, die bis jetzt 
abseits gestanden haben und die wir durch kein Mittel 
der Welt außer über den Schritt eines gemeinsamen Pro- 
tokolls mit der Autorität der UNO in dieses System 
hineinbekommen. 


Das Oslo-Übereinkommen hat für die Vertragsstaaten (C) 
also weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit. Ein künfti- 
ges Protokoll VI würde diesen früheren Normenstandard 
des CCM nicht unterminieren. Ich wünsche mir, dass zu- 
mindest dies als gemeinsame Einschätzung festgehalten 
werden kann. 

Ferner heißt es in dieser Einschätzung: Die spätere 
Annahme eines schwächeren Vertrages kann die pro- 
gressive Weiterentwicklung rechtlicher Standards durch- 
aus bedingen. Der VN-Protokollentwurf ist hierfür ein 
gutes Beispiel; denn nur mit den darin enthaltenen Zuge- 
ständnissen wird es gelingen, Staaten, die zu den wich- 
tigsten Herstellern, Exporteuren und Besitzern von 
Streumunition gehören, zur Ratifizierung des Protokolls 
zu bewegen. - Anders als bei der Mehrzahl der Oslo- 
Staaten hätten wir es hier mit genau den Staaten zu tun, 
die über erhebliche Mengen an Streumunition verfügen. 

Das VN-Protokoll setzt zwar schwächere, aber neue An- 
reize für die Staaten, die große Bestände an Streumuni- 
tion haben. 

Ich glaube, dass der eigentliche Wert des CCM-Ab- 
kommens ein hoher moralischer Anspruch an diejenigen 
ist, die nicht beteiligt sind, und ein Appell, sich zu bewe- 
gen. Dies wird durch eine Weiterbehandlung in diesem 
UN-Protokoll eher verstärkt als verringert. Unser ge- 
meinsames Ziel bleibt, dass ein vollständiges Verbot von 
Streumunition am Ende des Prozesses steht. Für uns ist 
das UN-Protokoll dazu ein wichtiger Schritt, den wir un- 
terstützen. 

Danke schön. 

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Kollege Erich Fritz. - Jetzt für die Frak- 
tion Die Linke unsere Kollegin Frau Inge Höger. Bitte 
schön, Frau Kollegin Inge Höger. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Inge Höger (DIE LINKE): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Streumu- 
nition macht ganze Regionen unbewohnbar. Dies gilt im 
Krieg und lange danach. Nicht explodierte Reste von 
Streumunition zerfetzen Bauern bei der Feldarbeit und 
verstümmeln Kinder beim Spielen. 

In diesem Sommer habe ich Minenräumer in Sarajevo 
besucht. Ich konnte mich mit eigenen Augen davon 
überzeugen, wie kompliziert, wie opferreich und wie 
teuer die Beseitigung von Geschossresten ist. Deutsch- 
land hat angekündigt, auch in Libyen Minen räumen zu 
wollen. Das ist gut. Aber viel besser ist es, dafür zu sor- 
gen, dass solche Waffen gar nicht erst zum Einsatz kom- 
men. 

(Beifall bei der LINKEN) 

Streumunition tötet unterschiedslos Soldaten und An- 
gehörige der Zivilbevölkerung. Die meisten Opfer sind 
Zivilisten, häufig Kinder. Solche Waffen und solche For- 
men der Kriegsführung verbietet das humanitäre Völker- 
recht eindeutig. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Inge Höger 

(A) Deswegen war es überfällig, dass im April 2009 auch 
der Bundestag einstimmig beschloss, die Ächtung von 
Streumunition durch die Ratifizierung der Oslo-Konven- 
tion umzusetzen. Für die Linke habe ich damals erklärt, 
dass wir diesen Schritt ausdrücklich unterstützen. Wir 
haben aber auch darauf hingewiesen, dass es für die Zu- 
kunft gilt, noch einige Lücken, die in der Konvention 
enthalten sind, zu schließen und Ausnahmeregelungen 
ebenfalls zu verbieten. 

Doch nun wird auf UN-Ebene mit Unterstützung 
Deutschlands über Regelungen verhandelt, die komplett 
in die falsche Richtung gehen. Ich spreche vom Proto- 
koll VI zum Übereinkommen über bestimmte konventio- 
nelle Waffen. Um es klar zu sagen: Was nächste Woche 
beschlossen werden soll, würde Streumunition wieder 
legalisieren. Das steht im Widerspruch zum Völkerrecht. 

Das sogenannte CCW-Protokoll würde lediglich ver- 
altete Typen von Streumunition verbieten, und selbst 
diese würden wegen langer Übergangsfristen nicht so- 
fort aus den Arsenalen der Militärs verschwinden. Profi- 
tieren würde von dieser Regelung die Rüstungsindustrie. 
Sie könnte sich über Aufträge für neue Generationen von 
Streumunition freuen. Das ist doch perfide. 

Bis jetzt war die Oslo-Konvention zum Verbot von 
Streumunition ein großer Erfolg. 111 Staaten sind ihr be- 
reits beigetreten. Andere Staaten wie USA, China, Russ- 
land, Israel und Indien haben dies zwar noch nicht getan, 
doch der internationale Druck auf diese Staaten und der 
Druck von Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb dieser 
Staaten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. 

(B) Dieser Druck, internationales Recht und humanitäre 
Standards einzuhalten, ist ein wichtiges Instrument zur 
Erreichung politischer Fortschritte. Das CCW-Protokoll 
würde diesen politischen Druck verringern. Es relativiert 
völkerrechtliche Standards und suggeriert, der Einsatz 
bestimmter Arten von Streumunition wäre völkerrechts- 
konform. Das ist er nicht. Der Einsatz von Streumunition 
ist und bleibt ein Verbrechen. 

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. 

Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) 

Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf: Bitte 
unterlassen Sie alles, was ein Ende der Ächtung von 
Streumunition bedeuten könnte! 

Lassen Sie mich an dieser Stelle auch etwas zum 
Agieren der anderen Fraktionen im Bundestag anmer- 
ken. Die Regierungsfraktionen haben offenbar verges- 
sen, dass Deutschland sich mit der Ratifizierung der 
Oslo-Konvention verpflichtet hat, andere Staaten nicht 
dabei zu unterstützen, etwas zu unternehmen, was durch 
die Oslo-Konvention verboten ist. 

(Dorothee Menzner [DIE LINKE]: Richtig!) 

Durch die Zustimmung zum CCW-Zusatzprotokoll 
machen Sie aber genau dies. Die FDP hätte sich an ihrer 
Schwesterpartei in der Schweiz orientieren können, de- 
ren Antrag wir hier fast wortgleich einbringen. Die 
Linke ist daran interessiert, den großen Konsens zur 
Ächtung von Streumunition aus dem Jahr 2009 auch 
weiter aufrechtzuerhalten. 


Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Stirn- (C) 
men Sie nächste Woche gegen das CCW-Zusatzproto- 
koll! 

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. 

Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Höger. - Jetzt für die 
Fraktion der FDP unser Kollege Christoph Schnurr. Bitte 
schön, Kollege Christoph Schnurr. 

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 
der CDU/CSU) 

Christoph Schnurr (FDP): 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich 
möchte mit einem Rückblick in eine Zeit beginnen, in 
der ein Krieg herrscht. In diesem Krieg kommt eine 
Waffe zum Einsatz, deren Folgen dramatisch sind. In ih- 
rer Wirkung unterscheidet die Waffe nicht zwischen Zi- 
vilisten und Soldaten. Sie tötet unterschiedslos. Auch 
Jahre nach ihrem Einsatz bleiben die betroffenen Ge- 
biete weitgehend unbewohnbar. 

Die Folgen sind so erschütternd, dass sich die Weltge- 
meinschaft zum Handeln gezwungen sieht. Die große 
Mehrheit der Staaten verpflichtet sich dazu, solche Waf- 
fen niemals mehr zu entwickeln, zu erwerben und schon 
gar nicht einzusetzen. 

Ein paar wenige Staaten sind aber nicht bereit, auf 
diese Waffenkategorie zu verzichten. Auch sie möchten 
die Waffen nicht unbedingt einsetzen. Die Option für ' ' 
den Ernstfall wollen sie sich trotzdem offenhalten. Ei- 
nige Jahre später einigen sich die größten Besitzerstaaten 
auf einen Kompromiss. Zwar wollen sie die Waffen 
nicht sofort aufgeben, sie verpflichten sich aber, ihre Be- 
stände deutlich zu reduzieren. Politik, Wissenschaft, 
Nichtregierungsorganisationen und die Medien sind sich 
weitestgehend darüber einig: Das ist - bei aller verblei- 
benden und berechtigten Kritik - ein Fortschritt. 

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es si- 
cherlich bemerkt: Ich spreche nicht von Streumunition, 
sondern ich spreche über Kernwaffen. Was aber hätte ich 
ändern müssen, wenn ich über Streumunition gespro- 
chen hätte? Nicht besonders viel! Es gibt noch keinen 
Kompromiss der größten Streumunitionsbesitzer, wie 
der Kollege Fritz es völlig zu Recht erwähnt hatte. Vor 
allem aber: Allein die Möglichkeit eines solchen Kom- 
promisses ruft bereits heute Abend hier bei der Opposi- 
tion und einigen anderen Empörung hervor. Diese Hal- 
tung haben Sie in diese beiden Anträge gegossen, die wir 
heute diskutieren. Sie fordern darin zum Beispiel, die 
Bundesregierung solle sich - so wörtlich - entschieden 
jedem Abkommen zu Streumunition entgegenstellen, 
welches einen Rückschritt gegenüber der CCM darstellt. 

(Inge Höger [DIE LINKE]: Genau!) 

Ein Rückschritt wäre es aus Ihrer Sicht wahrschein- 
lich auch, wenn das Protokoll nicht identisch mit der 
CCM wäre. Dass es zu einem mit der CCM identischen 
Protokoll kommt, ist aber von der Realität weit entfernt 



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Christoph Schnurr 

(A) und nahezu absurd. Da frage ich mich: Warum wurden 
die Verhandlungen in der CCW dann überhaupt aufge- 
nommen? Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kolle- 
gen der Sozialdemokratie, hätten das 2007 und 2008 ver- 
hindern können, als es noch einen sozialdemokratischen 
Außenminister gab. Ich mache Ihnen das nicht zum Vor- 
wurf, keinesfalls. Aber damals wie auch heute ist die 
CCW nicht nur ein Forum und ein Instrument, um das 
Thema Streumunition auf der internationalen Agenda zu 
halten, sondern eben auch ein Instrument, um Druck auf 
die Streumunitionsbesitzer auszuüben. Die Verhandlun- 
gen über ein Protokoll sollen auch ganz konkret auf die 
weltweite, rechtlich verbindliche Ächtung von Streumu- 
nition hinwirken. In den Vörbereitungssitzungen zur 
CCW-Überprüfungskonferenz wurde ein Protokollent- 
wurfdiskutiert, demzufolge Streumunition, die vor 1980 
produziert wurde, verboten werden soll. Aus meiner 
Sicht ist das allein nicht ausreichend. 

Trotzdem muss man sich auch die Dimension dieses 
Vorschlages einmal vergegenwärtigen. Allein die Verei- 
nigten Staaten müssten circa 40 Prozent oder, in absolu- 
ten Zahlen, 300 Millionen Stück ihrer Submunition ver- 
nichten. Das wäre fast die doppelte Menge dessen, was 
von den Oslo-Staaten zerstört werden muss. Dazu kom- 
men andere Verpflichtungen wie die zur Opferfürsorge 
und zur Räumung von Kampfmittelrückständen. Wenn 
der Protokolltext noch verbessert werden wird, kann es 
also durchaus einen humanitären Mehrwert geben. 

Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, warum ein 
Streumunitionsprotokoll nicht die Katastrophe wäre, als 
die Sie es gerne darstellen: die Abkommen zu Antiperso- 

' ' nenminen. Auf der einen Seite haben wir die Ottawa- 
Konvention, auf der anderen Seite das Protokoll II zur 
CCW. Obwohl hier zwei unterschiedlich starke Regelun- 
gen nebeneinanderstehen, wirkt die Stigmatisierung 
durch das stärkere Abkommen, nämlich die Ottawa- 
Konvention, fort. So könnte es auch im Fall der Streu- 
munition funktionieren. 

Ich kenne natürlich Ihre Einwände: Im Gegensatz zur 
Regelung bei Antipersonenminen würde bei der Streu- 
munition das schwächere dem stärkeren Abkommen fol- 
gen. Sie folgern daraus, dass die Stigmatisierung von 
Oslo verloren ginge. Zu dieser Einschätzung kann man 
kommen, ja; belegen lässt sie sich allerdings nicht. 

Ich komme deshalb zu einer anderen Bewertung - die 
Gründe dafür habe ich gerade dargelegt -: Ein Streumu- 
nitionsprotokoll in Genf kann - ich sage ausdrücklich: 
kann - ein Zwischenschritt hin zu einem universellen 
Verbot dieser Waffenkategorie sein. Der Protokollent- 
wurf für das letzte Vörbereitungstreffen im August - das 
sage ich ebenfalls ganz deutlich an dieser Stelle - gibt 
das noch nicht her. Hier muss es noch substanzielle Ver- 
besserungen geben, vor allem bei der Definition, welche 
Munition verboten wird. 

Meine Damen und Herren, unser Ziel ist am Ende 
doch das gleiche: Wir wollen, dass Streumunition welt- 
weit geächtet wird. Auch die Bundesregierung hat sich 
immer wieder zu diesem Ziel bekannt. Der Bundes- 
außenminister wurde zu Recht mit seinen sehr intelligen- 
ten und klugen Äußerungen in dieser Hinsicht schon zi- 


tiert. Aber wir müssen auch die Realität anerkennen. Wir (C) 
müssen fähig zu Kompromissen sein und sollten uns 
nicht schon im Vorfeld den Weg zu einem solchen Kom- 
promiss verbauen. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt spricht für die 
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Frau 
Agnes Malczak. Bitte schön, Frau Kollegin Malczak. 

Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Früh- 
jahr 2009 hat sich der Deutsche Bundestag einstimmig 
zu einem umfassenden Verbot von Streumunition be- 
kannt, und das aus gutem Grund. Die Oslo-Konvention 
ist ein Meilenstein hin zu einer weltweiten Ächtung die- 
ser unmenschlichen Waffe, die fast ausschließlich zivile 
Opfer fordert, darunter vor allem Kinder. Die Oslo-Kon- 
vention hat bereits jetzt maßgeblich zu einer internatio- 
nalen Stigmatisierung von Streumunition beigetragen, 
und zwar weit über den Kreis der Vertragsstaaten hinaus. 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 

DIE GRÜNEN) 

Auch große Anwenderländer, die der Konvention nicht 
beigetreten sind, wie die USA, China oder Russland, 
verzichten mittlerweile auf den Einsatz. Das ist ein Be- 
leg dafür, dass das Oslo-Übereinkommen wirkt. 

.. .. (D) 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 
und bei der SPD) 

Was wirkt, bewirkt jedoch oft Widerstand bei jenen, 
die sich an der Wirkung stoßen. Gerade weil das Oslo- 
Übereinkommen wirksam ist, ist es bedroht. Wenn wir 
wollen, dass die völkerrechtlichen Standards, für die wir 
lange gekämpft haben, erhalten bleiben, müssen wir sie 
immer wieder gegen Widerstände verteidigen. 

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Für wen galten sie 
denn bisher?) 

Die großen Hersteller- und Besitzerstaaten sind nun da- 
rum bemüht, die Wirkung Oslos auf sie selbst auszuhe- 
beln. Wie man das am besten macht, lässt sich zurzeit in 
Genf bei den Verhandlungen zum VN- Waffenüberein- 
kommen beobachten. Dort setzen sich einige Nichtver- 
tragsstaaten für neue Standards ein, die das umfassende 
Verbot von Streumunition untergraben würden. Um sich 
dem Wirkungsradius von Oslo zu entziehen, soll ein 
zweiter, laxer völkerrechtlicher Referenzrahmen ge- 
schaffen werden, in den Nichtvertragsstaaten dann ent- 
weichen können. Herr Kollege Fritz, Herr Kollege 
Schnurr, es ist eben nicht so, dass eine weitere völker- 
rechtliche Norm zu Streumunition schon deshalb wün- 
schenswert sein soll, weil sich ihr mehr Staaten anschlie- 
ßen; denn entscheidend sind doch die Qualität und die 
Wirkung der Norm. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16633 


Agnes Malczak 

(A) Hier würde eine von mehr Staaten durchgesetzte 
schlechtere Regelung eine von weniger Staaten getra- 
gene bessere Regelung verdrängen. 

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist eine fal- 
sche Interpretation, die Sie da haben!) 

Insbesondere die USA - auch darüber kann man ein- 
mal nachdenken - 

(Patrick Döring [FDP]: Denken hilft, das 
stimmt!) 

bemühen sich in Genf um ein Protokoll VI zu Streumu- 
nition, das nur ein Teilverbot von Munition vorsieht, die 
vor 1980 produziert wurde. Ein umfassendes Produk- 
tionsverbot, Zerstörungsfristen für vorhandene Be- 
stände oder Verpflichtungen zur Opferhilfe und Minen- 
räumung sucht man vergeblich. Sollte dieses Protokoll 
so verabschiedet werden - es ist naiv, zu glauben, dass 
sich da noch viel verändern wird, Herr Schnurr 

(Christoph Schnurr [FDP]: Aber sonst würden 
die sich doch nicht zusammensetzen!) 

hätten wir neue, schwächere Standards und eine Relegi- 
timierung neuerer Typen von Streumunition. De facto 
würde ein großer Teil dieser Waffen somit wieder für le- 
gal erklärt. 

(Patrick Döring [FDP]: Was Sie alles wissen!) 

Zwar wären Deutschland und andere Vertragsstaaten 
weiter an Oslo gebunden - Sie haben recht, Herr Kollege 

(B) Fritz; das hat auch niemand bestritten -, anderen Staaten 
aber, die außerhalb des Vertragsregimes stehen wie die 
USA, Russland, China, Israel oder Indien, wären die 
Produktion und der Einsatz von Streumunition auf ein- 
mal völkerrechtlich erlaubt. Das würde nicht nur der US- 
Regierung ermöglichen, ihr Streumunitionsarsenal auch 
noch mit Hinweis auf das Völkerrecht zu modernisieren. 
Wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz völlig 
zu Recht feststellt, würde damit ein Präzedenzfall im hu- 
manitären Völkerrecht geschaffen. Dann würde eine 
schwächere Norm zu einem Waffentyp vereinbart, für 
den es bereits höhere Standards gibt. Bisher gab es einen 
solchen Rückschritt nicht, und ich glaube, den kann man 
sich auch nicht wünschen. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Ich kann nur hoffen, dass der dringende Appell aus 
der Zivilgesellschaft von der Bundesregierung erhört 
wird, einem solchen Protokoll nicht zuzustimmen. Bis- 
her hat sich die Bundesregierung in dieser Frage nämlich 
leider nicht als eiserne Verfechterin der Oslo-Konven- 
tion hervorgetan. Im Gegenteil: Sie setzt sich weiter für 
ein Protokoll zu Streumunition ein. Damit nimmt sie 
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition billi- 
gend in Kauf 

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist falsch!) 

und verspielt leichtfertig die abrüstungspolitische Glaub- 
würdigkeit der Bundesrepublik. Damit nehmen Sie jegli- 


chen Druck von anderen Staaten, dieser Konvention bei- (C) 
zutreten. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN - Christoph 
Schnurr [FDP]: Die Verhandlungen beginnen 
doch erst!) 

Es ist daher nun am Deutschen Bundestag, sich gegen 
eine Aufweichung des Verbots von Streumunition auszu- 
sprechen. Die grüne Bundestagsfraktion hat hierfür ei- 
nen Antrag erarbeitet, den wir gemeinsam mit der SPD 
zur Abstimmung stellen. Wir bitten um Ihre Stimme für 
diesen Antrag und damit um Ihre Stimme gegen eine Zu- 
stimmung Deutschlands zu einem verheerenden Proto- 
koll zu Streumunition. 

Vielen Dank. 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 
bei der SPD und der LINKEN) 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Vielen Dank, Frau Kollegin Malczak. 

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag 
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- 
nen auf Drucksache 17/7637 mit dem Titel „Gegen eine 
Aufweichung des Verbots von Streumunition“. Wer für 
diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - 
Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, SPD- 
Fraktion und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Das 
sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. 

Der Antrag ist abgelehnt. (D) 

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke 
auf Drucksache 17/7635 mit dem Titel „Streumunition 
nicht wieder zulassen - Gegen ein Protokoll über Streu- 
munition zum CCW“. Wer stimmt für diesen Antrag? - 
Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die 
Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktio- 
nen. Enthaltungen? - Die Fraktion der Sozialdemokra- 
ten. Der Antrag ist abgelehnt. 

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 24: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Ausschusses für Kultur und Medien 
(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen 
CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE 
GRÜNEN 

Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthana- 
sie“-Morde 

- Drucksachen 17/5493, 17/7596 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Marco Wanderwitz 
Dr. h. c. Wolfgang Thierse 
Lars Lindemann 
Dr. Lukrezia Jochimsen 
Claudia Roth (Augsburg) 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor. 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


(A) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): 

Unter der NS-Schreckensdiktatur wurden auch Hun- 
derttausende Menschen mit Behinderungen und psychi- 
schen Erkrankungen in ganz Europa systematisch 
erfasst, für medizinische Experimente missbraucht, 
zwangssterilisiert und zu Zehntausenden ermordet. Ei- 
nes von leider vielen dunklen Kapiteln unserer jüngeren 
Geschichte, das uns Nachgeborene erschauern lässt, 
fassungslos macht ob der Abgründe des Menschlichen. 

Die Verpflichtung, die Aufarbeitung des NS-Terrors 
und der späteren SED-Diktatur in der ehemaligen DDR 
im Gedenkstättenkonzept des Bundes nicht nur fortzuset- 
zen, sondern zu verstärken, war integraler Bestandteil 
der Koalitionsverhandlungen der christlich-liberalen 
Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode. 

Die Morde an behinderten Menschen, insbesondere 
Patienten, die besonderen Schutzes bedurft hätten, dür- 
fen nicht in Vergessenheit geraten. Der Opfer zu geden- 
ken, ist Aufgabe von nationaler Bedeutung und gesamt- 
staatlicher Verantwortung. 

Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt die 
Euthanasieopfer daher ausdrücklich in unser nationales 
Gedenken ein. Bestandteil der Beschlussfassung 1999 
über die Errichtung des Denkmals für die ermordeten 
Juden Europas war daher auch die Verpflichtung, der 
anderen Opfer des Nationalsozialismus würdig zu ge- 
denken. 


(B) 


Unser Antrag steht entsprechend auf breiten, über- 
greifenden Füßen der demokratischen Fraktionen des 
Hauses. Das beweist, dass sich das Parlament in diesem 
wichtigen Punkt seiner gesamtgesellschaftlichen Verant- 
wortung bewusst ist und dafür Sorge tragen will, die Er- 
innerung im kollektiven Gedächtnis zu behalten. 


Der Antrag ist nicht nur als ein wichtiges Signal ge- 
gen das Vergessen an die Hinterbliebenen und Angehö- 
rigen zu verstehen. Er ist auch bedeutender Beitrag für 
die Erinnerung und Aufklärung der Nachgeborenen. 


Wir wollen die Aufwertung des gegenwärtigen Ge- 
denkortes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Wenn- 
gleich das Gebäude am historischen Standort der Pla- 
nung und Organisation dem Ort der Täter, an dem am 
Schreibtisch über Leben und Tod von Menschen ent- 
schieden wurde, nicht mehr steht, so ist doch das Kürzel 
T4 zum Begriff für diese Mordaktion geworden. Histori- 
scher Anknüpfungspunkt für das Erinnerungszeichen ist 
daher der Platz um die Berliner Philharmonie. 


Wir setzen auf die Ergebnisse des durch das Land 
Berlin auszuschreibenden Ideenwettbewerbs zur künst- 
lerischen Umgestaltung des Geländekomplexes am Kul- 
turforum. Unsere Hauptstadt würdigt damit ihren beson- 
deren Stellenwert in der Erinnerungskultur und kommt 
mit der anteiligen Übernahme der erforderlichen Mittel 
ihrer Verantwortung in kulturpolitischer Hinsicht ebenso 
wie der Bund nach. Angesichts der bestehenden Nut- 
zung des Areals an der Berliner Philharmonie und der 
nicht mehr vorhandenen Baulichkeiten sind einer Auf- 
wertung jedoch natürliche Grenzen gesetzt. Neben ei- 
nem Erinnerungszeichen am historischen Ort wollen wir 
gleichwohl die Thematik weiter bearbeiten. Über die Er- 


innerung hinaus sollen Information und Aufarbeitung (C) 
gestärkt werden. 

Wir wollen dafür einen angemessenen Rahmen schaf- 
fen und dafür Sorge tragen, dass das Verbrechen und 
seine Dimension stärker dokumentiert wird, dass die 
Opfer, aber auch die Täter und ihre ,, Motive“ darge- 
stellt werden. Dies soll ein wichtiger Bestandteil der Er- 
gänzung des vorhandenen Mahnmals in Zusammenar- 
beit mit der Stiftung „ Denkmal für die ermordeten Juden 
Europas“ unter Einbeziehung der Stiftung „Topogra- 
phie des Terrors“ werden. Wir begeben uns also in un- 
mittelbarer Nähe der Tiergartenstraße in die Tiefe. 

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): 

„Ewig einstehen gegen das Vergessen! “ Dies forderte 
Bundespräsident Christian Wulff im Januar dieses Jah- 
res bei seinem Besuch im früheren Konzentrationslager 
Auschwitz. Dieser Forderung kommen wir heute nach. 

Während der NS-Herrschaft wurden in Deutschland 
und den von Deutschland während des Zweiten Weltkrie- 
ges besetzten Gebieten Schätzungen zufolge bis zu 
300 000 Menschen mit Behinderungen und psychisch 
Kranke getötet. Auch Kinder, die in dieser Zeit mit 
Behinderungen geboren wurden, wurden systematisch 
ermordet. Für die Nationalsozialisten waren diese Men- 
schen „lebensunwert“ . Die menschenverachtende natio- 
nalsozialistische Rassenideologie forderte die Erfas- 
sung, Verfolgung und Ermordung dieser Menschen zur 
angeblichen „ Reinigung “ der Nation. Auch in meiner 
Heimatregion, in der Gemeinde Kropp bei Schleswig, hat 
das menschenverachtende System der Nationalsozialis- (D) 
ten in einer großen christlichen Behinderteneinrichtung 
tiefe Spuren hinterlassen. 

Die NS-, , Euthanasie “ gehört zu den dunkelsten Kapi- 
teln unserer Geschichte. Auch und gerade an diese Teile 
der Vergangenheit unseres Landes müssen wir uns erin- 
nern - zum Gedenken an die Opfer und ihr unermess- 
liches Leid sowie zur Vergegenwärtigung der Tatsache, 
dass Menschen zu solchen Taten fähig sein können und 
dass deshalb alles unternommen werden muss, um sol- 
che Verbrechen in Zukunft unmöglich zu machen. 

„Die nationalsozialistischen Morde an behinderten 
Menschen bzw. Patienten gehören in das kollektive Ge- 
dächtnis unserer Nation “, heißt es in unserem Antrag. 

Ich bin froh, dass es darüber fraktionsübergreifend eine 
Übereinstimmung im Deutschen Bundestag gibt und ein 
gemeinsamer Antrag der Koalition mit SPD und den 
Grünen zustande gekommen ist. Auch besteht Einigkeit 
in der Frage der Bundeszuständigkeit. Die Erinnerung 
an die NS- „Euthanasie“ -Morde ist auch eine Aufgabe 
von gesamtstaatlicher Verantwortung. Die Gedenkstät- 
tenkonzeption des Bundes schließt diese Opfergruppe 
auch ausdrücklich in das nationale Gedenken ein. Des- 
halb haben wir uns auf Bundesebene einvernehmlich 
dazu entschieden, einen zentralen Gedenkort zu schaf- 
fen. 

Zur Thematik der NS-, .Euthanasie“ fördert die Bun- 
desrepublik Deutschland die Gedenkstätte Pirna-Son- 
nenstein in Sachsen. Außerdem wurden Projekte der Ge- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16635 


Wolfgang Börnsen (Bönstrup) 

(A) denkstätten Grafeneck in Baden-Württemberg und 
Hadamar in Hessen unterstützt. In einer weiteren ehe- 
maligen Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel 
wird auch mit Mitteln aus der Gedenkstättenkonzeption 
des Bundes eine weitere Gedenkstätte aufgebaut. Doch 
auch Berlin muss Standort eines Gedenkortes sein. Als 
Hauptstadt der Bundesrepublik sowie als kultureller An- 
ziehungspunkt für Menschen aus Deutschland und der 
ganzen Welt nimmt Berlin einen zentralen Platz in der 
Erinnerungsarbeit des Bundes ein. Hier in Berlin - in 
der Tiergartenstraße 4 - wurde die sogenannte Aktion T4 
systematisch und zentral geplant. Hier war der Sitz der 
koordinierenden Dienststelle. Deshalb sollte auch hier 
- am historischen Ort der Planung der Verbrechen - ein 
sichtbares Zeichen gesetzt werden und sollten hier die 
Opfer gewürdigt werden. An einem düsteren Herbsttag 
in diesem Jahr war ich zuletzt an der besagten Stelle und 
war zutiefst betroffen bei dem Gedanken daran, was hier 
vor über 70 Jahren beschlossen worden war. Dabei 
wurde mir von Neuem deutlich, dass die derzeitige in 
den Boden eingelassene und leider kaum beachtete Ge- 
denktafel sowie die umgewidmete Plastik von Richard 
Serra nicht ausreichend sind, um an das Grauen, das 
von diesem Ort ausgegangen war, zu erinnern. 

Auch das für die Umsetzung zuständige Land Berlin 
steht in der Pflicht, edles zu tun, um den Verbrechen, die 
in dieser Stadt stattfanden, in angemessener Form Rech- 
nung zu tragen. Wir erwarten, dass Bund und Berlin ge- 
meinsam das bereits bestehende Denkmal aufwerten und 
gemeinsam die Opfer am historischen Ort würdigen. 

(B) Zum Schluss ist es mir ein Anliegen, den verschiede- 
nen bürgerschaftlichen Initiativen ausdrücklich für ih- 
ren langjährigen geduldigen, aber auch hartnäckigen 
Einsatz zu danken. Stellvertretend für viele weitere seien 
hier der Runde Tisch zu T4, die Deutsche Gesellschaft 
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 
sowie der Arbeitskreis zur Erforschung der national- 
sozialistischen „ Euthanasie “ und Zwangssterilisation 
genannt. Vor edlem ihnen ist es zu verdanken, dass die 
Opfer der NS-,, Euthanasie" -Morde nicht in Vergessen- 
heit geraten sind, bleibende Mahnmale und Dokumenta- 
tionen daran erinnern, dass wir edle aufgerufen sind, un- 
sere Demokreitie zu stärken, Extremisten abzuwehren, 
damit es nie wieder zu diktatorisch-autoritären Regie- 
rungen in unserem Land kommt, die Bürger- und Men- 
schenrechte mit Füßen treten. 

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): 

Daran, wie ein Gemeinwesen mit seinen Kranken um- 
geht, lässt sich erkennen, wie human es ist. Im national- 
sozialistischen Deutschland wurden Kranke ermordet. 
Die euphemistische Umschreibung für den systemati- 
schen, bürokratisch exakt organisierten Massenmord an 
körperlich und geistig beeinträchtigten Menschen lau- 
tete Euthanasie - das griechische Wort für den „ leich- 
ten“, den „schönen Tod". Der Tod, der im Gebäude der 
Berliner Tiergartenstraße 4 koordiniert wurde, war alles 
andere als leicht und schön. Ab 1939 und während des 
gesamten Zweiten Weltkrieges wurden Hunderttausende 
Menschen in Hospitälern und Heilanstalten vergast, 


vergiftet oder durch Vernachlässigung und Verhungern (C) 
dem Tod preisgegeben. 

Das Gebäude Tiergartenstraße 4 steht nicht mehr 
Heute erinnern ein kaum beachtetes Kunstwerk, eine In- 
formations- und eine Gedenktafel neben der Berliner 
Philharmonie an das Geschehen. Die Dimension des 
Verbrechens, sein ideologischer Kontext, das konkrete 
Handeln der Täter, die Lebensgeschichten der Opfer - 
all dies wird derzeit vor Ort nicht ausreichend vermit- 
telt. 

Mit dem vorliegenden gemeinsamen Antrag wollen 
wir das ändern. Wir sind der Auffassung, dass eine Auf- 
wertung des Gedenkortes erfolgen muss. Das grausame 
Kapitel der „Euthanasie" -Morde bedarf stärkerer Be- 
achtung. 

Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs setzt sich das 
Land Berlin für das Vorhaben ein. Der Bund wird die 
Umsetzung unterstützen. Für das Haushaltsjahr 2012 
hat der Beau ftragte für Kultur und Medien 500 000 Euro 
eingestellt, eine Summe, bei der sich - ich formuliere 
das vorsichtig - noch heraussteilen muss, ob sie ausrei- 
chen wird, um eine angemessene und würdige Gestal- 
tung zu realisieren. 

Dass der Antrag zustande kam, haben wir eindrucks- 
vollem bürgerschaftlichen Engagement zu verdanken. 
Wissenschaftler, Vereine und Verbände setzen sich seit 
vielen Jahren für die Neugestaltung des historischen Or- 
tes T4 ein. 

Umso ärgerlicher ist, dass sich die Koalitionsfraktio- (D) 
neu einer Expertenanhörung im Ausschuss verweigert 
haben! Die SPD-Fraktion hat sich wiederholt für ein 
Fachgespräch eingesetzt. Nun soll nach Verabschiedung 
des Antrages ein Fachgespräch erfolgen: Ein ärgerli- 
ches Verfahren. Als wäre die Zustimmung von Schwarz- 
Gelb zum Antrag lediglich ein ängstliches Zugeständnis. 

Sie geben ein äußerst zwiespältiges Bild ab. 

Die SPD steht zu diesem Antrag! Ich will es noch ein- 
mal ausdrücklich betonen: Einsatz und Beharrlichkeit 
der Initiativen sind kaum hoch genug zu schätzen! Sie 
hätten es verdient, im Deutschen Bundestag gehört zu 
werden! 

Dass sich vor knapp einem Jahr die Deutsche Gesell- 
schaft der Psychiater, Psychotherapeuten und Nerven- 
heilkundler zu der Schuld ihrer Berufskollegen in der 
Zeit des Nationalsozialismus bekannt hat, begrüße ich - 
auch wenn die öffentliche Stellungnahme sehr spät er- 
folgte. Dass die Gesellschaft das Handeln der an den 
„Euthanasie" -Morden und weiteren Medizinverbrechen 
beteiligten Fachärzte untersuchen lässt, ist ein richtiger 
Schritt. Die Ergebnisse sollen in einer Ausstellung prä- 
sentiert werden. Ich kann mir gut vorstellen und würde 
es unterstützen, diese Ausstellung hier im Bundestag zu 
zeigen. 

Der Antragstext ist- das kann bei einem interfraktio- 
nellen Antrag kaum verwundern - an verschiedenen 
Stellen unscharf formuliert. Lassen Sie mich deshalb 
zwei Punkte präzisieren. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



16636 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. h. c. Wolfgang Thierse 

(A) Klarheit ist erstens darüber zu schaffen, wie weit die 
geplante Aufwertung des Gedenkortes gehen soll. Die 
Linke hätte am liebsten ein neues Dokumentations- 
zentrum und trägt unseren Antrag deshalb nicht mit. Die 
Koalitionsfraktionen unterstützen die Neugestaltung 
zwar, tendieren aber zum anderen Extrem und wünschen 
sich nur minimale Veränderungen. Dies ist zu wenig. 


Die Stiftung ,, Denkmal für die ermordeten Juden 
Europas“ wird hier eine wichtige Rolle spielen. Dem 
Charakter des Ortes entsprechend halte ich aber die 
Stiftung ,, Topographie des Terrors“ für besonders ge- 
eignet, die Aufgaben der Dokumentation und der päda- 
gogischen Arbeit zum Thema zu übernehmen. Ich plä- 
diere dafür, dass die Stiftung „ Topographie des Terrors “ 
(B) dem Thema einen dauerhaften Platz in ihrer Ausstellung 
einräumt. 


lieh den Opfern der Aktion T4 gewidmete Plastik von 
Richard Serra und eine Informationstafel zur Aktion T4 
an die dort geplanten Morde. 

Alle Fraktionen sind sich einig: Die derzeitige Form 
der Erinnerung und Information an diesem Ort reichen 
nicht aus, um einem Vergessen angemessen entgegen- 
wirken zu können. Aus diesem Grund haben die Fraktio- 
nen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen 
einvernehmlich beschlossen, die Bundesregierung auf- 
zufordern, sich in Zusammenarbeit mit dem Land Berlin 
dafür einzusetzen, dass das bereits bestehende Denkmal 
eine angemessene Würdigung am historischen Ort der 
Planung Aktion T4 erhält und dass an einem solchen Ort 
die Information über die ,, Euthanasie“ -Morde und die 
damit zusammenhängenden NS-Verbrechen nicht fehlen 
dürfen. 

Ich bedauere es sehr, dass die Fraktion Die Linke sich 
dieser Initiative durch Zustimmung bisher nicht an- 
schließen konnte. Die Fraktion Die Linke hat im Aus- 
schuss für Kultur und Medien einen Änderungsantrag 
eingereicht, in dem ein Dokumentations- und Informa- 
tionszentrum gefordert wird. Dieser Antrag wurde von 
der Mehrheit des Ausschusses abgelehnt. 

Es ist unrichtig, in der Öffentlichkeit zu behaupten, 
dass durch die Bundesregierung eine Informationsstätte 
zur Aktion T4 nicht gewollt sei. Ganz im Gegenteil: Es 
gibt bereits vier Gedenkstätten, die der Bund in erhebli- 
chem Maße mit unterstützt. So fördert der Bund zusam- 
men mit dem Freistaat Sachsen die Gedenkstätte Pirna- 
Sonnenstein, wo sich eine der Tötungsanstalten befand. 
Aus Mitteln der Gedenkstättenkonzeption des Bundes 
wurden der Aufbau der Gedenkstätten Grafeneck, Ba- 
den-Württemberg, und Hadamar, Hessen, ermöglicht. 
Ein weiteres Projekt des Bundes betrifft den Aufbau ei- 
ner Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel. 

Mit unserem Antrag entsteht nun ein Ort in der Mitte 
Berlins, an dem eine angemessene Würdigung am histo- 
rischen Standort der Planung und Organisation der 
Aktion T4 möglich sein wird. Der Bund wird dazu im 
Rahmen des Haushaltes des Beauftragten der Bundesre- 
gierung für Kultur und Medien gemeinsam mit dem 
Land Berlin Gelder zur Verfügung stellen. Information 
und Dokumentation zur Aktion T4 sind jedoch nicht aus- 
geschlossen, sondern in der Nachbarscha ft - in der Stif- 
tung Topographie des Terrors - möglich. 

Unter den zahlreichen Erinnerungsorten, Denkmalen 
und Museen, mit denen heute in Berlin an die Zeit des 
Nationalsozialismus erinnert wird, nimmt die Stiftung 
Topographie des Terrors als „Ort der Täter “ eine be- 
sondere Stellung ein. Die Aktion T4 findet dort mit ihren 
600 000 Besuchern pro Jahr sehr viel mehr Aufmerk- 
samkeit als durch ein neues Informationszentrum in der 
Tiergartenstraße 4. 


Über diese Präzisierungen wird noch zu sprechen 
sein. Verehrte Kollegen der Koalitionsfraktionen: Schie- 
ben Sie das Fachgespräch nicht auf die lange Bank! 

Lars Lindemann (FDP): 

Es steht außer Frage: Wir tragen als Deutsche be- 
sondere Verantwortung, um der Opfer der NS-Terror- 
herrschaft zu gedenken, um die heutige und zukünftige 
Generation zu malmen und zu informieren. Teil des na- 
tionalsozialistischen Rassenwahns war die Erfassung, 
Verfolgung und Ermordung „ lebensunwerten Lebens “, 
die Verfolgung und Ermordung von Menschen mit Be- 
hinderungen und psychisch Kranken. 

Von September 1939 bis April 1940 fielen mehr als 
10 000 psychiatrische Patienten aus Pommern, West- 
preußen und dem Wartheland den Krankenmorden auf 
dem damaligen besetzten Gebiet Polens zum Opfer. Von 
Januar 1940 bis August 1941 wurde die sogenannte Ak- 
tion T4 durchgeführt, bei der in eigens eingerichteten 
Gasmordanstalten mehr als 70 000 Psychiatriepatienten 
und -patientinnen systematisch und zentral geplant er- 
mordet wurden. Die Aktion T4 wurde benannt nach dem 
Sitz der koordinierenden Dienststelle in der Tiergarten- 
straße 4. 

Wir sind uns fraktionsübergreifend einig: Dieser Ort 
benötigt ein würdiges Gedenken. Heute erinnert nur 
eine im Boden eingelassene Gedenktafel, eine nachträg- 


Damit zukünftige Besucher die Qualität des histori- 
schen Ortes erfassen können, bedarf es grundlegender 
Informationen. Drei Aspekte halte ich dabei für beson- 
ders wichtig: Die Opfer sind zu würdigen. Die Täter sind 
zu benennen. Der Ort sollte für Besucher kenntlich wer- 
den, beispielsweise durch Kennzeichnen der Umrisse 
des einstigen T4-Gebäudes. Auch Hinweise auf die be- 
stehenden Gedenk- und Informationsstätten in Deutsch- 
land und Europa sind erforderlich. Die dezentrede Um- 
setzung und die schiere Dimension der „Euthanasie“ - 
Verbrechen müssen deutlich werden. 

Zweitens ist zu klären, welche Einrichtung geeignet 
wäre, sich der Thematik der „Euthanasie“ -Morde dau- 
erhaft anzunehmen. Dabei muss der weitere Kontext na- 
tionalsozialistischer Erbgesundheitspolitik, Eugenik 
und der sogenannten Rassenhygiene beleuchtet werden. 


Der durch das Land Berlin angekündigte Ideenwett- 
bewerb zur künstlerischen Umgestaltung des Geländes 
steht aus. Dieser Ideenwettbewerb ist Voraussetzung für 
die Einbringung der Bundesregierung und Umsetzung 
unseres Antrages. Das Land Berlin ist aufgefordert, 
schnellstmöglich den angedachten Ideenwettbewerb 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16637 


Lars Lindemann 

(A) auszuloben. Wir sind gespannt auf diesen Wettbewerb 
zur Umgestaltung des Areals Tiergartenstraße 4, in den 
Betroffene und Verbände in adäquater Weise eingebun- 
den werden. 

Dr. Lukrezia Jochimsen ( DIE LINKE): 

Rückdatiert auf den Überfall Deutschlands auf Polen, 
den Kriegsbeginn am 1. September 1939, befahl Adolf 
Hitler die sogenannte ,, Euthanasie “-Aktion. Zum medi- 
zinischen Leiter dieser - später T4 genannten - Aktion 
wurde der Psychiater und Neurologe Professor Werner 
Hey de bestimmt. Der Aktion T4 und den nach ihrer offi- 
ziellen Beendigung sich anschließenden weiteren Pha- 
sen der Krankentötungen sollten bis zum Kriegsende 
- und noch einige Wochen darüber hinaus - mindestens 
250 000 bis 300 000 psychisch, geistig und körperlich 
kranke Menschen zum Opfer fallen. 


Am Ort der ehemaligen Zentraldienststelle in der 
Tiergartenstraße 4 befinden sich heute nur eine un- 
scheinbare, in den Boden eingelassene Gedenktafel für 
die ,, Euthanasie“ -Opfer und eine erst nachträglich den 
Opfern gewidmete Plastik. Einen zentralen, nationalen 
Gedenkort für die Opfer der sogenannten ,, Euthanasie“ 
gibt es bisher nicht. Dies soll nun geändert werden. Mit 
ihrem Antrag ,, Gedenkort für die Opfer der NS-Eutha- 
nasie-Morde“, 17/5493, wollen CDU/CSU, SPD und 
Bündnis 90/Die Grünen sich für eine Au fwertung des be- 
stehenden Denkmals und eine angemessene Würdigung 
der Opfer am historischen Ort der Planung und Orga- 
nisation der Aktion T4 in der Tiergartenstraße 4 einset- 
(B) zen - 


tungen zum Thema gelang es nicht, die von ihnen vorge- 
brachten Vorschläge und Einwände in dem vorliegenden 
Antrag angemessen zu berücksichtigen. Da die Planung 
und Umsetzung des geplanten Gedenkortes im Antrag 
aber explizit unter dem Dach der vom Bund getragenen 
Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ 
und unter Einbeziehung der Stiftung ,, Topographie des 
Terrors “ stattfinden soll, sollte unserer Meinung nach 
den vorgebrachten Bedenken Rechnung getragen wer- 
den. Vor allem die Gewichtung von Gedenkort und In- 
formations- und Erinnerungsort bedarf dringend einer 
Überarbeitung. 

Bei der Neugestaltung des bereits bestehenden Denk- 
mals für die Opfer der „Euthanasie “-Morde am histori- 
schen Ort in der Tiergartenstraße 4 geht es darum, kei- 
nen reinen Gedenkort zu etablieren, sondern das 
Erinnern mit einer grundlegenden Information zu ver- 
binden. Dies ist deswegen so wichtig, weil dieser Ort 
ausschließlich ein Täterort war, den nie ein Opfer betre- 
ten hat. Die Angehörigen der Opfer bzw. jene vor allem 
zwangssterilisierten Menschen, die die Verfolgung über- 
lebt haben, finden hier keine direkt mit dem persönli- 
chen Leiden ihrer Nächsten bzw. mit den eigenen Erfah- 
rungen verbundene Relikte, auch nicht in symbolischer 
Hinsicht. Eine örtliche Auslagerung der Information in 
die Nachbarschaft der ,, Topographie des Terrors“, wie 
sie die antragsstellenden Fraktionen vorschlagen, ent- 
spricht diesem Zweck in keiner Weise. 

Ich schließe mich an dieser Stelle der Verwunderung 
von Dr Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a. D., an, 
dass weder dem Wunsch der an den Beratungen beteilig- 
ten Initiativen und Institutionen nach einem im Bundes- 
tag stattfindenden Fachgespräch entsprochen wurde 
noch die äußerst konstruktiven Vorschläge, wie ein neu 
entstehender Gedenk- und Informationsort in der Tier- 
gartenstraße 4 aussehen könnte, in den vorliegenden 
Antrag aufgenommen wurden. 

Nicht nur hat die Stiftung „Denkmal für die ermorde- 
ten Juden Europas “ schon seit längerem ein Grundkon- 
zept für eine historische Dokumentation erstellt, welche 
detailliert und wissenschaftlich fundiert die Aktion T4 
darstellt und einen besonderen Schwerpunkt auf exemp- 
larische Opferbiografien legt, die die Bandbreite des 
Mordens und der Opfergruppen zwischen 1939 und 
1945 widerspiegeln, auch die Deutsche Gesellschaft für 
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde hat 
ganz konkrete Vorschläge für eine Neugestaltung des 
bisherigen Denkmals vorgelegt, welche explizit die 
Wichtigkeit eines Dokumentationszentrums hervorhe- 
ben. Hier soll im Rahmen einer wissenschaftlich fun- 
dierten Ausstellung über die Entstehungsgeschichte der 
nationalsozialistischen „Euthanasie“ -Morde, ihre Ein- 
bettung in eine rassenhygienisch aufgeladene Gesund- 
heits- und Bildungspolitik und auch die unzureichende 
juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ver- 
brechen aufgeklärt werden. Die Opfer sollen gewürdigt 
werden, und nicht zuletzt sollte auch an die weitgehend 
fehlende bzw. unangemessen geringe Entschädigung der 
Opfer und ihrer Angehörigen erinnert werden. Ich erin- 
nere daran, dass der Bundestag erst im Januar dieses 
Jahres einen Beschluss über eine Angleichung der mo- 


Die Linke hat dieses Ansinnen von Beginn an auf 
Bundes- und Landesebene unterstützt. Die nationalso- 
zialistischen Morde an behinderten Menschen bzw. Pa- 
tienten gehören in das kollektive Gedächtnis unserer 
Nation. Die Erinnerung daran ist eine Aufgabe von na- 
tionaler Bedeutung und gesamtstaatlicher Verantwor- 
tung. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schließt 
diese Opfergruppe ausdrücklich in das nationale Ge- 
denken ein. Es steht für uns außer Frage, dass der Bund 
zu seiner Verantwortung stehen sollte und in diesem Fall 
gibt es auch einen parteiübergreifenden Willen, dies zu 
tun. 

Leider wurden wir erneut von der Erarbeitung eines 
interfraktionellen Antrages ausgegrenzt und konnten so 
Einwände und Änderungsvorschläge am vorliegenden 
Antrag nicht geltend machen. Um diesen unserer Auffas- 
sung nach wichtigen Ergänzungen Gehör zu verschaf- 
fen, haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag 
eingebracht, in dem wir nicht allein einen Gedenk-, son- 
dern auch einen entsprechenden Informationsort sowie 
darüber hinaus die finanziellen Mittel für eine wissen- 
schaftliche Aufarbeitung des Themas fordern. Wir 
reagieren damit auch auf Anregungen der in dieser The- 
matik engagierten Initiativen und Institutionen, stellver- 
tretend für eine größere Gruppe ist hier die Deutsche 
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Ner- 
venheilkunde, DGPPN, die Stiftung „Denkmal für die 
ermordeten Juden Europas “ und die Stiftung „ Topogra- 
phie des Terrors “ zu nennen. Trotz zweijähriger Bera- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



16638 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Lukrezia Jochimsen 

(A) natlichen Entschädigungen an die für andere aus rassis- 
tischen Gründen verfolgten Opfer gefasst hat - im Jahre 
2011! 

Warum die an dem Antrag beteiligten Fraktionen 
nicht auf die Angebote gerade der DGPPN eingegangen 
sind, welche von der Erstellung einer Ausstellung über 
einen finanziellen Zuschuss zu einem Dokumentations- 
zentrum bis hin zur Finanzierung einer wissenschaftli- 
chen Mitarbeiterstelle für die Dauer von zehn Jahren 
gehen, bleibt unverständlich. 

Vielleicht lassen sich in einem „verspätet“ stattfin- 
denden Fachgespräch diese Defizite beseitigen. Uns 
wäre sehr daran gelegen, soll es doch hier nicht um par- 
teipolitische Interessen, sondern nach mehr als 60 Jah- 
ren um eine angemessene Würdigung der Opfer und ih- 
rer Angehörigen gehen. 

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

Wir freuen uns, dass der Bundestag den interfraktio- 
nellen Antrag zum Gedenken an die Opfer der NS-, Eu- 
thanasie“ -Morde breit unterstützen will. Wir bedanken 
uns ausdrücklich für die Zusammenarbeit bei der Ausar- 
beitung und Diskussion des Antrags und auch dafür, 
dass hier mit großer Offenheit eine Initiative unserer 
Fraktion aufgegriffen und nun gemeinsam umgesetzt 
wird. 

Die Erinnerung an die NS-, Euthanasie“ -Opfer, an 
^ Zwangssterilisationen und weitere grausame Verbre- 
chen an dieser Opfergruppe ist ein wichtiger Teil in der 
Gedenkpolitik und Erinnerungskultur. Für die gesell- 
schaftliche Wahrnehmung der Täter und ihrer schreckli- 
chen Taten und für das Gedenken an die Opfer ist eine 
Dokumentation an dem Ort, von dem die Verbrechen 
ausgingen, der Berliner Tiergartenstraße 4, wichtig und 
von nationaler Bedeutung. 

Bei den Gesprächen zur Ausarbeitung des Antrags 
haben wir an einem Punkt etwas länger debattiert, und 
zwar bei der Frage, wie sich der Informationsaspekt und 
der Gedenkaspekt in diesem Projekt zueinander verhal- 
ten sollten. Wir Grüne haben uns sehr dafür eingesetzt, 
dass der Informationsaspekt zusammen mit dem Gedenk- 
aspekt deutlich herauskommt. 

Es gab einige Bedenken, ob eine Herausstellung des 
Informationsaspekts etwa bedeuten würde, am Ort von 
T4 ein Museum neu zu bauen - mit allen auch finanziel- 
len Konsequenzen. Eine zweite Frage war, ob es nicht zu 
einer Inflationierung von entsprechenden Informations- 
orten in Berlin käme, die sich möglicherweise gegensei- 
tig entwerten würden. 

Wir glauben, dass man hier keine künstlichen Gegen- 
sätze zwischen Gedenken und Informieren aufmachen 
sollte. Wir brauchen beides, und es ist gut, dass wir im 
Antrag gemeinsam die Aufgabe der Information auch 
am Ort T4 deutlich gemacht haben. Denn es geht ja ganz 
wesentlich auch um Information - zum Ablauf der Ver- 
brechen, um die Aufarbeitung auch individueller Le- 


bensgeschichten von Opfern, um Forschungen zur Be- 
teiligung von Ärzten und Pflegepersonal und politisch 
und administrativ Verantwortlichen. 

Die Bedeutung der Information heben auch Wissen- 
schaftler und Initiativen aus der Zivilgesellscha ft hervor, 
die sich sehr konstruktiv in die Debatte eingebracht ha- 
ben. So trifft sich in den Räumen der ,, Topographie des 
Terrors “ seit geraumer Zeit ein Runder Tisch ,, T4 “, der 
am Thema arbeitet und auch die weitere Arbeit hier in 
Berlin begleiten wird. Im Internet ist eine Seite ,, Gedenk- 
ort T4 “ eingerichtet worden, die jetzt schon wichtige In- 
formationsarbeit leistet. Und auch die DGPPN, die 
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie 
und Nervenheilkunde, wird die Aufarbeitung des The- 
mas unterstützen und auch für zehn Jahre eine wissen- 
schaftliche Mitarbeiterstelle zur Forschung und Infor- 
mation über die T4-Verbrechen finanzieren. 

Das Land Berlin hat angekündigt, einen Ideenwettbe- 
werb für die künstlerische Um- und Weitergestaltung 
dieses T4-Geländes auszuloben - zusätzlich zu der in 
den Boden eingelassenen Platte und der Skulptur von 
Richard Senna, die sich bereits dort befinden. Diesen 
Wettbewerb möchten wir aufmerksam verfolgen und be- 
gleiten. Wir rechnen fest mit der Kreativität von Künst- 
lern und der Fachkompetenz von Wissenschaftlern, da- 
mit das Projekt in einer guten und angemessenen Form 
zur Ausführung kommt. 

Es ist gut, dass sich nun auch der Bund bei T4 ver- 
pflichtet. Das ist ein wichtiger Baustein für unsere Erin- 
nerungskultur - auch angesichts von demokratiefeindli- 
chen rechtsextremen Tendenzen, die besorgniserregend 
sind. 

Vielen Dank noch einmal an die Kolleginnen und Kol- 
legen für die gute Zusammenarbeit! 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für 
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp- 
fehlung auf Drucksache 17/7596, den Antrag der Frak- 
tionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grü- 
nen auf Drucksache 17/5493 anzunehmen. Wer stimmt 
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die antrag- 
stellenden Fraktionen. Gegenprobe! - Niemand. Enthal- 
tungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist 
angenommen. 

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 23: 

Beratung des Antrags der Abgeordneten 
Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, Diana 
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
DIE LINKE 

Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von 
DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2016 verlän- 
gern 

- Drucksache 17/7486 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) 

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16639 


Vizepräsident Eduard Oswald 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor. 

Frank Heinrich (CDU/CSU): 

Die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus 
DDR-Zeiten läuft zum Jahresende 2011 ab. In dem An- 
trag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten, 
wird die Bundesregierung dazu aufgefordert, die Aufbe- 
wahrungsfrist von Unterlagen über Löhne und Arbeits- 
zeiten in DDR-Betrieben über den 31. Dezember 2011 
hinaus bis zum 31. Dezember 2016 zu verlängern. Diese 
Unterlagen sind vor allem für die korrekte Rentenbe- 
rechnung wichtig, da sie zur Klärung des Versicherungs- 
kontos notwendig sind. Im Rahmen der sogenannten 
Kontoklärung wird das Versicherungskonto mit allen 
versicherungsrechtlich relevanten und rentenrelevanten 
Daten vervollständigt. 

Zur Sicherstellung der vollständigen Kontenklärung 
und Vormerkung aller rentenanwartschaftsbegründen- 
den Beschäftigungszeiten und Arbeitsentgelte der be- 
troffenen Versicherten beschloss der Bundestag im Ok- 
tober 2006, die zum Jahresende 2006 auslaufende 
Aufbewahrungspflicht um fünf Jahre zu verlängern. Das 
heißt also, dass die Betriebe rund 20 Jahre lang im Inte- 
resse der Versicherten und der Deutschen Rentenversi- 
cherung die Lohnunterlagen aufbewahrt haben. Und 
das zusätzlich zu den jeweils aktuell zu speichernden 
Daten. Eine solche Aufbewahrung ist vor allem mit ho- 
hen Lager- und Verwaltungskosten sowie mit großem 
Aufwand für die Betriebe verbunden. Es ist auch zu be- 
merken, dass viele dieser DDR-ßetriebe mittlerweile 
nicht mehr existieren. Das bedeutet, dass ihre Rechts- 
nachfolger oder auch private Firmen, wie zum Beispiel 
die Rhenus Office Systems GmbH in Großbeeren, sich 
um die Aufbewahrung der alten Lohnunterlagen küm- 
mern. 

Die Kollegen aus der Partei Die Linke haben zutref- 
fend bemerkt, dass es noch nicht gelungen sei, alle Kon- 
ten aufzuklären. Ich glaube jedoch, dass 20 Jahre lang 
genug sind, um Kontoklärungen veranlassen zu können. 
Es steht auch nicht fest, ob zur Klärung der übrigen 
Konten tatsächlich im Einzelfall auf Lohnunterlagen der 
DDR-ßetriebe zugegriffen werden muss. Die Belastung 
der Arbeitgeber ist meiner Meinung nach in diesem Fall 
unverhältnismäßig, vor allem, wenn man bedenkt, dass 
die Versäumnisse bei der Kontoklärung hauptsächlich 
darauf zurückzuführen sind, dass die Versicherten ihrer 
Mitwirkungspflicht nicht nachgehen. Ohne aktives Mit- 
wirken der Versicherten selbst ist die Beschaffung von 
fehlenden Unterlagen durch den Rentenversicherungs- 
träger kaum möglich. Es geht hier also um eigene Ver- 
antwortung und Selbstständigkeit der Versicherten. 

Die Medien haben insbesondere in den letzten Mona- 
ten viel darüber berichtet, dass die Aufbewahrungsfrist 
zum Jahresende 2011 abläuft. Auch die Rentenversiche- 
rungsträger haben mehrmals zur Kontenklärung aufge- 
rufen. Am Beispiel von meiner Stadt Chemnitz kann ich 
bestätigen, dass die Information für Bürger zugänglich 
gemacht wurde und auf verständlicherweise zu allen In- 


teressenten gebracht wurde, und das nicht nur übers In- (C) 
ternet. An der Aufklärung mangelt es also nicht. Eine 
weitere Verlängerung der Frist würde nicht nur hohe 
Kosten verursachen, sondern kann auch den Eindruck 
erw’ecken, dass es unendlich so weitergeht. Das trägt 
nicht unbedingt zur Förderung der eigenen Selbstver- 
antwortung von Versicherten bei. 

Max Straubinger (CDU/CSU): 

Für Lohnunterlagen, die am 31. Dezember 1991 im 
Beitrittsgebiet vorhanden waren, ist im SGB IV eine be- 
sondere Aufbewahrungsfrist geregelt. Mit dem Auslau- 
fen dieser Frist zum 31. Dezember 2011 entfällt eine zu- 
sätzliche Belastung für ostdeutsche Unternehmen. 

Die Dokumente mussten aufbewahrt werden. Mit den 
Lohnunterlagen werden Beschäftigungszeiten und Ver- 
dienste nachgewiesen. Aber auch Zeiten von Krankheit 
und sonstigen Ausfällen sind darin enthalten. Allerdings 
sollte die Aufbewahrungsfrist ursprünglich schon vor 
Jahren aus laufen. Wir haben den Termin zuletzt im Jahr 
2006 um weitere fün f Jahre verlängert, obwohl wir da- 
mals schon der Ansicht waren, dass eine Ubergangsfrist 
von 15 Jahren zur Klärung der Konten ausreichen 
müsste. Damit wurde der Zugriff auf die Lohndaten für 
weitere fünf Jahre gesichert. Das gab den Menschen 
ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen 
Rentenkonten. 

Bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenversi- 
cherung Bund geführten Rentenversicherungskonten 
sind bezogen auf Personen mit Wohnsitz in den neuen 
Bundesländern derzeit noch rund 286 000 Konten nicht (D) 
vollständig geklärt. Dies entspricht 12 Prozent. Zahlen 
für die gesamte Rentenversicherung liegen nicht vor. 

Dabei ist ein geklärtes Versicherungskonto nicht nur 
wichtig für die spätere Rentenberechnung, sondern ist 
bei politisch Verfolgten ein Indiz für eine beru fliche Ver- 
folgung - insbesondere, wenn der Antragsteller keine 
Unterlagen mehr über seine Beschäftigung hat. Ände- 
rungen in den Einkommensverhältnissen wie abrupte 
Minderverdienste können auf eine politische Verfolgung 
im Beruf hindeuten. Die Zahl potenzieller Betroffener 
dürfte aber geringer sein als häufig angenommen. In 
den letzten Jahren wurden pro Jahr circa 1 800 Neuan- 
träge auf berufliche Rehabilitierung gestellt. Die An- 
tragsfrist läuft am 31. Dezember 2019 aus. 

Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der 
Unterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten ist 
nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 21 Jahren 
seit der Wiedei~vereinigung wurden die Betroffenen 
mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. Die 
ungeklärten Konten sind auf die fehlende Mitwirkung 
der Betroffenen zurückzuführen. Es ist nicht absehbar, 
dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versi- 
cherten erhalten jährlich Renteninformationen. Außer- 
dem bekamen sie Briefe, in denen sie über die Notwen- 
digkeit der Kontenklärung und über den Fristablauf 
aufgeklärt wurden. 

Wenn 21 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht 
ausgereicht haben, berechtig das zu der Annahme, dass 


Zu Protokoll gegebene Reden 



16640 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Max Straubinger 

(A) auch in den nächsten fünf Jahren keine wesentliche Ver- 
änderung des Sachverhalts zu erwarten sein wird. 

Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, dass 
die Unternehmen und der Bund als Rechtsnachfolger 
ehemaliger DDR-Betriebe die Kosten für die Aufbewah- 
rung der Unterlagen nicht noch für weitere fün f Jahre 
übernehmen sollen, nur weil etliche Bürgerinnen und 
Bürger sich nicht um die Klärung ihres Rentenkontos 
kümmern. 

Diesen Bürgerinnen und Bürgern kann man nur ra- 
ten, sich um die Klärung ihres Rentenkontos zu bemü- 
hen. Wenn Versicherte aus der ehemaligen DDR ihre 
Beschäftigungszeiten möglichst genau im Kontenklä- 
rungsantrag angeben, kann darauf gestützt die Deutsche 
Rentenversicherung den ehemaligen Arbeitgeber bzw. 
dessen Rechtsnachfolger ermitteln und eine Bestätigung 
der Daten erhalten. Alternativ können sich Antragsteller 
bis Ende dieses Jahres auch an die privaten Archivie- 
rungsgesellschaften wenden, die alte Lohnunterlagen li- 
quidierter DDR-Betriebe aufbewahren. Zudem können 
fehlende Versicherungszeiten durch eigene Dokumente 
sowie auch mittels Zeugenerklärungen belegt werden. 

Betroffene sollten sich spätestens jetzt Kopien edler 
persönlichen DDR-Lohnunterlagen besorgen. Wenn der 
damalige Betrieb oder dessen Rechtsnachfolger nicht 
mehr existieren, kann der Rentenversicherungsträger 
helfen. 

Wenn die Aufbewahrungsfrist dann zum Jahresende 
abgelaufen sein wird, bedeutet das aber nicht, dass die 

(B) Unterlagen weggeworfen werden. Die noch bei Behör- 
den, Arbeitgebern und Rechtsnachfolgern von DDR-Be- 
trieben liegenden Dokumente werden Landes- und 
Staatsarchiven bzw. dem Bundesarchiv angeboten. Die 
Betroffenen können sich also ab kommendem Jahr an 
diese Stellen wenden. 

Auch potenziellen Antragstellern auf berufliche Re- 
habilitierung wird mit dem Auslaufen der Aufbewah- 
rungsfrist für die Lohnunterlagen keinesfalls die Mög- 
lichkeit der Antragstellung nach dem Beruflichen 
Rehabilitierungsgesetz abgesclmitten. Es gibt auch Be- 
weiserleichterungen: Es reicht aus, wenn der Betroffene 
seine Angaben zur Verfolgteneigenschaft und zur Verfol- 
gungszeit glaubhaft machen kann. 

Deshalb gibt es keinen Grund, die Aufbewahrungszeit 
von Unterlagen erneut zu verlängern. 

Ottmar Schreiner (SPD): 

Lohnunterlagen müssen vom Arbeitgeber generell für 
eine Frist von sechs Jahren aufbewahrt werden. Hiervon 
abweichend, sind nach geltendem Recht gemäß § 28 f 
Abs. 5 Satz 1 SGB IV die am 31. Dezember 1991 im Bei- 
trittsgebiet vorhandenen Lohnunterlagen mindestens bis 
zum 31. Dezember 2011 vom Arbeitgeber aufzubewah- 
ren. 

Diese Pflicht zur Aufbewahrung der Lohnunterlagen 
von DDR-Betrieben läuft wegen Untätigkeit der Regie- 
rungskoalition zum Ende des Jahres aus. Eine vorherge- 


hende Verlängerung hatten wir am 20. Oktober 2006 mit (C) 
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linkspartei be- 
schließen können. Dies haben wir zum damaligen Zeit- 
punkt für dringend nötig erachtet, weil die Lohnunterla- 
gen für die Klärung von gesetzlichen Rentenansprüchen 
zwingend erforderlich sind. Damals waren noch immer 
mehr als 1,3 Millionen Versicherungskonten von Versi- 
cherten in der ehemaligen DDR ungeklärt. Den Betrof- 
fenen hätten Rentenkürzungen gedroht, wenn sie keinen 
Nachweis über ihre Beschäftigungszeiten in DDR-Be- 
trieben hätten vorlegen können. Eine umfassende und 
alle Versicherungszeiten berücksichtigende Rentenbe- 
rechnung durch die Rentenversicherungsträger ist näm- 
lich nur dann möglich, wenn das Versicherungskonto 
vollständig ist. 

Auch nach nunmehr 20 Jahren ist noch immer eine 
große Anzahl der Versichertenkonten hinsichtlich der 
Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR nicht ge- 
klärt. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung 
Bund sind Versicherte der Geburtsjahrgänge 1946 bis 
1974, die Beitragszeiten in der DDR zurückgelegt haben 
können, betroffen. Allein bei den 2,3 Millionen bei der 
Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versi- 
cherungskonten sind noch circa 286 000 Konten nicht 
vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von 
rund 12 Prozent. 

Deshalb muss die Aufbewahrungsfrist um weitere 
fünf Jahre, also bis zum 31. Dezember 2016, verlängert 
werden. Durch diese verlängerte Aufbewahrungsfrist 
soll gewährleistet werden, dass die für die Rentenversi- 
cherung erforderlichen Daten der Beschäftigten vor ' ' 
dem Beitritt gesichert werden. 

In dem vorliegenden Antrag der Linksfraktion wird 
die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf 
vorzulegen, der sicherstellt, dass die Frist über den 
31. Dezember 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2016 
verlängert wird. Der Antrag ist in der Sache zwar rich- 
tig, aber die Aufforderung zur Vorlage eines Gesetzent- 
wurfs ist zu weit gegriffen. Es gibt folgende Möglichkeit: 

Mit dem Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes 
zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und 
anderer Gesetze, Drucksache 17/6764, welches zurzeit 
im Deutschen Bundestag beraten wird, soll eine Vielzahl 
von sozialrechtlichen Einzelregelungen geändert wer- 
den. Die Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen in 
DDR-Betrieben ist Regelungsbestandteil des SGB IV. 

Das ist aktuell der richtige Anknüpfungspunkt. Daher 
hat meine Fraktion im Rahmen der Beratungen zum 
Vierten SGB-IV-Anderungsgesetz einen Änderungs- 
antrag mit dem Ziel, die genannte Aufbewahrungsfrist 
durch die Änderung des § 28 f Abs. 5 Satz 1 um fünf 
Jahre zu verlängern, eingebracht. 

Die SPD-Bundestagsfraktion will die Verlängerung 
der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen in Ost- 
deutschland und fordert die Bundesregierung auf, unse- 
ren diesbezüglichen Änderungsantrag im Rahmen des 
Gesetzgebungsverfahrens zum Vierten SGB-IV-Ande- 
rungsgesetz mit zu berücksichtigen. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16641 


(A) Sebastian Blumenthal (FDP): 

In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke, einen 
Gesetzentwurf zur Aufbewahrungsfrist der Lohnunterla- 
gen von DDR-Betrieben vorzulegen, der sicherstellt, 
dass die Frist über den 31. Dezember 2011 hinaus bis 
zum 31. Dezember 2016 verlängert wird. 

Worum geht es hier im Detail? Zum Ende dieses Jah- 
res - also am 31. Dezember 2011 - läuft die Frist zur 
Aufbewahrung von Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 5 
Satz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch aus. Es han- 
delt sich um eine Sonderregelung für die Aufbewahrung 
von Lohnunterlagen für abhängig Beschäftigte aus der 
ehemaligen DDR. Diese Regelung umfasst Lohnunterla- 
gen, die am 31. Dezember 1991 in den neuen Bundeslän- 
dern vorhanden gewesen sind. Grundsätzlich müssen 
Lohnunterlagen nach § 28 f Abs. 1 SGB IV in Verbin- 
dung mit § 28 p SGB IV für fünf Jahre aufbewahrt wer- 
den, um den Rentenversicherungsträgern zu ermögli- 
chen, die Arbeitgeber im Hinblick auf ihre Meldepflicht 
und ihre sonstigen Pflichten nach dem SGB IV zu über- 
prüfen. 

Für abhängig Beschäftigte in der ehemaligen DDR 
dienen diese Lohnunterlagen zur Klärung ihres Renten- 
versicherungskontos. Erschwerend ist bei diesem Perso- 
nenkreis hinzugekommen, dass sie oftmals keine ausrei- 
chenden eigenen Nachweise über ihre Beschäftigung 
erbringen konnten. Die Klärung des Versicherungskon- 
tos erfolgt auf Antrag des Betroffenen bei der Deutschen 
Rentenversicherung. Die Betroffenen wurden in den ver- 
gangenen 20 Jahren mehrfach persönlich angeschrie- 

(B) f> en U nd über Pressemitteilungen in den gängigen Me- 
dien von den Rentenversicherungsträgern für die 
Problematik sensibilisiert, die nötigen Anträge vor 
Fristablauf einzureichen. Eine vollständige Renten- 
berechnung setzt ein vollständiges Versicherungskonto 
voraus. Die ursprüngliche Aufbewahrungsfrist ist im 
Jahr 2006 ausgelau fen. Mit Rücksicht auf die hohe An- 
zahl Beschäftigter, die noch keinen Antrag auf Konten- 
klärung eingereicht hatten, wurde die Frist bis zum 
31. Dezember 2011 verlängert. 

Bezogen auf den Antrag der Linken bedeutet das für 
uns als FDP -Fraktion, dass wir keinen Grund für eine 
erneute Fristverlängerung sehen. Schon die Verlänge- 
rung der Frist im Jahre 2006 war für uns in vielerlei 
Hinsicht strittig. So müssen zum Beispiel Arbeitgeber 
bzw. der Bund als Rechtsnachfolger der abgewickelten 
DDR-Staatsunternehmen die Lohnunterlagen mit erheb- 
lichen Kosten aufbewahren - nach den aktuellen Vorga- 
ben 15 Jahre über die „reguläre“ Zeit von fünf Jahren 
hinaus. Sämtliche Jahrgänge mit Wohnsitz oder Zeiten 
im Beitrittsgebiet sind in den Jahren 2005 bis 2007 auf- 
gerufen worden, einen Antrag auf Kontenklärung zu 
stellen. Im Jahr 2006 wurden edle Betroffenen auf die 
Notwendigkeit einer Kontenklärung bezüglich der Zei- 
ten in der früheren DDR hingewiesen. Auch im Zuge der 
jährlich wiederkehrenden Versendung der Renteninfor- 
mation sind edle Versicherten erneut persönlich auf das 
Erfordernis einer Kontenklärung hingewiesen worden. 
Ein Großteil der Betroffenen ist dem bislang auch nach- 
gekommen. Darüber hinaus hat auch in diesem Jahr die 


Deutsche Rentenversicherung Bund noch einmal auf den (C) 
Fristablauf öffentlich hingewiesen. 

Der aktuelle Stand sieht folgendermaßen aus: Zum 
Ablauf der Aufbewahrungsfristen am 31. Dezember 
2011 werden die Bestände den regional zuständigen 
Landes- und Staatsarchiven zur Übernahme angeboten. 

Bei zentralen staatlichen Behörden und Einrichtungen 
werden die Unterlagen dem Bundesarchiv angeboten. 

Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung 
sind bei den 2,3 Millionen bei der Deutschen Rentenver- 
sicherung Bund geführten Versicherungskonten in den 
neuen Bundesländern noch circa 286 000 Konten nicht 
vollständig geklärt. Dies entspricht einem Anteil von 
rund 12 Prozent. Die Aktenlagerung hat vom 1. Juli 
2007 bis zum 31. Oktober 2011 bereits 12,5 Millionen 
Euro gekostet, bis zum Ablauf der Frist am 31. Dezem- 
ber 2012 rechnet man mit weiteren 1,4 Millionen Euro. 

Eine wie von der Linken geforderte Fristverlängerung 
würde entsprechende Kosten nach sich ziehen. Die Ak- 
ten werden bei der Rhenus Office GmbH gelagert - die 
Kosten tragen Bund und Länder Die Administration er- 
folgt durch die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte 
Sonderaufgaben. 

Insofern wäre an dieser Stelle interessant zu erfahren, 
welche konkreten Zahlen die Linke zur Begründung ih- 
res Antrags vorweisen kann. Oder noch besser: Die 
Linke möge einen eigenen Gesetzentwurf zur Verlänge- 
rung der Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von 
DDR-Betrieben einreichen und darstellen, in welchem 
Umfang Kosten für die Fristverlängerung zu erwarten 
sind - außerdem, inwiefern zu erwarten ist, dass diejeni- (D) 
gen Betroffenen, die noch keine Kontenklärung bean- 
tragt haben, dies in Zukunft tun werden und wie die zu 
erwartenden Kosten zu rechtfertigen sind. Solange die 
Linke dies unterlässt, werden wir als FDP-Fraktion die- 
sen Antrag ablehnen. 

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): 

Zeitungen schreiben darüber, im Radio und im Fernse- 
hen gibt es Hinweise, Kommunen machen darauf aufmerk- 
sam, Gewerkschaften und Sozialverbände informieren. 

Auch Sozialministerien und die Deutsche Rentenversiche- 
rung äußern sich inzwischen zum bevorstehenden Ablauf 
der Aufbewahrungsfrist von Lohnunterlagen aus DDR- 
Zeiten. 

Dabei hatte die Bundesregierung mir im April auf 
eine diesbezügliche Frage noch wie folgt geantwortet: 

,, Handlungsbedarf für eine gesonderte Information der 
Öffentlichkeit über den endgültigen Ablauf der Aufbe- 
wahrungsfrist wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht gese- 
hen, da der Fristablauf lange genug bekannt ist. “ Zum 
Glück haben sich damals dennoch einige Zeitungen die- 
ses Themas angenommen, das inzwischen solche Auf- 
merksamkeit findet - und das zu Recht, denn die Lohn- 
unterlagen, die unter anderem Auskunft über die Höhe 
der Einkommen und über Beschäftigungszeiten geben, 
sind unverzichtbar für die Sicherung von Rentenansprü- 
chen. Fehlende Lohnunterlagen können dazu führen, 
dass Rentenansprüche gemindert werden oder im 
schlimmsten Falle ganz verloren gehen. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



16642 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Dr. Martina Bunge 

(A) Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung, 
DRV, Bund sowie der DRV Berlin-Brandenburg, der 
DRV Mitteldeutschland und der DRV Nord gibt es rund 
648 000 ungeklärte Rentenkonten von Versicherten in 
den ostdeutschen Bundesländern. Nicht erfasst sind in 
diesen Zahlen diejenigen, die nach Herstellung der Ein- 
heit von Ost nach West gingen. Laut Statistischem Bun- 
desamt waren das allein bis 2008 mehr als 2 , 7 Millionen 
Menschen. Es ist leider nicht davon auszugehen, dass 
edle ihre Rentenangelegenheiten geklärt haben. 

Natürlich resultieren nicht alle Lücken in Rentenkon- 
ten aus Zeiten der Berufstätigkeit in der DDR. Aber die 
Deutsche Rentenversicherung Nord zum Beispiel schätzt 
für Mecklenburg-Vorpommern, dass von den 57 900 of- 
fenen Konten etwa 45 000 wegen fehlender Unterlagen 
aus DDR-Zeiten noch nicht abschließend geklärt wer- 
den konnten. Das sind mehr als drei Viertel. 

Noch einige Worte zu zwei speziellen Gründen, die 
Lohnunterlagen zugänglich zu halten. Erstens geht es 
um diejenigen, die sich in Klageverfahren befinden. Sie 
müssen erfahrungsgemäß häufig weitere Belege beibrin- 
gen. Zweitens gibt es den Personenkreis, der nach even- 
tuellen gesetzlichen Korrekturen mit hoher Wahrschein- 
lichkeit weitere Originaldokumente vorlegen muss. 
Beide Gruppen brauchen zur Wahrnehmung ihrer 
Rechte den weiteren Zugangzu den Lohnunterlagen. 

Die Bundesregierung hat mich auf die Glaubhaftma- 
chung nach SGB VI verwiesen. ,, Hierdurch werden 
Nachteile in der Rentenhöhe abgemildert, wenn der 
Nachweis von Versicherungszeiten nicht gelingt“, hieß 
es in einer Antwort. Konkret ist eine Glaubhaftmachung 

(B) 

mit einem Verlust von einem Sechstel des eigentlichen 
Anspruchs verbunden. Das wäre eine Belastung vor al- 
lem für diejenigen, die längere Zeiten von Arbeitslosig- 
keit hinnehmen mussten und deren Renten ohnehin 
schmal ausfallen dürften. 

Im Übrigen gibt es Menschen, für die selbst eine 
Glaubhaftmachung schwer, wenn nicht gar unmöglich 
ist, zum Beispiel Menschen, die in die Bundesrepublik 
geflüchtet waren - nachvollziehbarerw’eise ohne alle 
Unterlagen - und die heute nur noch vage Erinnerung 
an genaue Beschäftigungszeiten und an das Einkommen 
haben. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak- 
tionen, entschließen Sie sich wie schon im Jahr 2006 zu 
einer Gesetzesänderung, um die Frist nochmals zu ver- 
längern! Andern Sie wie damals den § 28 f Abs. 5 des 
SGB IV! Ersetzen Sie das darin enthaltene Datum 
„31. Dezember 2011 “ durch den „31. Dezember 2016“. 
So einfach wäre die Gesetzesänderung! Sie wäre nicht 
nur für zahlreiche Versicherte, sondern auch für die 
Deutsche Rentenversicherung gut, denn deren Aufwand 
zur Feststellung von Rentenansprüchen würde sich ohne 
den weiteren Zugang zu den Lohnunterlagen massiv er- 
höhen. 

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN): 

Altersarmut droht besonders in Ostdeutschland. Dort 
drohen nach Berechnungen des DIW aufgrund der an- 
haltend hohen Arbeitslosigkeit und der Absenkung des 


Rentenniveaus die Altersbezüge für künftige Rentnerin- (C) 
nen und Rentner massiv zu sinken. Weil jeder Euro zählt, 
ist es wichtig, dass wir die Aufbewahrungsfrist der 
Lohnunterlagen von DDR-Betrieben über den 31. De- 
zember dieses Jahres hinaus um mindestens fünf weitere 
Jahre verlängern. 

Die verlängerte Aufbewahrungsfrist soll gewährleis- 
ten, dass die für die Rentenversicherung erforderlichen 
Daten der Beschäftigten vor dem Beitritt gesichert wer- 
den, da gegenwärtig allein bei den 2,3 Millionen bei der 
Deutschen Rentenversicherung Bund geführten Versi- 
cherungskonten noch circa 286 000 Konten nicht voll- 
ständig geklärt sind. Dabei kann noch ein Monat offen 
sein, aber es können auch mehrere Jahre ungeklärt sein. 

286 000 Rentenversicherte, das entspricht einem Anteil 
von circa 12 Prozent. Eine stattliche Zahl. Wenn wir 
nicht handeln, läuft den Versicherten der Geburtsjahr- 
gänge 1946 bis 1974, also allen, die noch Berufsjahre in 
der DDR zurückgelegt haben, langsam die Zeit davon. 

In sechs Wochen schon, nach dem 31. Dezember, können 
alle Arbeitgeber und Rechtsnachfolger von DDR-Betrie- 
ben, die zuvor gesetzlich verpflichtet waren, die alten 
Lohnunterlagen aus DDR-Zeiten aufzuheben, diese nun 
vernichten. Im Ergebnis wären Verdienstnachweise aus 
den Jahren vor 1992 dann nicht mehr zu beschaffen und 
könnten bei der Rentenberechnung nicht mehr berück- 
sichtigt werden. Wenn das Konto Lücken in der Versi- 
cherungsbiografie aufweist oder Nachweise unvollstän- 
dig sind oder ganz fehlen, kann das bei der späteren 
Rente zu finanziellen Einbußen führen. 

Wir alle wissen doch: Jede Lücke im Versicherungs- 
konto ist bares Geld. Da ist es nicht nur nicht zielführend, (-D) 
ständig darauf hinzuweisen, die Betroffenen seien in den 
vergangenen 16 Jahren mehrfach aufgefordert worden, 
ihre Rentenkonten zu klären, und wer nichts tue, sei sel- 
ber Schuld. Das ist hochgradig zynisch. Noch mal: Jede 
Lücke im Versicherungskonto ist bares Geld wert, und 
zwar für den Einzelnen, der oder die bei der Rente Ein- 
bußen wegen Versicherungslücken hinzunehmen hat, 
aber auch für die Gemeinschaft, der allen Zahlen zu- 
folge auch ohne diese einheitsbedingten Lücken in den 
Erwerbsbiografien ein immenser Anstieg an Grundsi- 
cherungsbezugsbeziehenden ins Haus steht. Wir können 
uns das schlicht nicht erlauben. 

Natürlich reicht eine Verlängerung der Aufbewah- 
rungszeiten für die Lohnunterlagen als Maßnahme 
gegen Altersarmut nicht aus, sondern wir brauchen ins- 
besondere für den Osten eine Garantierente, die über 
dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. 

Die Garantierente kann und soll aber eigene Ansprüche 
nicht ersetzen. Deswegen gilt es jetzt sicherzustellen, 
dass die am 31. Dezember 1991 im Beitrittsgebiet vor- 
handenen Entgeltunterlagen mindestens bis zum 31. De- 
zember 2016 vom Arbeitgeber aufbewahrt werden. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7486 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit 
einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist 
das so beschlossen. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16643 


Vizepräsident Eduard Oswald 

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 25 sowie den 
Zusatzpunkt 6: 

25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus 
Tressel, Cornelia Behm, Harald Ebner, weiterer 
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN 

Kontaminierte Kabinenluft in Flugzeugen un- 
terbinden 

- Drucksache 17/7480 - 
Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) 
Ausschuss für Tourismus (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss 

Federführung strittig 

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- 
Joachim Hacker, Ulrike Gottschalck, Heinz 
Paula, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
der SPD 

Flugzeugbesatzungen und Reisende vor konta- 
minierter Kabinenluft schützen 

-Drucksache 17/7611 - 

Überweisungsvorschlag: 

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) 
Ausschuss für Tourismus (f) 

Innenausschuss 

Rechtsausschuss 

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 
Verbraucherschutz 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Bildung, Forschung und 
Technikfolgenabschätzung 

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss 

Federführung strittig 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen hier dem Präsidium vor. 

Peter Wichtel (CDU/CSU): 

Lassen Sie mich zunächst die vorliegenden Anträge 
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD- 
Fraktion und die diesbezügliche Debatte nutzen, um klar 
zu verdeutlichen, dass die Bundesregierung ihrer Ver- 
antwortung im Bereich des Luftverkehrs nachkommt. 
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, seien 
sie Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Passagiere 
an Bord von Luftfahrzeugen, werden mit einer verant- 
wortungsbewussten und nachhaltigen Luftverkehrspoli- 
tik begleitet. Als Grundlage edler gesetzlichen Rahmen- 
bedingungen genießen dabei die Sicherheit des 


Luftverkehrs und der Ausschluss gesundheitlicher Ge- (C) 
fährdungen vor allen anderen Belangen die mit Abstand 
höchste Priorität. 

Nicht nur vor diesem Hintergrund betrachte ich es als 
überaus bedauerlich, dass die heute im Plenum zur De- 
batte stehende Thematik der Geruchsbelästigung und 
Kontamination von Kabinenluft in Flugzeugen durch 
Ölrückstände in den vergangenen Wochen überaus ein- 
seitig und unverhältnismäßig diskutiert wurde. Höhe- 
punkt dieser überspitzten Darstellung des Sachverhaltes 
sind die nun vorliegenden Anträge, in welchen von einer 
Verdichtung von Fällen kontaminierter Kabinenluft in 
der jüngsten Vergangenheit die Rede ist und der Bundes- 
regierung und den nachgeordneten Behörden in diesem 
Zusammenhang Untätigkeit vorgeworfen wird. 

Zunächst gilt deutlich herauszustellen, dass die 
Gründe für Geruchsbelästigungen in einer Flugzeugka- 
bine unterschiedlich und vielfältig sind und nicht 
zwangsläufig auf die in den Anträgen thematisierten 
„fume-events“, eine Verunreinigung der Kabinenluft 
durch Öldämpfe, zurückzuführen sind. Häufige Ursa- 
chen sind vielmehr Gerüche durch Papier oder Catering- 
aufkleber im Ofen, defekte Kaffeemaschinen, andere Kü- 
chendämpfe, Rauchentwicklung im Abfalleimer der 
Toilette oder verschmorte Verkabelungen und Kunst- 
stoffverkleidung. Auch die Verschmutzung der Klimaan- 
lage oder durch Störungen der Hilfsgasturbine verur- 
sachter Geruch werden immer wieder als Auslöser einer 
Geruchsbelästigung identifiziert. Die zuständige Euro- 
päische Agentur für Flugsicherheit, EASA, spricht in 
diesem Zusammenhang von sehr seltenen und kurz an- (pj) 
dauernden Fällen von Öldämpfen in Flugzeugkabinen, 
die den Charakter eines meldepflichtigen Ereignisses 
hätten. Dennoch entsteht fälschlicherweise sowohl in 
den vorliegenden Anträgen als auch in der Debatte in 
den Medien der Eindruck, als wären ungewöhnliche Ge- 
rüche in Flugzeugkabinen fast zwangsläufig auf Öl- 
dämpfe zurückzuführen. 

Im Monat Oktober hat es drei Ausweichlandungen 
von Maschinen der Deutschen Lufthansa aufgrund von 
Geruchsentwicklung gegeben, welche diese bedauerli- 
che Eigendynamik der gegenwärtigen Debatte verdeutli- 
chen. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch im politi- 
schen Feld wurden die Ereignisse als vermeintliche 
Vorfälle dargestellt, bei denen es sich um einen „fume- 
event“ gehandelt habe und verbrannte Ölrückstände in 
die Kabine gelangt seien. Nach Rücksprache mit der 
Lufthansa sind alle drei Vorkommnisse nach umgehen- 
der Untersuchung als Aneinanderreihung von Zufällen 
zu werten, die eindeutig in keinem Zusammenhang mit 
solch einer Belastung der Kabinenluft stehen. Auch das 
Luftfahrt-Bundesamt und die Bundesstelle für Flugun- 
falluntersuchung haben keine Veranlassung gesehen, 
weitere Untersuchungen in dieser Hinsicht vorzuneh- 
men. Wie man vor diesem Hintergrund, wie in den vor- 
liegenden Anträgen geschehen, von Diskrepanzen und 
Aufklärungsbedarf sprechen kann, ist mir schleierhaft. 

Auch die zuständigen Behörden sehen weder auf 
nationaler noch auf internationaler Ebene einen Hand- 
lungsbedarf. Die weltweit für die Sicherheit im Luft- 



16644 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Peter Wichtel 

(A) verkehr zuständige Internationale Zivilluftfahrtorgani- 
sation, ICAO, die sich bereits Anfang Oktober 2010 mit 
der Thematik beschäftigt hat, erkennt keinen Grund für 
Veränderungen. Selbiges gilt für die EASA, die diesbe- 
züglich bereits 2009 einen umfassenden Konsultations- 
prozess begonnen hat, dessen Ergebnisse öffentlich und 
auf der Internetseite der Behörde einsehbar sind. Auch 
gegenwärtig liegen beiden Organisationen keine kon- 
kreten Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung von 
Passagieren oder Besatzungsmitgliedern durch konta- 
minierte Kabinenluft vor. 

Selbst die zuständige Berufsgenossenschaft für 
Transport und Verkehrswirtschaft befasst sich seit dem 
Jahr 2008 eingehend mit der Frage möglicher Gefähr- 
dungen des Personals durch belastete Luft in Flugzeug- 
kabinen, auch in enger Zusammenarbeit mit dem Institut 
für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallver- 
sicherung, IFA. Um einen möglichen Zusammenhang 
von Gesundheitsbeeinträchtigungen und der beruflichen 
Tätigkeit zu untersuchen, wurde unter anderem das welt- 
weit größte TKP-Biomonitoring-Projekt initiiert, das 
nun kurz vor dem Abschluss steht. Bis heute konnten 
nach Auswertung eines Großteiles der Proben in keinem 
einzigen Fall Konzentrationen des in den Anträgen the- 
matisierten Öladditivs Trikresylphosphat TKP festge- 
stellt werden, die Gesundheitsbeschwerden begründen 
könnten. 

Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, dass 
die Thematik der kontaminierten Kabinenluft durchaus 
aktuell ist, die vorliegenden Anträge und die darin ent- 
halterten Forderungen ebenso wie die mediale Bericht- 
erstattung aber mit der gegenwärtigen Sachlage nicht 
vereinbar sind. Entgegen den Ansichten der Opposi- 
tionsfraktionen sieht die CDU/CSU-Fraktion keinen 
Handlungsbedarf und teilt die Auffassung der Bundesre- 
gierung, dass die bereits bestehenden Untersuchungen, 
Meldepflichten und Verfahren zur Störungsbehebung 
ausreichen, um - im Falle von Missständen und Fehlver- 
halten - weitere Schritte einleiten zu können. Nicht zu- 
letzt die umfangreiche Auseinandersetzung mit der The- 
matik seitens zuständiger Behörden wie der EASA oder 
auch der zuständigen Berufsgenossenschaft belegt, dass 
eine mögliche Gefahr durch verunreinigte Kabinenluft 
seit Jahren immer wieder verantwortungsbewusst und 
ergebnisoffen untersucht wird. Eine Veranlassung, über 
die bereits bestehenden und angemessenen Zuständig- 
keiten und Aktivitäten hinaus Maßnahmen vorzuschrei- 
ben, ist daher nicht gegeben. Die vorliegenden Anträge 
leimen wir dementsprechend ab. 

Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): 

Am 21. September hat der Tourismusausschuss sich 
in einem Expertengespräch ausführlich dem komplexen 
Thema der „fume-events “ in Passagierflugzeugen und 
der damit in Zusammenhang gebrachten Kontaminie- 
rung der Kabinenluft gewidmet. Im vergangenen Jahr 
hat die Bundesregierung in diesem Kontext auch den 
Tourismusausschuss zu den gesundheitlichen Gefahren 
des aerotoxischen Syndroms unterrichtet. Dies zeigt, 
dass wir uns alle der Problematik verunreinigter Kabi- 
nenluft bewusst sind und es auch als potenzielle Gefah- 


renquelle für die Sicherheit und Gesundheit der Flug- (C) 
gäste wie auch der Besatzungen sehr ernst nehmen. Dies 
zeigt aber auch, dass das Problem an verantwortlicher 
Stelle auf der Agenda ist, sowohl bei der Bundesregie- 
rung als auch bei den zuständigen Bundesbehörden, 
dem Luftfahrt-Bundesamt und der Bundesstelle für 
Fl ugunfallun t ersuch ungen. 

Hinsichtlich des prinzipiellen Handlungsbedarfs be- 
steht daher auch weitgehend Konsens. Diese Ereignisse 
sind sehr ernst zu nehmen, und sie sind in ihrer Relevanz 
für die Gesundheit der an Bord befindlichen Personen 
und für die Sicherheit des Flugverkehrs einer eingehen- 
den Bewertung zu unterziehen. Dabei kann sich dies auf- 
grund der verfahrensrechtlichen Vorgaben und Zustän- 
digkeiten nicht allein in Maßnahmen auf nationaler 
Ebene erschöpfen, sondern muss in erster Linie zwin- 
gend bei der auf europäischer Ebene zuständigen Agen- 
tur für Flugsicherheit, EASA, erfolgen. 


Mit diesen prinzipiellen Punkten endet dann aber 
auch schon die Übereinstimmung, die ich mit den vorlie- 
genden Anträgen teile. Der Antrag von Bündnis 90/Die 
Grünen speist sich zu sehr aus Mutmaßungen, Einschät- 
zungen und Konstrukten und räumt damit den bislang 
wissenschaftlich erarbeiteten Untersuchungsergebnis- 
sen so gut wie keinen Raum oder Berücksichtigung ein. 
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der statisti- 
schen Datenbasis nicht zielführend, da hiermit die soge- 
nannten fume-events über ihre tatsächliche statistische 
Relevanz und Ereigniswahrscheinlichkeit aufgebauscht 
und skandiert werden. Die Art und Weise, wie dieses 
Thema aufgegriffen wird, ist damit nicht nur unsachlich, 
sondern dient auch nicht den berechtigten Anliegen der 
Fluggäste und des Flugpersonals. 


(D) 


Schon in der vergangenen Legislaturperiode hat die 
Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine An- 
frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitgeteilt, 
dass in einem Fünfjahreszeitraum, von 2004 bis 2009, 
vom Luftfahrt-Bundesamt lediglich 156 solcher „fume- 
events“ erfasst worden sind. Nach aktuellen Beobach- 
tungen entfällt auf circa 100 000 Flüge ein gemeldeter 
Fall. 


Die EASA, die seit einigen Jahren mit diesem Pro- 
blem befasst ist, hat im Mai dieses Jahres deutlich ge- 
macht, dass bislang keiner dieser Fälle von so gravie- 
render Relevanz gewesen ist, dass damit eine generelle 
oder gar sofortige Vorschriftenänderung gerechtfertigt 
werden könnte. Damit greifen auch die Forderungen des 
Antrags ins Leere, so zum Beispiel, die Wartungsinter- 
valle und -verfahren zu optimieren. Bei einer solchen 
Ereigniswahrscheinlichkeit ist zwischenzeitlich jedes 
Teil der Maschine durch mehrere Wartungszyklen gelau- 
fen, sodass ein weiterer keinen Zusatznutzen bescheren 
könnte. 


Auch die Aufforderung des Antrags an die Flugzeug- 
besatzungen, bei entsprechenden Ereignisfällen im 
Cockpit die Sauerstoffmasken zu verwenden, scheint 
mehr von der Außenwirkung getragen zu sein als von 
sachlicher, unaufgeregter Herangehensweise. Schließ- 
lich ist dies den Piloten in entsprechenden Gefahrensi- 
tuationen ohnehin aufgegeben. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Anita Schäfer (Saalstadt) 


(A) In diesem Zusammenhang stellt auch die Begriffsver- 
wendung von ,,neurotoxologisch bedenklichen Ölen“ 
eine tendenzielle und pauschalisierte Bewertung der 
bislang verwendeten Öle dar. Damit soll ein kausaler 
Zusammenhang zwischen den verwendeten Ölen und ge- 
sundheitlichen Beeinträchtigungen von Fluggästen oder 
dem Flugpersonal impliziert werden. Das ist aber derzeit 
nicht nur wissenschaftlich nicht nachweisbar, sondern 
auch durch die bislang vorhandenen Untersuchungs- 
ergebnisse in keiner Weise untermauert. Vielmehr spre- 
chen eben diese Ergebnisse dezidiert gegen einen kausa- 
len Zusammenhang zwischen den sogenannten fume- 
events und den in Urinproben festgestellten untergrenz- 
wertigen TCP-Belastungen. 

Gleichwohl wird in dem Antrag gefordert, diese be- 
denklichen Öle durch andere, als weniger bedenklich 
bezeichnete auszutauschen. Offen bleibt dabei, welche 
das sein sollen. Denn auch hier ist es ein feststehendes 
Faktum, dass die bislang verwendeten Öle und Betriebs- 
mittel ausführlich erprobt und auch hinreichend be- 
währt sind. Mir scheint es dagegen viel mehr ein Risiko 
darzustellen, diese durch vermeintlich unbedenklichere 
zu ersetzen, die nicht annähernd so gut untersucht und 
im Einsatz bewährt sind. Der Nutzen einer Maßnahme, 
die etwas Bewährtes durch etwas noch nicht Bewährtes 
ersetzt, erschließt sich mir nicht. 


(B) 


Ebenso sind die Forderungen zu den Bauvorschriften 
nicht hinlänglich stringent, weder im Fall der geforder- 
ten Detektoren noch der entsprechenden Filter. Einer- 
seits erscheint mir die Forderung, Bau- und Konstruk- 
tionsvorschriften zu erlassen, ohne eine schlüssig und 
empirisch nachgewiesene Ursache- Wirkung-Kette zu 
haben, ein Stück weit unredlich. Andererseits sind die in- 
frage kommenden zu detektierenden oder zu filternden 
Sto ffe so vielfältig, dass dies in technischer Hinsicht eine 
außerordentlich breite anspruchsvolle Anforderung dar- 
stellt. Derzeitig verfügbare Detektoren können bei ent- 
sprechender Kalibrierung rund zehn unterschiedliche 
Stoffe aufspüren. Wie in der Expertenanhörung deutlich 
wurde, umfasst allein die Gruppe der unter dem Sam- 
melbegriff Trikresylphosphat zusammengefassten Stoffe 
zehn unterschiedliche Isomere. Dabei kann deren Kon- 
zentration in der Kabine hinsichtlich ihrer Kausalität 
für Beschwerden derzeit nicht wissenschaftlich fundiert 
unterstellt werden. Demzufolge ist das Spektrum infrage 
kommender Stoffe eventuell noch breiter. Zum anderen 
sind aber auch die Expositionsquellen der unter dem 
Grenzwert liegenden TCP-Konzentrationen, wie zum 
Beispiel in den Kabinen verwendete Kunststoffe, vielfäl- 
tiger, als der Antrag glauben macht, und vielfältiger, als 
dass man dem Ganzen mit Zapfluftfiltern begegnen 
könnte. Der Antrag der SPD-Fraktion bemüht sich mit 
weniger Pauschalisierungen um einen sachlicheren 
Umgang mit dieser sensiblen Materie. Gleichwohl be- 
trachtet er das Problem eben falls allein aus einer Blick- 
richtung und räumt den bislang vorhandenen wissen- 
schaftlichen Erkenntnissen ebenfalls keinen Raum ein. 


Wenngleich ich in meinen Ausführungen die vielfälti- 
gen Forderungen der Anträge ablehne und an deren 
Sachdarstellung Kritik übe, dann jedoch nicht, weil ich 
auch die grundsätzliche Zielsetzung ablehne. Nein, denn 


auch ich bin dezidiert wie meine Fraktion der Auffas- (C) 
sung, dass hier weiterhin grundsätzlicher Klärungsbe- 
darf zur Gewährleistung der Gesundheit und Sicherheit 
von Flugpersonal und Passagieren besteht. 

Mir ist es aber wichtig, für alle regulatorischen Maß- 
nahmen, Verordnungen und Gesetze eine ausreichende, 
stichhaltige und gerichtsfest verantwortbare Datenbasis 
zu besitzen. Diese ist derzeit nicht gegeben und muss 
dringend eine Erweiterung erfahren. Der wichtigste An- 
satz hierzu ist es hierbei, die Meldeketten im Ereignisfall 
effektiver zu gestalten. Hier muss die Aufsicht über die 
Luftfahrtunternehmen durch das Luftfahrt-Bundesamt 
dafür Sorge tragen, dass alle Vorfälle vollständig und 
unverzüglich gemeldet werden und damit einen hilfrei- 
chen und zielführenden Beitrag für die notwendige Ver- 
breitung der Datenbasis leisten. Nur so ist es möglich, 
zeitnah zu den Vorfällen wissenschaftlich zweifelsfrei 
verwendbare Erhebungen zu erhalten. 

Gegenüber den umfänglichen Forderungen, die in 
den Anträgen aufgestellt werden, ist dies zudem eine 
Vorgabe, die nicht ins Blaue hinein umfängliche und 
kostenträchtige technische Maßnahmen für die Unter- 
nehmen und mittelbar für die Fluggäste sowie insgesamt 
einen spürbaren wirtschaftlichen Wettbewerbsnachteil 
für den Standort Deutschland nach sich zieht. 

Hans-Joachim Hacker (SPD): 

Seit Jahren gibt es eine sich wiederholende Diskus- 
sion zum Thema „kontaminierte Kabinenluft“. Manche 
bezeichnen das als Phantomdiskussion. Die SPD-Bun- 
destagsfraktion sagt klar: Wir haben es hier mit einem (D) 
Problem für Flugsicherheit und Gesundheit des Flug- 
personals und der Passagiere zu tun. Deswegen haben 
wir das Problem aufgegriffen. In unserer Bewertung 
fühlen wir uns unterstützt durch zahlreiche Medienbe- 
richte wie im „Spiegel“ und der Magazinsendung „Mo- 
nitor“, aber mehr noch durch Berichte von Flugzeugbe- 
satzungen. 

Im Tourismusausschuss hat es am 21. September 2011 
hierzu ein Expertengespräch gegeben. Im Vorfeld dieses 
Expertengespräches erreichten den Tourismusausschuss 
beunruhigende Berichte von Flugzeugbesatzungen, die 
über chemische Gerüche in Flugzeugkabinen klagten 
und über gesundheitliche Beeinträchtigungen berichte- 
ten. Es geht hier nicht nur um gesundheitliche Gefähr- 
dungen für die Flugzeugbesatzung und Passagiere, son- 
dern es geht um ein Risiko für die Flugsicherheit. So 
wurde zum Beispiel berichtet, dass Piloten am 18. Ja- 
nuar 2002 auf einem Flug von Katowice nach Frankfurt, 
nachdem sie den ganzen Flug über schon Gerüche in der 
Kabine festgestellt hatten, nur durch das Aufsetzen der 
Sauerstoffmasken das Flugzeug sicher auf den Boden 
bringen konnten. Berichte über ähnliche Vorkommnisse 
gibt es auch aus jüngerer Zeit. Ich verweise auf die Dar- 
legungen im Expertengespräch. 

Um welches technische Problem geht es eigentlich? 
Diese als „smoke/fume-events“ bezeichneten Vorkomm- 
nisse entstehen zum Beispiel, wenn infolge fehlerhafter 
Dichtungen durch das Zapfluftsystem der Verkehrsflug- 
zeuge Rückstände von verdampftem Triebwerksöl ange- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Hans-Joachim Hacker 


(A) sangt werden und danach in die Kabinenluft gelangen. 
Im Triebwerksöl enthalten sind verschiedene Additive, 
unter anderem das hoch giftige Trikresylphosphat, TKP, 
englisch TCP. Gelangen diese Rückstände in die Kabi- 
nenluft, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie 
ernste gesundheitliche Beeinträchtigungen wie ste- 
chende Schmerzen in Armen, Händen, Füßen, Schwin- 
del, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche, chronische 
Müdigkeit, Asthma, Schädigungen des Nervensystems, 
Krebs etc. hervorrufen können. Einwirkungen auf das 
Servicepersonal für die Reinigung der Flugzeuge am 
Boden sind nicht ausgeschlossen. 

Bislang ist es für das betroffene Flugpersonal schwer, 
zu beweisen, dass langfristige gesundheitliche Schäden 
durch das Einatmen bzw. anderweitige Aufnahme von 
Giftstoffen während der Tätigkeit an Bord verursacht 
wurden, denn bislang fehlt der wissenscha ftliche Beweis 
einer Kausalkette für die Auswirkungen von kontami- 
nierter Kabinenluft auf die menschliche Gesundheit. 
Eine Erkrankung mit den beschriebenen Symptomen, 
das „Aerotoxische Syndrom“, wurde bislang von den 
Berufsgenossenschaften nicht als Berufskrankheit des 
fliegenden Personals klassifiziert. Hier besteht dringen- 
der Klärungsbedarf, in diesem Sinne ist unser Antrag zu 
verstehen. 


(B) 


Vorfälle infolge kontaminierter Kabinenluft treten un- 
vorhergesehen auf Häufig besteht keine Klarheit da- 
rüber, wann es sich um eine Störung bzw. schwere Stö- 
rung nach § 5 der Luftverkehrs-Ordnung, LuftVO, 
handelt. Stellungnahmen des Flugpersonals und aktuelle 
Medienberichte lassen darauf schließen, dass das Perso- 
nal im Hinblick auf diese Vorfälle bislang nur ungenü- 
gend au fgeklärt und geschult wurde. Gemäß § 5 der Luft- 
verkehrs-Ordnung, LuftVO, sind „smoke/fume-events“ 
dem Luftfahrtbundesamt, LBA, bzw. der Bundesstelle für 
Fluguntersuchungen , BFU, anzuzeigen. In 2010 wurden 
bei der BFU zwar von einer deutschen Airline 60 01- 
dampfStörfälle gemeldet, vergleiche „ Spiegel“ -Aus- 
gabe 9/2011. Dennoch besteht offensichtlich eine Dis- 
krepanz zwischen den in den Medien berichteten 
Vorfällen, bei denen kontaminierte Kabinenluft vermutet 
wurde, und den tatsächlich bei der BFU angezeigten 
Störfällen. Auch hier besteht dringender Aufklärungsbe- 
darf. Das Expertengespräch hat ergeben, dass die Sach- 
verständigen die Existenz eines „Problems“ bestätigt 
haben. In der Frage der Folgen von kontaminierter Ka- 
binenluft auf Flugsicherheit und Gesundheit gab es un- 
terschiedlich Bewertungen. Die SPD-Bundestagsfrak- 
tion geht davon aus, dass die Flugzeugindustrie und die 
Fluggesellschaften, aber auch die Flugsicherheitsbe- 
hörden ein großes Interesse an der weiteren Ursachen- 
forschung und an technischen Lösungen haben. 


Der SPD-Bundestagsfraktion fehlen Handlungsan- 
weisungen zur technischen Aufklärung der Ursachen 
dieser Erscheinung auf der Basis gesicherter Erkennt- 
nisse und wissenschaftlich-technischer Forschungser- 
gebnisse. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesre- 
gierung daher auf, entsprechend tätig zu werden. Wir 
erwarten von der Bundesregierung, dass nun endlich um- 
fassende Langzeitmessungen zur Belastung der Kabinen- 
luft mit Organophosphaten und anderen Schadstoffen 


veranlasst werden, und im Rahmen einer unabhängigen (C) 
wissenschaftlichen Studie der kausalen Zusammenhang 
zwischen kontaminierter Kabinenluft und den gesund- 
heitlichen Auswirkungen weiter erforscht wird. Die Ent- 
wicklung von geeigneten Bluttests zum Nachweis von Or- 
ganophosphaten im menschlichen Organismus muss 
vorangetrieben werden, um schädigende Auswirkungen 
auf die Flugzeugbesatzungen und die Passagiere feststel- 
len zu können, wenn es zu einem Vorfall mit kontaminier- 
ter Kabinenluft gekommen ist. Für die vom ,, Aerotoxi - 
sehen Syndrom “ betroffenen Flugzeugbesatzungen ist es 
von besonderer Wichtigkeit, dass die Voraussetzungen 
für eine mögliche Anerkennung als Berufskrankheit ge- 
prüft werden. Wir dürfen die Piloten und Flugbegleite- 
rinnen hier nicht im „Dunst“ stehen lassen. 


Um das gesamte Problem feld zu untersuchen und Lö- 
sungen zu finden, müssen die zuständigen Bundesbehör- 
den, die Luftfahrtunternehmen und Flugzeug- sowie 
Triebwerkshersteller Hand in Hand arbeiten. Die Ent- 
wicklung geeigneter Mess-, Kontroll- und Warnsysteme 
für gesundheitsgefährdende Stoffe im Zapf/Luftsystem 
aus den Triebwerken muss vorangetrieben werden. Ein 
Lösungsweg könnte im Einbau entsprechender Technik, 
wie zum Beispiel Sensoren in Verkehrsflugzeugen mit 
Zapf/Luftsy stem, bestehen. Für die künftige Generation 
von Verkehrsflugzeugen ist die Entwicklung von Alterna- 
tiven zur gegenwärtigen Zapfsystemtechnik zu prüfen. 


Im Zusammenhang mit der Erstellung dieses Antrags 
hatte ich interessante Gespräche mit Unternehmen, Ge- 
werkschaften und der Luftverkehrswirtschaft. Dabei 
wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Firma gelenkt, 
die bereits ein Messgerät entwickelt hat - den „Aero- 
tracer“ - das bereits im praktischen Einsatz ist, um Öl- 
dämpfe aus Flugzeugturbinen zu lokalisieren. Dies ist 
nach meiner Auffassung ein Ansatzpunkt für weitere 
tech n ische Untersuch ungen. 


(D) 


Die SPD-Bundestagsfraktion sieht im Übrigen ein 
Potenzial für die Beseitigung des „ Problems “ auch in 
der Entwicklung von nicht toxischen Schmierölen für 
Triebwerke. Diese Entwicklungen müssen vorangetrie- 
ben werden. Es liegt nahe, dass nicht nur die Flugzeug- 
besatzungen und Passagiere, sondern auch das Reini- 
gungspersonal dem gesundheitsgefährdenden TCP 
ausgesetzt sein können. Deshalb fordern wir mit unse- 
rem Antrag von der Bundesregierung Untersuchungen 
zu veranlassen, die Aufschluss über mögliche gesund- 
heitliche Belastungen des Reinigungspersonals durch 
Kontakt mit entsprechenden Schadstoffen auf Sitzen und 
Innenverkleidung geben. 


Das Thema „kontaminierte Kabinenluft“ ist von ed- 
len Experten als ein Problem anerkannt worden. Des- 
halb fordern wir, dass über ein kontinuierliches Forum 
der fachliche Informationsaustausch über Kabinenluft- 
belastungen geführt wird. Darin müssen die zuständigen 
Ministerien und Behörden, aber auch Gewerkschaften, 
Verbände, Berufsgenossenschaften, die Luftfahrtindus- 
trie und die Luftfahrtunternehmen einbezogen werden. 

Wir dürfen die Betrachtung des Problems nicht auf 
Deutschland beschränken. Es reicht nicht aus, in 
Deutschland die Untersuchungen zur kontaminierten 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Hans-Joachim Hacker 

(A) Kabinenluft voranzutreiben. Dies ist ein globales 
Thema. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Bundes- 
regierung auch auf EU-Ebene und international dafür 
einsetzt, dass Untersuchungen zu diesem Thema durch- 
geführt und daraus abgeleitete einheitliche Standards 
für die Qualitätssicherung der Kabinenluft sowie ent- 
sprechende Prüfverfahren vereinbart werden. Wir kön- 
nen uns in Kenntnis der Vorkommnisse mit den derzeiti- 
gen fachlichen Bewertungen durch die EASA nicht 
zufrieden geben. 

Ich bitte Sie im Interesse der Flugzeugbesatzungen 
und der Passagiere unseren Antrag zu unterstützen. 

Torsten Staffeldt (FDP): 

Die von Bündnis 90/Die Grünen und SPD vorgeleg- 
ten Anträge sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie 
Hysterie verbreitet wird. Wer die Antragstexte liest, be- 
kommt den Eindruck, als ob Fluggäste und Flugperso- 
nal geradezu reihenweise vergiftet werden. Es heißt 
sogar, dass ein ,, enormes Risiko für die Flugsicherheit 
bestünde 

In Deutschland starten und landen jedes Jahr fast 
drei Millionen Flugzeuge. Zahlen, die auch nur ansatz- 
weise eine Gefahr für die Flugsicherheit durch kontami- 
nierte Kabinenluft hergeben, lassen sich nicht finden. 
Die Europäische Agentur für Flugsicherheit EASA hat 
im Mai 2011 festgehalten, dass es zum Thema Kabinen- 
luft bezogen auf die Sicherheit keinen Vorfall gebe, der 
eine sofortige oder generelle Vorschriftenänderung 
(ß) rechtfertigt. Ebenso wenig gibt es Erkenntnisse über 
großflächige Vergiftungen. Insofern stellt sich die Frage, 
ob hier nicht Panik geschürt wird, die der Sache unan- 
gemessen ist. 

Stattdessen wird von den Grünen auch noch der Ver- 
dacht geschürt, die Luftverkehrsbranche würde Rechts- 
bruch begehen. Es heißt da im Antrag, die Bundesregie- 
rung solle „die Einhaltung aller Rechtsvorschriften 
fordern “. Oder wollen Sie behaupten, dass die Bundes- 
regierung kein Auge darauf hat, dass geltendes Recht 
eingehalten wird? 

Natürlich, die Möglichkeit, dass Kabinenluft in Flug- 
zeugen kontaminiert wird, darf nicht einfach beiseite ge- 
wischt werden. Es besteht aber nicht, wie von Ihnen, 
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, darge- 
stellt, akuter Handlungsbedarf. Die Ergebnisse der 
EASA, die sich mit dem Thema beschäftigt, sind öffent- 
lich. Die EASA will weitere Studien auf den Weg brin- 
gen. Es ist nicht nötig, wie von Ihnen gefordert, weitere 
umfangreiche Testreihen auf den Weg zu bringen. Diese 
Forderung ist schlicht unangemessen und unverhältnis- 
mäßig. 

Ich weise Sie auch daraufhin, dass die Industrie die- 
ses Thema schon lange auf dem Schirm hat. Sowohl die 
Fluggesellschaften als auch die Flugzeughersteller be- 
schäftigen sich intensiv mit der Problematik. Dabei sind 
Studien sowohl der Fluggesellschaften selbst als auch 
der Berufsgenossenschaft ohne Befund geblieben. Die 
Hersteller arbeiten bereits an Lösungen, die die schon 


jetzt sehr geringe Gefahr weiter reduzieren. Störungen (C) 
und Ereignisse, die die Sicherheit beeinträchtigen kön- 
nen, eben zum Beispiel kontaminierte Kabinenluft, müs- 
sen dem Luftfahrt-Bundesamt gemeldet werden. Hier ist 
es auch unverhältnismäßig, zu fordern, dass selbst jede 
kleine Störung weitergemeldet wird. Damit schaffen Sie 
einen erheblichen bürokratischen Aufwand, der in kei- 
nem Verhältnis zum Nutzen steht. Eine Meldepflicht für 
jede noch so kleine Störung ist abseits der Lebenswirk- 
lichkeit. 

Es gibt bereits eine Reihe von Maßnahmen, die auf 
den Weg gebracht wurden. Es gibt bereits Studien, und 
weitere sind im Auftrag, also muss man die Kirche auch 
mal im Dorf lassen. Die von der Opposition ge forderten 
Gremien und neuen Studien bedeuten eine unverhältnis- 
mäßige Bürokratie. Neue Erkenntnisse hingegen sind 
nicht zu erwarten. Es bleibt schleierhaft, wieso die bis- 
herigen Instanzen nicht ausreichend für die Problematik 
qualifiziert sein sollen. 

Es ist auch bezeichnend, wie hier, um dem eigenen 
Antrag mehr Dramatik zu verleihen, Worte verdreht wer- 
den. Die sogenannten „fume-events“ werden gleich 
samt und sonders zu einer Verunreinigung durch Öl- 
dämpfe erklärt, obwohl sie auch andere Ursachen haben 
können. 

Hinzu kommt, dass nicht jeder, der mit Kopfschmer- 
zen oder Übelkeit aus dem Flugzeug steigt, gleich ver- 
giftet worden ist. Wer diesen Eindruck erw’eckt, handelt 
fahrlässig und schürt unverantwortliche Panik unter cdl 
den Millionen Urlauberinnen und Urlaubern, unter den (D) 
Berufspendlern und unter dem Flugpersonal. Oft genug 
vertragen Menschen den niedrigen Luftdruck in der 
Höhe nicht, leiden unter einer Allergie oder haben 
schlicht zu wenig getrunken. Wer dann mit solchen An- 
trägen kommt und den Menschen den Eindruck vermit- 
telt, sie seien vergiftet worden, handelt schon fast fahr- 
lässig. 

Das Fliegen gehört zu den sichersten Fortbewe- 
gungsmöglichkeiten überhaupt. Daran ändern auch 
einzelne Vorfälle nichts. Wie oft hat es bei den fast drei 
Millionen Flugbewegungen in Deutschland solche Pro- 
bleme gegeben? Und wie oft haben die Flugpassagiere 
dann noch so viel von eventuellen Schadstoffen eingeat- 
met, dass es überhaupt zu einer Vergiftung kommt? Ver- 
gessen Sie auch nicht, dass die Kabinenluft eines Flug- 
zeugs innerhalb weniger Minuten komplett aus getauscht 
wird. Dies edles ist bei der Bewertung dieser Frage 
ebenfalls zu berücksichtigen. Eine hundertprozentige Si- 
cherheit wird man nie schaffen können. 

Letzten Endes bleibt der Eindruck, dass die Anträge 
vor allem durch eine generelle Skepsis gegenüber dem 
Flugverkehr motiviert sind. Es gibt bereits diverse Un- 
tersuchungen zu diesem Thema, und die verantwortli- 
chen Stellen, also vor allem das Luftfahrt-Bundesamt 
und die Europäische Agentur für Flugsicherheit, han- 
deln verantwortungsbewusst und angemessen. Es be- 
steht kein Grund, eine überbordende Bürokratie aufzu- 
bauen und Doppelstrukturen zu schaffen. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Thomas Lutze (DIE LINKE): 

Immer wieder berichten Fluggäste und die Besatzun- 
gen von Flugzeugen von störenden, chemischen Gerü- 
chen und Rauch- oder Gaserscheinungen in der Kabine. 
Diese sogenannten Fume Events oder Smoke Events 
werden ausgelöst durch das Ansaugen von verdampften 
Ölrückstanden durch die Frischluftzufuhr des Flugzeu- 
ges. Dieses Triebwerksöl enthält unter anderem das 
hochgiftige Kresylphosphat, weshalb die Kontamination 
der Kabinenluft durch Ölrückstände im dringenden Ver- 
dacht steht, für eine Reihe akuter Beschwerden und 
chronischer Erkrankungen von Kabinenpersonalperso- 
nal verantwortlich zu sein. 

Unser im Tourismusausschuss durchgeführtes Exper- 
tengespräch hat uns zum Thema aufschlussreiche wie 
erschreckende Erkenntnisse gebracht. Hierbei bewegen 
mich besonders zwei Aspekte: Die Belange der Betroffe- 
nen, die als fliegendes Personal dem Schadstoff Kresyl- 
phosphat möglicherweise über Jahre in gesundheits- 
schädlichen Konzentrationen ausgesetzt waren. Zum 
Zweiten, wie eine Kontamination zukünftig wirksam 
ausgeschlossen werden kann. 

Ich komme zunächst zum fliegenden Personal. Wie im 
Expertengespräch deutlich wurde, haben Angestellte 
der Luftfahrtbranche große Schwierigkeiten bei der Be- 
weisführung, dass infrage kommende Erkrankungen 
durch eine Kontamination der Kabinenluft durch Kresyl- 
phosphat ausgelöst wurden. Dies liegt zum einen daran, 
dass ein Nachweis über die Aufnahme von Kresylphos- 
phat in den Körper und ein Zusammenhang mit chroni- 
schen Erkrankungen aus medizinischer Sicht schwer zu 
führen ist. Auf der anderen Seite - und dies wiegt schwe- 
rer - zögern viele Kabinenbeschäftigte aufgrund von 
Klauseln in ihrem Arbeitsvertrag damit, ihre Beschwer- 
den untersuchen zu lassen: denn sollte ein Arzt die Flug- 
unfähigkeit eines Beschäftigten feststellen, ist dieser sei- 
nen Job los. Ohne beweisen zu können, dass seine 
Flugunfähigkeit durch die berufliche Tätigkeit verur- 
sacht wurde, bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin. 
Hier muss die rechtliche Situation dringend zugunsten 
der Beschäftigten angepasst werden. 

Wie kann es aus technischer Sicht überhaupt zu einer 
solchen Kontamination der Kabinenluft durch Rück- 
stände von Triebwerksöl kommen? Die Antwort ist in 
der Tat bemerkenswert: Die Luft für die Triebwerke des 
Flugzeuges und die Luft zur Belüftung der Kabine wird 
dem Flugzeug durch ein und dasselbe Ansaugsystem zu- 
geführt, wodurch im Störungsfalle Substanzen aus dem 
Treibwerk in die Luftzufuhr gelangen können. Die Zu- 
sammenführung der Luftversorgung von Triebwerk und 
Kabine ist allerdings keine technische Notwendigkeit, 
sondern lediglich Kostengrünen geschuldet. Eine Tren- 
nung in zwei voneinander getrennte Systeme ist tech- 
nisch ohne Weiteres möglich und würde die sogenannten 
Fume/Smoke-Events wirksam ausschließen. 

Aus Sicht der Linken sind folgende Maßnahmen im 
Umgang mit kontaminierter Kabinenluft erforderlich: 
langfristig angelegte unabhängige Untersuchungen zur 
Häufigkeit der sogenannten Fume/Smoke-Events ; Maß- 
nahmen zur Luftgütesicherung in Kabinen durch Instal- 


lation von geeigneten Messsystemen; eine medizinische (C) 
Studie zu den Auswirkungen einer Langzeitkontamina- 
tion mit Kresylphosphat bei gleichzeitiger Herstellung 
von Rechtssicherheit für die Beschäftigten im Hinblick 
auf ihren Arbeitsplatz und mittelfristig eine Änderung 
der Bestimmungen zum Flugzeugbau, sodass eine Kon- 
tamination von Kabinenluft mit Triebwerksrückständen 
zukün ftig auf technischem Wege ausgeschlossen werden 
kann. 

Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Seit fast zwei Jahren beschäftige ich mich nun mit 
dem Thema Kabinenluft in Verkehrsflugzeugen. Heute 
haben Sie einen Antrag von uns vorliegen. Warum haben 
wir so lange an diesem Antrag gearbeitet? Ich sage es 
Ihnen: Es ist ein sehr komplexes Thema, das keine 
Schnellschüsse erlaubt. 

Dabei lässt es sich ganz kurz vorstellen: Es geht um 
Nervengift in der Flugzeugkabine. Ich hielt das zunächst 
für ausgeschlossen. Deshalb habe ich entsprechende 
Vorrecherchen betrieben, führe seit nunmehr anderthalb 
Jahren intensive Gespräche. Nur nicht mit den Flug- 
gesellschaften. Die verwehren sich größtenteils diesem 
Dialog, leider. Dabei wird es nur mit ihnen gelingen. 

Erst im Vorfeld der heutigen Debatte erhielt ich erste 
Rückmeldungen. Dieser Antrag ist deshalb - wohl ge- 
merkt - nur ein Zwischenergebnis. 

Es geht nicht nur um Gift in der Kabine und damit um 
die Flugsicherheit und die Gesundheit von Passagieren 
und Flugpersonal. Es geht hier um unternehmerische 
Verantwortung und eine Bundesregierung, die nicht (D) 
handelt. Aber es geht auch um die Zukunft der Luftver- 
kehrswirtschaft. Dieses Thema erstreckt sich weit in die 
Industriepolitik. Deshalb ist hier erstens ein Dialog der 
Akteure gefragt und zweitens auch eine Politik, die sich 
der Konsequenzen durchaus bewusst ist. 

Mich erinnert die Debatte manchmal ein wenig an die 
Diskussion über andere Schadstoffe wie etwa Asbest. 

Auch hier hat man lange ein Problem negiert. Heute 
weiß man jede Menge darüber, und niemand würde mehr 
die Gefährlichkeit dieses Stoffes bestreiten. 

Im Flugzeug haben wir es mit mehreren verschiede- 
nen Gefährdungsquellen zu tun. Das haben wir in unse- 
rem Antrag dargelegt. Leider leidet der heute zuständige 
Staatssekretär Mücke offensichtlich an Regierungsam- 
nesie. Jedenfalls scheint er sich nicht mehr daran zu er- 
innern, dass er in der letzten Legislaturperiode selber 
Informationen einforderte und explizit auf Pestizide in 
Flugzeugen hinwies. Herr Mücke, Sie ließen zuletzt über 
das Kabinettsreferat mitteilen, dass meine diesbezügli- 
chen Schreiben an zuständige Behörden nicht mehr be- 
antwortet würden. Ich finde, das ist ein ganz schön di- 
cker Hund! 

Um eines deutlich zu sagen: Uns geht es hier nicht 
darum, Verunsicherung zu schüren oder Airlines zu be- 
schädigen, wie uns zuweilen unsachlich vorgeworfen 
wird. Uns geht es darum, eine nachhaltige Lösung für 
ein schwerwiegendes Problem zu finden, das es objektiv 
betrachtet gibt. Es hilft weder den Passagieren und den 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Markus Tressel 

(A) Besatzungen noch den Airlines selbst, wenn man sich ei- 
nem derartigen Problem nicht stellt und stattdessen eine 
Wagenburg baut und versucht, das Thema auszusitzen. 

Es bringt aber auch nichts, ausschließlich zurückzu- 
schauen. Ich appelliere an die Airlines, aber auch an die 
Flugzeughersteller, den Dialog unaufgeregt und sach- 
lich zu führen und mit der Politik gemeinsam eine Lö- 
sungzufinden. Wir haben mit unserem Antrag Lösungs- 
vorschläge gemacht, die auch die Industrie nicht 
überfordern, aber für mehr Sicherheit und Gesundheits- 
prävention im Flugverkehr sorgen. Und das ist nicht nur 
im Interesse zufriedener Fluggäste und Besatzungsmit- 
glieder, sondern auch im ökonomischen Interesse der 
Fluggesellschaften. 

Ich möchte mich hier noch einmal kurz auf die OT 
dämpfe konzentrieren. Wie kommen die eigentlich in die 
Kabine? Vereinfacht dargestellt: Fast alle Flugzeuge 
zapfen die Luft an den Triebwerken ab. Darin werden 
Öle benutzt. Und in den Ölen befinden sich Additive, die 
toxisch wirken. Wenn diese Öle erhitzt werden und 
Dampf bilden, kann dieser in die Kabinenluft gelangen. 
Lediglich eine Dichtung trennt mit Öl geschmierte Teile 
des Triebwerkes von der Kabinenluft. Solche Dichtun- 
gen lassen konstruktionsbedingt bei Lastwechseln quasi 
immer zumindest geringe Mengen an Öldampf durch, 
der dann in die Kabinenluft gelangt. So wurde auch eine 
Belastung von neurotoxischen Stoffen im Normalbetrieb 
durch das norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt 
festgestellt. Dieser Mechanismus ist meines Erachtens 
schon rein aus der Logik heraus extrem fragwürdig. Wa- 
rum zapft man ,, Frischluft“ in Triebwerken ab, die nun 

^ ' mal auf Öle etc. angewiesen sind? Nun gut: Dieses Pro- 
blem wird man nicht von heute auf morgen lösen können. 
Lösungsansätze haben wir Ihnen präsentiert. Und nicht 
zuletzt der Dreamliner zeigt mit seiner Abkehr vom 
Zapfluftmechanismus, wohin die Reise technisch geht! 

Qualitätsstandards der Kabinenluft sind bezogen auf 
die drei Gefahrenquellen TCP, Ozon und Pestizide nicht 
vorhanden. Stattdessen ist es laut den Bestimmungen so- 
gar zulässig, Passagiere bei 60 Grad Celsius zu beför- 
dern. Das macht doch deutlich, dass wir hier Hand- 
lungsbedarfhaben. Das LBA erweist sich bislang nicht 
als verantwortungsbewusst . Bis zuletzt begnügte sich die 
Aufsichtsbehörde mit erst auf Nachfrage gemeldeten 
Fällen von meldepflichtigen Ereignissen. Das kann nicht 
geduldet werden. Das widerspricht auch nicht zuletzt 
dem europäischen Recht! 

Kurzum: Öldampf hat nichts in der Kabine zu suchen. 
Ozon hat nichts in der Kabine zu suchen. Und Pestizide 
haben auch nichts in der Kabine zu suchen, wenn Passa- 
giere darin sitzen. 

Fälle, bei denen Personal ausfällt und Störungen, 
welcher Art auch immer, festgestellt werden, sind 
schwere Störungen! Daran gibt es nichts zu deuteln. 
Aber durch zögerliches Meldeverhalten werden hier un- 
abhängige Untersuchungen verhindert. Weitere Unter- 
suchungen seien auch gar nicht nötig, so die Wirtschaft 
bislang; denn eigene Tests würden beweisen, dass noch 
nie etwas gefunden worden wäre. Ist ja erstaunlich, 
fragt man sich da. Nicht nur, dass Testverfahren und 


Suchergebnisse eventuell falsch sein könnten - es ist (C) 
doch umso verwunderlicher, dass eine Vielzahl von un- 
abhängigen Studien und Forschungen mittlerweile 
Nachweise erbracht haben. Sind denn etwa nur deutsche 
und betriebsinterne Studien anerkannt? Das wäre ein 
ganz schön großer Affront gegen die Wissenschaft! 

Die Liste der Studien wird immer länger, die auf kon- 
taminierte Kabinenluft - mittlerweile, wie vorhin gesagt, 
sogar im Normalbetrieb - hinweisen. Das Fresenius 
Institut hatte im Jahr 2009 über sogenannte Wischpro- 
ben eine Verunreinigung der Lufteinlässe durch TKP 
festgestellt. Gestützt wird diese These mittlerweile durch 
andere Untersuchungen wie beispielsweise durch das 
norwegische Staatsinstitut für Arbeitsumwelt oder Stu- 
dien aus den USA, bei denen 50 Prozent der getesteten 
Personen Abbauprodukte im Blut hatten, obwohl sie 
noch nicht einmal ein „fume-event“ bewusst erlebt ha- 
ben. 

Neben den Amerikanern, den Norwegern, Briten, 
Australiern und Kanadiern kommt dieses Thema nun 
Deutschland immer näher. So zeigen sich auch in den 
Niederlanden entsprechende Forschungsansätze. Und 
was passiert hier? Ein Großteil der Arbeitsmediziner ist 
überfordert, weil es keine Forschung hierzulande gibt. 
Folglich wird auch eine mögliche Erkrankung nicht auf 
einen Flug zurückgeführt. Unbekannte Anamnese, heißt 
es dann. Wir haben zahlreiche Stellungnahmen von Be- 
troffenen im Vorfeld des Expertenhearings bekommen. 
Warum lassen diese Menschen zahlreiche Untersuchun- 
gen über sich ergehen, zuweilen in den USA für viele 
Tausend Euro, frage ich mich. Das sind doch nicht edles (D) 
Simulanten, die sich ein Krankheitsbild überlegt haben, 
um ihren Arbeitgeber zu schädigen! 

Das Statement des Bundesverbandes der Deutschen 
Luftverkehrswirtschaft, BDL, möchte ich zum Abschluss 
zitieren. „Für die Luftverkehrswirtschaft haben die Si- 
cherheit und damit das Ziel, dass Passagiere und Mit- 
arbeiter ihr Ziel gesund und sicher erreichen, höchste 
Priorität. “ Wenn dem so ist, wovon ich ausgehe, muss 
man auch entsprechend handeln. Selbst wenn nur der 
geringste Verdacht bestünde, dass es ein ernsthaftes 
Problem gibt, wäre ein stringenteres Handeln notwen- 
dig. Wir sind bereit, zusammen mit der Wirtschaft nach 
Lösungen zu suchen, und bieten noch einmal den Dicdog 
und die Bereitschaft an, im Interesse der Fluggäste, der 
Besatzungen und der Airlines zu deutlichen Verbesse- 
rungen zu kommen. Wir haben Lösungswege in unserem 
Antrag aufgezeigt, für deren Umsetzung wir werben. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf 
Drucksachen 17/7480 und 17/7611 an die in der Tages- 
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die 
Federführung ist jedoch bei beiden Vorlagen strittig. Die 
Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Fe- 
derführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt- 
entwicklung. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen 
und SPD wünschen jeweils Federführung beim Aus- 
schuss für Tourismus. 



16650 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Vizepräsident Eduard Oswald 

Ich lasse zunächst abstimmen über die Überweisungs- 
vorschläge der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen 
und der Sozialdemokraten, also über die Federführung 
beim Tourismusausschuss. Wer stimmt für diese Über- 
weisungsvorschläge? - Das sind die SPD-Fraktion, 
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer stimmt 
dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthal- 
tungen? - Keine. Die Überweisungsvorschläge sind ab- 
gelehnt. 

Ich lasse nunmehr abstimmen über die Überwei- 
sungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, 
also über die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, 
Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diese Über- 
weisungsvorschläge? - Das sind die Koalitionsfraktio- 
nen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei anderen 
Fraktionen in der Opposition. Enthaltungen? - Keine. 
Überweisungsvorschläge sind angenommen. 

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 26 sowie den 
Zusatzpunkt 7 : 

26 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim 
Dagdelen, Jan Körte, Matthias W. Birkwald, wei- 
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkom- 
men - Assoziationsrecht wirksam umsetzen 

- Drucksache 17/7373 - 

Überweisungsvorschlag: 

Innenausschuss (f) 

Auswärtiger Ausschuss 
Rechtsausschuss 

Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, 
Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), 
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 
NIS 90/DIE GRÜNEN 

Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehö- 
riger für Kurzaufenthalte ermöglichen 

- Drucksachen 17/3686, 17/5989 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Reinhard Grindel 
Daniela Kolbe (Leipzig) 

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) 

Ulla Jelpke 
Memet Kilic 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen liegen hier vor. 

Michael Frieser (CDU/CSU): 

Bereits in der vergangenen Plenarwoche haben wir 
im Plenum ausführlich über den 50. Jahrestag des 
deutsch-türkischen Anwerbeabkommens debattiert. Un- 
verständlich ist es deshalb, dass nun mit einiger Verspä- 
tung im Antrag der Linksfraktion dazu noch einmal die- 


selben Forderungen vorgebracht werden, die wir nicht (C) 
nur bereits aus der gemeinsam vereinbarten Debatte am 
26. Oktober 2011 im Plenum kennen, sondern auch aus 
einigen gleichgerichteten Anfragen der letzten Jahre. 

Gefordert wird - in der eigenen Begrifflichkeit der 
Linksfraktion - die Änderung der „restriktiven Einwan- 
derungspolitik“: erleichterte Einbürgerungen, Wahl- 
recht für Ausländer au f kommunaler, Landes- und Bun- 
desebene und die Rücknahme der so bezeichneten 
„ Gesetzesverschärfungen Mit Letzterem bezieht sich 
die Linksfraktion insbesondere auf das von Regierung 
und Koalition im März dieses Jahres beschlossene „ Ge- 
setz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besse- 
ren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“, zum Beispiel 
auf die Verlängerung der Mindestehebestandszeit, auf- 
grund derer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des 
Ehepartners nunmehr erst nach drei und nicht mehr wie 
bisher nach zwei Jahren begründet werden kann. All 
diesen angeblichen „ Verschärfungen “ läge derselbe 
Fehler zugrunde: Die Verletzung der sogenannten Still- 
halteklausel des Assoziationsrechts zwischen der EU 
und der Türkei. 

Ich möchte mich hier nicht detailliert mit unseren Ge- 
setzesvorhaben der letzten Jahre auseinandersetzen und 
die Angemessenheit dieser Regelungen begründen, da 
an dieser Stelle zum einen dafür schlichtweg die Zeit 
fehlt, vor allem aber, weil diese schon ausgiebigst in den 
einzelnen Stufen des Gesetzesverfahrens erörtert wur- 
den. Ich möchte vielmehr auf den von der Linksfraktion 
zu Unrecht erkannten „Grundfehler“ und die „stand- 
still “-Klausel eingehen: (D) 

Unter Berufung auf eine Ausarbeitung des Wissen- 
schaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages be- 
hauptet die Linksfraktion, die Bundesregierung habe 
gegen das Verschlechterungsverbot im Assoziationsab- 
kommen zwischen der EWG und der Türkei aus dem 
Jahre 1963 verstoßen. Die Bundesregierung hat aber in 
diesem Zusammenhang bereits mehrfach ausgeführt, 
dass sich die hier von der Fraktion Die Linke erhobenen 
Forderungen keineswegs zwingend aus dem Assozia- 
tionsrecht ergeben. Wir halten weiter an unserer be- 
kannten Rechtsauffassung zu der Reichweite der asso- 
ziationsrechtlichen Stillhalteverpflichtungen fest. Insoweit 
sei insbesondere auf die Vorbemerkung der Bundes- 
regierung in der Drucksache 17/5884 vom 23. Mai 2011 
verwiesen. 

Selbst wenn sich aus dem Assoziationsrecht Folge- 
rungen ergäben, bestünde aber immer noch kein Rechts- 
änderungsbedarf. Zur Begründung sei erneut auf die 
Drucksache 17/5884 verwiesen. 

Mir geht langsam das Verständnis dafür verloren, 
dass die Fraktion Die Linke nun zum wiederholten Male 
die immer gleichen Argumente vorträgt. Auch durch Re- 
petition werden diese nicht richtiger. Noch weniger Ver- 
ständnis habe ich allerdings für die Tatsache, dass hier 
unter dem Titel „50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbe- 
abkommen “ versucht wird, bei den ehemaligen Gastar- 
beitern eine Missstimmung über eine ihnen vermeintlich 
angetane Ungerechtigkeit zu erzeugen, indem man näm- 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16651 


Michael Frieser 

(A) lieh behauptet, die Bundesregierung würde ihnen Rechte 
vorenthalten. 

Das ist nun aber keineswegs der Fall. Wenn wir zum 
Beispiel über das Wahlrecht sprechen, dann ist festzu- 
halten, dass alle diejenigen, die die deutsche Staatsan- 
gehörigkeit erworben haben - was auf die meisten der 
ehemaligen Gastarbeiter zutrifft — , das Recht und die 
tatsächliche Möglichkeit haben, in Deutschland auf al- 
len Ebenen zu wählen. Auch haben sich für diejenigen, 
die sich offen für Deutschland entschieden haben, seit 
dem ,, Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und 
zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat“ keine 
Verschlechterungen ergeben: 

Für Deutschland wie für die Türkei war das Anwer- 
beabkommen ohne jeden Zweifel ein Gewinn. Die Zu- 
wanderer haben großen Anteil am Erfolg der deutschen 
Wirtschaft. Der Umgang mit Gastarbeitern, die im 
Grunde, was damals noch keiner wusste, Einwanderer 
waren, war der Bundesrepublik damals noch fremd. 
Deshalb haben alle damaligen Parteien, auch wir, in der 
Integrationspolitik - aus heutiger Sicht - zweifellos 
auch Fehler gemacht. Aber gerade in den letzten Jahren 
hat sich die Bundesregierung mit aller Kraft für eine 
bessere Integration eingesetzt. Wir wollen den Migran- 
ten eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen und so 
den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland 
stärken. Deshalb haben wir in der Integrationspolitik 
bewusst umgesteuert. Wir fördern die Integration der 
Migrationsbevölkerung mit allen Mitteln, fordern zu- 
gleich aber auch deren aktive Mitarbeit an der Integra- 

(B) 

tion ein. Das beste Beispiel hierfür sind die verpflichten- 
den Integrationskurse, die sich zum weit überwiegenden 
Teil auf die Vermittlung der deutschen Sprache konzen- 
trieren, die - unstreitig - das Fundament des Miteinan- 
ders in Deutschland ist. Nur wer die deutsche Sprache 
spricht, kann sich in unsere Gesellschaft einfinden und 
mit den Mitmenschen kommunizieren, und ist damit 
fähig zu Teilnahme und Teilhabe. Darüber hinaus erfor- 
dern der Zusammenhalt und die Weiterentwicklung un- 
serer Gesellschaft eine sinnvolle Steuerung der Migra- 
tion, was auch integrationspolitische Maßnahmen sowie 
die Neuzuwanderung begrenzende Maßnahmen mit ein- 
schließt. 

Ich stimme meinem Kollegen Stephan Mayer zu, der 
am 26. Oktober erklärte, dass mit dem sehr würdigen 
Begehen dieses Jahrestages deutlich wird, das es tradi- 
tionell eine enge Freundschaft zwischen der Türkei und 
Deutschland gibt. Zum 50. Jahrestag sollten wir uns 
deshalb vor allem vornehmen, noch stärker daraufhin- 
zuwirken, Missverständnisse und Vorurteile abzubauen. 
Die Fraktion Die Linke strebt mit ihrem Antrag jedoch 
genau das Gegenteil an, und das konnte und kann unsere 
Zustimmung gestern, heute und morgen nicht finden. 

Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): 

50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Wer 
hätte vor 50 Jahren gedacht, dass dies einmal ein Datum 
sein wird, das wir bewusst in Deutschland begehen und 
feiern werden? 


Es ist aber auch ein Datum, das uns Anlass geben (C) 
sollte, zurückzuschauen und uns bei den mutigen Frauen 
und Männern, die vor 50 Jahren ihr Zuhause und ihre 
Familien verlassen haben, zu danken. Sie sind als Gast- 
arbeiter nach Deutschland gekommen, sie sind ein Wag- 
nis in einem ihnen unbekannten Land eingegangen. Was 
an fangs als temporärer Aufenthalt gedacht war, ist heute 
als eine erfreuliche Erfolgsgeschichte zu betrachten. 
Heute leben mehr als 2,5 Millionen Menschen mit türki- 
schen Wurzeln in unserem Land. Ich hoffe, dass 
Deutschland für sie zur Heimat geworden ist. „ Türkiyeli 
kökenli vatandaslarima merhaba. Iyiki buradasiniz. “ 
„Meine türkischsprachigen Mitbürger, herzlich will- 
kommen! Gut, dass ihr da seid. “ Aber es ist nicht nur so, 
dass viele türkische Einwanderer bei uns heimisch ge- 
worden sind und hier in zweiter oder dritter Generation 
leben. Sie haben auch unsere Kultur und Sichtw’eise be- 
reichert, und sie haben beide Gesellschaften mit moder- 
nisiert. Es ist an der Zeit, das einmal zu würdigen. 

Auch wenn die letzten Tage, um den 50. Jahrestag des 
Anwerbeabkommens herum glückerweise eine andere 
Sprache sprechen, so haben wir doch im politischen All- 
tag der ersten Gastarbeitergeneration zu wenig Auf- 
merksamkeit geschenkt und ihr als Politik und Gesell- 
schaft zu wenig Anerkennung, Respekt und Dank für ihre 
Lebensleistung gezollt. Denn die Angehörigen dieser 
Generation haben einen großen Beitrag zum deutschen 
Wirtschaftswunder geleistet und damit dazu beigetra- 
gen, dass unser aller Lebensstandard kontinuierlich 
steigen konnte, sie haben - und so ehrlich müssen wir 
sein - auch Aufgaben und Arbeiten übernommen, die 
kein anderer von uns machen wollte. Sie haben damit (D) 
unser Land mit zu dem gemacht, was es ist: ein leis- 
tungsfähiges Wirtschaftsland und eine erfolgreiche Ein- 
wanderungsgesellschaft. 

Hinter 50 Jahren Gastarbeiterabkommen verbergen 
sich Geschichten des Ankommens, des Hierbleibens, des 
Abschiednehmens und neue sogenannte hybride Identitä- 
ten. Dazu gehört leider aber auch die Geschichte von 
politischen Versäumnissen und einer verspäteten Inte- 
grationspolitik in Deutschland. Schon 1979, also 
18 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, 
hat der erste Ausländerbeauftragte Heinz Kühn, SPD, in 
seinem berühmten Memorandum festgehalten: Deutsch- 
land ist ein Einwanderungsland und muss den Gastarbei- 
tern eine dauerhafte Integration ermöglichen. 

Knackpunkt, wenn wir über Integration sprechen, ist 
für mich aber insbesondere die Frage der Zugehörigkeit 
und der Identität. Beides, ein Gefühl von Zugehörigkeit 
und gemeinsamer Identität, kann jedoch nur entstehen, 
wenn auch die Aufnahmegesellschaft den „Neuen“ - in 
unserem Fall überhaupt nicht mehr Neuen - offen, auf- 
geschlossen und respektvoll gegenübersteht. Das ver- 
misse ich selbst 50 Jahre nachdem sie hierher nach 
Deutschland gekommen sind. Das sind doch die Aspekte 
einer Willkommenskultur, die Integration erst möglich 
machen, einer Kultur, die in Deutschland leider immer 
noch nicht gut ausgeprägt ist. 

Interessanterweise ist das, worüber wir hier in der 
Politik und in den Medien oft abstrakt und problemati- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



16652 


Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Daniela Kolbe (Leipzig) 

( A) sierend reden und debattieren, für die jungen Menschen 
der 3. und 4. Generation kein Thema mehr. Integration - 
fiir sie ist sie selbstverständlich. 

Warum ist das so? Ganz einfach: Sie sind hier gebo- 
ren, aufgewachsen, sie gehen hier zur Schule, machen 
ihre Ausbildung und sie arbeiten. Kurzum: Fiir sie ist 
Deutschland ebenso ihr Zuhause, wie vielleicht die Tür- 
kei, das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie sind beides. Sie 
sind deutsch und türkisch. In eine Schublade lassen sie 
sich nicht drängen. Darum ist es für sie auch unver- 
ständlich, dass sie sich entscheiden sollen, wie sie sich 
fühlen. Was macht es für einen Sinn, diese jungen Leute 
zu zwingen, sich zu entscheiden und eine der beiden 
Schubladen abzuschließen? Das macht keinen Sinn. Das 
Festhalten an der Optionspflicht, bei der junge Men- 
schen zu einer Entscheidung gezwungen werden, die sie 
gar nicht treffen sollten, zeigt, wie weit wir von einer an- 
erkennenden respektvollen Willkommenskultur entfernt 
sind. 

Wir diskutieren heute zum zweiten Med über 50 Jahre 
Gastarbeiterabkommen mit der Türkei. Nach einer ver- 
einbarten Debatte in der letzten Sitzungswoche sind 
heute Anträge der Grünen und der Linken der Anlass. 
Vielen Dank, dass sie uns einen zweiten Anlass zur De- 
batte geben, denn auch 50 Jahre nach der Unterzeich- 
nung des Abkommens gibt es noch genug offene Themen, 
über die es zu diskutieren lohnt. Die Grünen thematisie- 
ren in ihrem Antrag die Visapraxis gegenüber türkischen 
Staatsangehörigen. Und in der Tat, laut Assoziationsab- 
kommen zwischen der Türkei und der EU müssten zahl- 

(B) reiche türkische Reisende ohne Visum, zum Beispiel für 
Kurzaufenthalte, nach Deutschland einreisen können. 
Die aktuelle Praxis sieht jedoch wie so oft ganz anders 
aus. 

An die Adresse der schwarz-gelben Bundesregierung 
sage ich: Wir brauchen hier endlich eine Debatte und 
eine Anpassung des deutschen Rechts an die Lebens- 
wirklichkeit und vor edlem an EU-Vorgaben. Deshalb 
stimmen wir als SPD dem Grünen-Antrag auch zu. 

Anders verhält es sich jedoch bei dem Antrag der Lin- 
ken. Zwar spricht auch dieser in der Tat viele Punkte an, 
über die es sich lohnt zu diskutieren: den Spracherwerb 
vor Ehegattennachzug etwa oder die absurde Verlänge- 
rung der Ehebestandszeit durch Schwarz-Gelb. An an- 
deren Stellen geht uns ihr Antrag jedoch zu weit, liebe 
Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Sie fordern 
ein Wahlrecht auf edlen Ebenen. Ich gehe einmal davon 
aus, Sie meinen Bund, Land und Kommune. Das schießt 
für uns als SPD-Fraktion übers Ziel hinaus. Wir fordern 
schon seit langem endlich ein Wahlrecht für Drittstaats- 
angehörige auf kommunaler Ebene. Dafür sollten wir 
gemeinsam streiten; aber wir sollten den ersten Schritt 
vor dem zweiten machen und nicht umgekehrt. 

Zudem, liebe Linke, wollen sie die Gebühren fiir die 
Erteilung von Aufenthaltstiteln auf den Stand von 1980 
senken. Bei allem Respekt: Als SPD sind wir zwar eben- 
falls der Ansicht, dass die Gebühren sozial gestaltet und 
bezahlbar sein müssen. Diese Ihre Forderung schießt 
aber auch hier weit übers Ziel hinaus. Denn immerhin 


gab es seit 1980 auch so etwas wie Inflation. Diesem An- (C) 
trag werden wir daher jedenfalls so nicht zustimmen. 

Lassen Sie uns über den Antrag und das gesamte 
Thema aber gern weiter im Innenausschuss reden und 
danach auch wieder hier im Plenum; denn auch 50 Jahre 
nach dem Anwerbeabkommen haben wir genug mitei- 
nanderzu besprechen, um ein respektvolles Miteinander, 
eine echte Willkommenskultur in diesem Land und eine 
gelungene Integration zu organisieren. Da wurde in den 
letzten Jahren schon sehr viel erreicht. Es liegt aber noch 
ein gewaltiger Weg vor uns. 

Serkan Toren (FDP): 

Die Deutsche Bundesregierung hat zu Recht in der 
vergangenen parlamentarischen Sitzungswoche das 50- 
jährige deutsch-türkische Anwerbeabkommen unter an- 
derem mit einer Plenardebatte in diesem Hohen Hause 
gewürdigt. 

Die türkischen Migranten der ersten Stunde haben 
unser Land mit aufgebaut und unseren Wohlstand mit 
begründet. Diese Menschen haben Offenheit bewiesen; 
sie hatten Durchhaltevermögen, sie hatten Leidenschaft, 
und sie hatten Mut. 

Wir sind dankbar, dass Sie gekommen sind, sich mit 
Ihrem Fleiß und Ihrer Kra ft für unser Land eingesetzt 
haben und Deutschland nicht nur wirtschaftlich, son- 
dern auch kulturell bereichert haben. 

Die Linke nimmt dieses besondere Jubiläum nun zum 
Anlass, einen Antrag einzubringen, der abenteuerliche 
Darstellungen der zuwanderungspolitischen Realitäten 
und absurde Forderungen enthält. So steigt die Linke 
gleich zu Beginn mit linker Kampfrhetorik ein und unter- 
stellt der Bundesregierung eine Zuwanderungspolitik 
nach „ Nützlichkeitskriterien“. Einwanderer seien dem- 
nach nur Instrumente zur „Profitmaximierung". Die 
Linke hingegen würde gerne jeden zu jeder Zeit in unser 
Land lassen, und zwar bitte ohne lästige Voraussetzun- 
gen. Ich sage Ihnen: Das ist eine zutiefst unsoziale Hal- 
tung! 

Zunächst einmal ist doch völlig klar: Der Staat hat 
das Recht, Zuwanderung mit den ihm hierfür zur Verfü- 
gung stehenden Mitteln zu regulieren und zu kontrollie- 
ren. Und der Staat muss dieses Recht auch wahrnehmen. 

Denn ansonsten würde unser Sozialstaatsprinzip nicht 
mehr funktionieren. Unser Solidaritätsprinzip ist darauf 
angewiesen, dass Rechte und Pflichten die Grundlage 
des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellen. 

Dazu gehören auch Steuer- und Sozialabgaben. Offene 
Grenzen und der völlige Verzicht auf Voraussetzungen 
für eine Einreise oder einen dauerhaften Aufenthalt wür- 
den unserem Solidaritätsprinzip zuwiderlaufen. 

Ich sage an dieser Stelle übrigens auch ganz deutlich: 

Hier geht es nicht um den Aspekt der humanitären Zu- 
wanderungspolitik. 

Die eingeschränkte Sicht der Linken zeigt sich auch 
an der Kritik an dem Sprachnachweis beim Ehegatten- 
nachzug. Auch diese Anforderung wird gleich als Nütz- 
lichkeitskriterium abgetan. Ich sage: Das ist sogar rieh- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Serkan Toren 

(A) tig. Ich halte diese Anforderung tatsächlich für nützlich, 
und zwar für die betro ffene Person selbst. Denn die Fä- 
higkeit, sich zumindest einfach verständigen zu können, 
ist eine große Hilfe in einem fremden Land. Es macht 
selbstbewusster und erleichtert die Integration. An die- 
ser Stelle möchte ich noch mal betonen: Bei dem 
Sprachnachweis handelt es sich um die allererste Stufe, 
nämlich Al. Es geht hier um sehr einfache Verständi- 
gung. Das ist keine unüberwindbare Hürde, wenn man 
sich entscheidet, in einem anderen Land dauerhaft leben 
zu wollen. 

Gleichwohl sieht auch die FDP-Bundestagsfraktion 
hier Handlungsbedarf. Dabei denke ich insbesondere an 
die Infrastrukturen im Herkunftsland. Wenn wir einen 
solchen Nachweis verlangen, muss auch sichergestellt 
sein, dass die Betroffenen vor Ort diesen auch ohne un- 
überwindbare Hürden erlangen können. In vielen Län- 
dern der Welt gibt es derzeit nur vereinzelt oder in eini- 
gen sogar gar keine Goethe-Institute. Der Erwerb des 
Zertifikats ist entsprechend mit einem erheblichen Zeit- 
und Geldau fwand verbunden. Die praktische Umsetzung 
und Handhabung des Gesetzes stellt daher oftmals eine 
hohe Hürde dar. Das darf nicht sein. 

Ich will mich an dieser Stelle aber nicht der aktuellen 
Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Sprachnacli- 
weiserfordernisses beim Ehegattennachzug mit Blick auf 
das Assoziierungsabkommen zwischen Deutschland und 
der Türkei entziehen. Hier gibt es starke rechtliche Be- 
denken, die es ganz klar weiter zu prüfen gilt. 

(B) rcA halte den Sprachnachweis für nachziehende Ehe- 
gatten insgesamt für eine integrationspolitisch sehr 
sinnvolle Maßnahme. Nachvollziehbar ist in diesem 
Kontext allerdings nicht, weshalb Staatsangehörige an- 
derer Länder wie Kanada, Japan oder der Republik Ko- 
rea grundsätzlich von diesen Anforderungen ausgenom- 
men sind. Das ist eine Ungleichbehandlung, die es aus 
liberaler Sicht dringend zu diskutieren gilt. 

Die Linken sprechen in ihrem Antrag auch die Vi- 
sumspolitik an. Dabei ignorieren sie die bereits beste- 
henden Bemühungen, insbesondere auf EU-Ebene. Im 
Februar wurde erfreulicherweise das Rücknahmeab- 
kommen zwischen der EU und der Türkei unterzeichnet. 
Das war ein wichtiger Schritt. Die Türkei ist nun aufge- 
fordert, das Abkommen auch umzusetzen. Gleichzeitig 
muss dies die unverzügliche Aufnahme eines ernsthaften 
Visumsdialogs mit der Türkei bedeuten. 

Die Türkei ist schon längst nicht mehr nur ein Touris- 
tenziel oder ein Absatzmarkt. Diese Entwicklung hat die 
Linke offensichtlich nicht mitbekommen. Die Türkei ist 
zu einem wichtigen Partner der EU und Deutschlands 
geworden. Das gilt geostrategisch, aber vor allem kultu- 
rell und wirtschaftlich. Das sage ich, 50 Jahre nach Un- 
terzeichnung des Anwerbeabkommens, auch mit Blick 
auf künftige Fachkräftezuwanderung. Denn Deutsch- 
land braucht qualifizierte Zuwanderer. Das ist keine 
Frage von Hautfarbe oder Religion. Gerade in der Tür- 
kei gibt es ein zunehmendes Fachkräftepotenzial. Unter 
den Ländern, die derzeit eine Mitgliedschaft in der EU 
anstreben, ist die Türkei das einzige Land, das über eine 


zahlenmäßig bedeutende junge und wachsende Bevölke- (C) 
rung verfügt. 

Das Bildungsniveau steigt stetig an. Viele gutausge- 
bildete junge Menschen haben Beziehungen zu Deutsch- 
land, sind vielleicht sogar mit der Sprache vertraut. 

Diese Feststellungen haben rein gar nichts mit den 
propagierten Nützlichkeitskriterien der Linken zu tun. 

Es geht hier nicht um ein Nullsummenspiel. Es geht um 
einen gleichberechtigten Austausch mit der Türkei. Das 
halte ich politisch, wirtschaftlich und kulturell für groß- 
artig und gewinnbringend für edle Beteiligten. 

Die Linke offenbart in ihrem Antrag nicht nur ein re- 
alitätsfernes Bild der aktuellen Integrations- und Zu- 
wanderungspolitik. Sie offenbart auch ihr Verständnis 
von Einwanderern im Jahr 2011. Sie traut Menschen, 
die Mut und Engagement aufbringen, ihr Herkunftsland 
zu verlassen und in einem neuen Land Fuß zu fassen, 
nichts zu. Dass diese Menschen nicht nach Deutschland 
kamen und kommen, um Almosen zu erhalten, sondern 
um Geld zu verdienen, ihr Glück in die eigenen Hände 
zu nehmen, Familien zu gründen, Sprache und Kultur 
kennenzulernen oder sich ehrenamtlich zu engagieren, 
kommt der Linken nicht in den Sinn. Rudimentäre 
Sprachkenntnisse zu fordern, ist für die Linke Schikane. 

Ob jemand seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten 
kann oder von Transferleistungen lebt, ist ihr egal. Wie 
viele Menschen nach Deutschland kommen und ob sie 
am Gemeinwesen teilhaben wollen und so das Sozial- 
staatsprinzip stützen, interessiert die Linke nicht. Das ist 
die wahre menschenverachtende und unsoziale Haltung, (D) 
die nichts mit moderner Zuwanderungs- oder Integra- 
tionspolitik zu tun hat. 

Deshalb fällt es mir nicht schwer, diesen Antrag ab- 
zulehnen. 

Sevim Dagdelen (DIE LINKE): 

Es ist gerade einmal eine Woche her, dass des 50-jäh- 
rigen Bestehens des deutsch-türkischen Anwerbeabkom- 
mens gedacht wurde. Auch Bundeskanzlerin Merkel und 
der türkische Ministerpräsident Erdogan nahmen an der 
offiziellen Festveranstaltung teil. 

Zu Recht wurden dabei die Leistungen der aus der 
Türkei nach Deutschland gekommenen Migrantinnen 
und Migranten hervorgehoben und den Betroffenen da- 
für gedankt - und das tut auch der Ihnen vorliegende 
Antrag der Fraktion Die Linke. Um allerdings eines vor- 
weg klarzumachen: Es geht uns dabei überhaupt nicht 
exklusiv oder besonders um die Lebensleistungen der 
Menschen speziell aus der Türkei. Nein, unser Dank und 
unsere Anerkennung gelten selbstverständlich gleicher- 
maßen allen nach Deutschland eingewanderten Men- 
schen aus allen Ländern dieser Welt! 

Die Linke hält aber nichts davon, sich alle 50 Jahre 
anlässlich eines Festaktes bei den Menschen zu bedan- 
ken, aber sonst eine migrantenfeindliche Politik zu ma- 
chen, wie es die jetzige, aber auch die vorigen Bundes- 
regierungen fast immer getan haben. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Sevim Dagdelen 

(A) Nun gibt es mindestens drei Gründe, auf die Lage der 
türkischen Migrantinnen und Migranten näher einzuge- 
hen als mit einem losen Danke, das nichts kostet: Zum 
einen die schiere Zahl: Es handelt sich bei ihnen um die 
größte Einzelgruppe der hier lebenden Menschen nicht- 
deutscher Staatsangehörigkeit. 


Der dritte Grund, warum auf den staatlichen Um- 
gang mit türkischen Staatsangehörigen gesondert einge- 
gangen werden sollte und der auch Gegenstand des vor- 
liegenden Antrags ist, ist deren Sonderstellung im 
Aufenthaltsrecht. Viele Menschen, auch viele Betroffene, 
wissen es nicht, aber das seit 1963 geltende Assoziie- 
rungs-Abkommen der EU, damals noch EWG genannt, 
mit der Türkei und nachfolgende Protokolle und Be- 
schlüsse verschaffen türkischen Staatsangehörigen be- 
sondere Rechte. Diese einmal von der EU eingegange- 
nen Verpflichtungen können auch nicht mehr im 
Nachhinein von den Nationalstaaten wieder zuriickge- 
(ß) nommen werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof 
durch zahlreiche Urteile geklärt, aber immer wieder 
muss er unwillige Staaten der EU an ihre vertraglichen 
Verpflichtungen erinnern. Dieser zunehmende Rechtsni- 
hilismus ist skandalös. 


eine Frage derZeit ist, bis der EuGH zahlreiche europa- 
rechtswidrige Bestimmungen des deutschen Aufenthalts- 
rechts kassieren wird. Die Bundesregierung spielt schä- 
bigen\’eise jedoch auf Zeit und besteht darauf, dass der 
EuGH zu jeder einzelnen Frage stets erneut eine Ent- 
scheidung treffen soll, auch wenn deren Ergebnis ange- 
sichts der vorliegenden Rechtsprechung längst klar ist. 

Um nur kurz anzudeuten, worum es inhaltlich und 
konkret geht: Der EuGH wird bald entscheiden, dass 
türkischen Staatsangehörigen auch im Rahmen der so- 
genannten passiven Dienstleistungsfreiheit eine visum- 
freie Einreise nach Deutschland erlaubt werden muss. 
Aus offiziellen Informationen der Bundesregierung an 
den Bundestag geht hervor, dass auch der Juristische 
Dienst der Europäischen Union davon ausgeht, dass 
eine solche Entscheidung des EuGH zu 95 Prozent zu er- 
warten ist. Auf Anfragen meiner Fraktion jedoch tut die 
Bundesregierung so, als sei es geradezu absurd, so et- 
was auch nur zu denken. 

In nicht allzu ferner Zeit wird auch die Regelung der 
Sprachanf orderungen beim Ehegattennachzug auf türki- 
sche Staatsangehörige nicht mehr anwendbar sein. In 
den Niederlanden wurde erst vor kurzem letztinstanzlich 
entschieden, dass neue Sprach- und Integrationsanfor- 
derungen gegen das Verschlechterungsverbot des Asso- 
ziationsrechts verstoßen. Infolgedessen wird von türki- 
schen Staatsangehörigen zum Beispiel kein Sprachtest 
vor der Einreise beim Familiennachzug mehr verlangt. 
Die vom niederländischen Rechtspopulisten Geert 
Wilders abhängige niederländische Regierung setzt 
diese Rechtsprechung konsequent um - die Bundesregie- 
rung hingegen ist nicht einmal dazu imstande, ihre An- 
wendungshinweise zum Assoziationsrecht aus dem Jahr 
2002 zu aktualisieren, obwohl diese angesichts der sich 
fortentwickelnden Rechtsprechung des EuGH nicht nur 
veraltet sind, sondern geradezu als Anleitung zum 
Rechtsbruch bezeichnet werden müssen. 

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundes- 
tages hat in einer Ihnen sicherlich bekannten Ausarbei- 
tung eine gute Zusammenfassung und Rechtsübersicht 
dazu erstellt, welche Regelungen im deutschen Aufent- 
haltsrecht mit den Verschlechterungsverboten des Asso- 
ziationsrechts unvereinbar sind. Die konkreten Forde- 
rungen in unserem Antrag beziehen sich zunächst nur 
auf solche Regelungen, die auch nach Ansicht des Wis- 
senschaftlichen Dienstes als Verstoß gegen EU-Recht 
angesehen werden müssen. Es ist aber klar, dass ein sys- 
tematischer Günstigkeitsvergleich der Rechtsentwick- 
lung seit den 70er-Jahren weiteren Anderungsbedarf 
hervorbringen wird - deshalb weigert sich die Bundes- 
regierung ja auch so hartnäckig, diesen Vergleich vorzu- 
nehmen. 

Wir werben deshalb bei den anderen Fraktionen des 
Bundestages dafür, einer Sachverständigenanhörung 
zur zweiten Forderung unseres Antrags zuzustimmen. 
Gerade weil es sich beim Assoziationsrecht um eine 
komplexe und weitgehend unbekannte Rechtsmaterie 
handelt, sollten wir uns durch unabhängige Sachver- 
ständige und nicht durch weisungsgebundene Vertreter 


Das sogenannte Verschlechterungsverbot im Assozia- 
tionsrecht sieht verbindlich vor, dass es keine Ver- 
schlechterungen im Aufenthalts- und Beschäftigungs- 
recht, bei der Niederlassungs- und Dienstleistungs- 
freiheit gegenüber türkischen Staatsangehörigen geben 
darf. Das gilt auch für zwischenzeitliche Erleichterun- 
gen, das gilt in Bezug auf Regelungen des Familien- 
nachzugs und selbst in Bezug auf Regelungen zur erst- 
maligen Einreise. All dies hat die Bundesregierung 
infolge zahlreicher parlamentarischer Anfragen der 
Linken zu diesem Thema im Grundsatz bereits einräu- 
men müssen - nur um stets erneut rechtliche Ausflüchte 
aus dem paragrafenschweren Zylinderhut des Bundes- 
innenministeriums zu zaubern, um diese Vorgaben des 
Europäischen Gerichtshofs nicht umzusetzen. 

Auf diesen Skandal möchte die Linke mit dem vorlie- 
genden Antrag aufmerksam machen: Die Bundesregie- 
rung weigert sich unseres Erachtens bewusst, verbindli- 
ches Assoziationsrecht und Entscheidungen des EuGH 
wirksam umzusetzen und verehrt somit türkischen 
Staatsangehörigen gezielt ihre Rechte. Sie können die 
hilflosen und wenig überzeugenden Antworten der Bun- 
desregierung auf die Anfragen der Linken zu diesem 
Thema nachlesen: Wer einigermaßen mit der Rechtspre- 
chung und Fachliteratur befasst ist, weiß, dass es nur 


Zum Zweiten verdienen sie besondere Aufmerksam- 
keit, weil sie besonderen Anfeindungen ausgesetzt ist: 
Nicht erst seit Sarrazin werden insbesondere türkische 
- aber zum Beispiel auch arabische - Migrantinnen und 
Migranten als Chiffre für vermeintlich integrationsun- 
willige, den Staatshaushalt belastende oder gar bedroh- 
liche Menschen angesehen. Die ausgeprägte und zuneh- 
mende Feindlichkeit gegenüber Muslimen in diesem 
Land spielt dabei eine unheilvolle Rolle, aber auch de- 
ren sozial besonders ausgegrenzte Lage, die ihnen als 
persönliches Versagen oder gar Unwilligkeit zur Last 
gelegt wird. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16655 


Sevim Dagdelen 

(A) der Exekutive beraten lassen, welche Rechtsänderungen 
im Detail erforderlich sind. 

Nach Ansicht der Linken - und hier komme ich zum 
Anfang zurück - sollten sich die notwendigen umfang- 
reichen Erleichterungen im Aufenthaltsrecht auch nicht 
auf türkische Staatsangehörige beschränken, sondern 
alle Drittstaatsangehörigen einbeziehen. Es wäre ab- 
surd, die Zersplitterung des Aufenthaltsrechts weiter vo- 
ranzutreiben: Für Unionsangehörige gilt das deutsche 
Aufenthaltsgesetz ohnehin nicht, für bestimmte privile- 
gierte Staaten gelten Sonderregelungen, und was für tür- 
kische Staatsangehörige gilt, steht schon längst nicht 
mehr im Gesetz. 

Gerade weil es sich bei den türkischen Staatsangehö- 
rigen um die größte Gruppe handelt, und gerade weil 
zahlreiche Verschärfungen insbesondere mit Blick auf 
sie erlassen wurden, plädieren wir dafür, diese Ver- 
schärfungen insgesamt zurückzunehmen. Das aufge- 
baute Droh- und Zwangsinstrumentarium im Umgang 
mit Migrantinnen und Migranten ist ohnehin falsch und 
von fataler Wirkung, wie die zunehmende Fremden- und 
Islamfeindlichkeit, Vorurteile und Zerrbilder belegen. 
Wir appellieren an die Bundesregierung, aber auch an 
das Parlament, diese Änderungen, die in Bezug auf tür- 
kische Staatsangehörige rechtlich ohnehin zwingend 
sind, nicht erst auf Druck des EuGH, sondern bewusst 
und mit Überzeugung vorzunehmen. Sie sollten inner- 
halb der deutschen Bevölkerung um Verständnis für eine 
solche, auf Zwang und Drohungen weitgehend verzich- 
tende Migrationspolitik werben, statt gefährliche, nicht 

(■ß) nur türken- , sondern auch EU-feindliche Ressentiments 
zu fördern, wenn solche Änderungen zwangsweise in- 
folge von Entscheidungen eines vermeintlich fernen EU- 
Gerichts erfolgen. Mit unserem Antrag haben Sie die 
Chance dazu, dieses Thema nicht Rechtspopulisten zu 
überlassen. 

Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Es reicht nicht, sich, wie die Bundesregierung es tut, 
in der Jubiläumswoche des deutsch-türkischen Anwer- 
beabkommens bei den Einwanderinnen und Einwande- 
rern für ihre Leistungen zu bedanken, wenn man nicht 
gleichzeitig etwas unternimmt, damit sie endlich gleich- 
berechtigt in Deutschland teilhaben können. Danke sa- 
gen ist einfach; aber daraus Konsequenzen zu ziehen 
und türkeistämmigen Einwanderern ihre Rechte aus dem 
Assoziationsabkommen einzuräumen, fällt der Bundes- 
regierung offensichtlich schwer. Bewusst behandelt sie 
Eingewanderte als Menschen zweiter Klasse und ver- 
sagt ihnen trotz langjährigen Aufenthalts die gleichen 
Rechte, wie sie deutsche Staatsangehörige haben. Ur- 
teile des Europäischen Gerichtshofes zugunsten der Ein- 
wanderinnen und Einwanderer ignoriert sie so lange, 
bis die Kommission mit Vertragsverletzungsverfahren 
droht. 

Nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei ist es 
Zeit, unser Aufenthaltsgesetz auf die Vereinbarkeit mit 
dem Assoziierungsrecht zu überprüfen und notwendige 
Änderungen vorzunehmen. Das gilt erst recht nach den 
kürzlich ergangenen wegweisenden Entscheidungen des 


Europäischen Gerichtshofes zu den Rechten von tiirki- (C) 
sehen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen 
aus dem Assoziierungsabkommen. 

Wir fordern in einem ersten Schritt die visumfreie 
Einreise türkischer Staatsangehöriger nach Deutsch- 
land. 

Wir wollen nicht, dass Großeltern die Hochzeit ihrer 
Enkel in Deutschland verpassen, weil sie kein Visum er- 
halten, oder dass eine Mutter nicht ihr krankes Kind hier 
besuchen darf. Wir wollen vermeiden, dass die wirt- 
schaftlichen Beziehungen zwischen türkischen und deut- 
schen Unternehmen darunter leiden, dass Geschäfts- 
leute zu bürokratische und langwierige Verfahren 
durchlaufen müssen, um endlich ein Visum zu erhalten. 

Wir wollen auch nicht, dass türkische Jugendliche von 
Studienreisen abgehalten werden, weil ihnen kein Visum 
erteilt wird. 

So sieht die Realität heute aber aus. Es kommt nicht 
selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwie- 
rigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft 
ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen. 

Nach geltender Praxis können nur bestimmte türki- 
sche Personengruppen und auch nur zur Erbringung be- 
stimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland 
einreisen. Menschen mit geringem Einkommen und sol- 
che ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine 
Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen 
und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen. 

Wie der EuGH in seiner Soysal-Entscheidung im Fe- 
bruar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen (ß) 
das Gemeinschaftsrecht. Mit unserem Antrag fordern 
wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH 
richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf 
EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehö- 
rige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird. 

Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit das unnötige 
Leid, das die restriktive und Visavergabepraxis verur- 
sacht, endlich ein Ende hat! 

Es gibt aber auch noch viele andere Bereiche, in de- 
nen das deutsche Aufenthaltsrecht gegen die Maßgaben 
des Europäischen Gerichtshofs verstößt. Insbesondere 
die Entscheidung zur dynamischen Wirkung des Ver- 
schlechterungsverbots in der Sache Toprak macht eine 
kritische Prüfung der aufenthaltsrechtlichen Regelun- 
gen seit dem Inkrafttreten des Verschlechterungsverbots 
notwendig. 

Die Bundesregierung muss die europarechtswidrige 
Anwendung des Assoziationsabkommens zwischen der 
EU und der Türkei beenden und die vielen Urteile des 
Europäischen Gerichtshofs umsetzen. Hierzu gehört 
auch, die insbesondere gegen türkische Staatsangehö- 
rige erlassenen Gesetzesverschärfungen der letzten 
Jahre zurückzunehmen. 

Wir begrüßen, dass die Fraktion Die Linke den Um- 
setzungsbedarf erkennt und die Bundesregierung mit ih- 
rem Antrag auffordert, das deutsche Recht mit dem Ge- 
meinschaftsrecht in Einklang zu bringen. Allerdings hat 
die Fraktion Die Linke es sich leicht gemacht: Sie zählt 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


Memet Kilic 

(A) weder konkret den Anderungsbedarf auf noch schlägt 
sie Lösungen vor Das wollen wir besser machen und be- 
reiten daher gerade eine umfassendere Initiative zur 
Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Ge- 
richtshofs zum Assoziationsrecht vor 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 
Drucksache 17/7373 an die in der Tagesordnung aufge- 
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- 
verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist 
die Überweisung so beschlossen. 

Der Innenausschuss - das ist jetzt der Zusatzpunkt 7 - 
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- 
che 17/5989, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die 
Grünen auf Drucksache 17/3686 abzulehnen. Wer 
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die 
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die 
Grünen, SPD und Linksfraktion. Enthaltungen folglich 
keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. 

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: 

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu 
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin 
von Notz, Wolfgang Wieland, Volker Beck 
(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion 
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 

Gutachten über die geplanten EU-Fluggastda- 
tenabkommen mit den USA und Australien 
beim Gerichtshof der Europäischen Union ein- 
holen 

- Drucksachen 17/6331, 17/7676 - 

B erichterstattung : 

Abgeordnete Clemens Binninger 
Wolfgang Gunkel 
Gisela Piltz 
Jan Körte 

Dr. Konstantin von Notz 

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die 
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolle- 
ginnen und Kollegen sind dem Präsidium bekannt. 

Clemens Binninger (CDU/CSU): 

Wir diskutieren hier zum wiederholten Male über 
Grundrechts- und Datenschutzfragen bei den EU -Flug- 
gastdatenabkommen mit den USA und Australien. Das 
ist zweifelsohne wichtig. Wichtiger wäre aber vielleicht, 
dass die Grünen dazu einmal einen Antrag vorlegen, der 
dieser schwierigen Thematik angemessen ist. 

Es sei den Grünen unbenommen, sich für eine Über- 
prüfung der Abkommen durch den Europäischen Ge- 
richtshof einzusetzen. Es wäre aber auch schön gewe- 
sen, wenn die Grünen wenigstens mit einem Halbsatz 
erwähnt hätten, warum die Europäische Union PNR-Ab- 
kommen schließt, nämlich weil der Datenaustausch we- 
sentliche Erkenntnisse zur Bekämpfung des internatio- 
nalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität 
liefert. Aber im Antrag der Grünen Fehlanzeige. Und 


wie steht es mit dem Redebeitrag des Kollegen von Notz (C) 
in der ersten Beratung des Antrags? Auch hier Fehlan- 
zeige. Nicht einmal die Worte ,, Terrorismus ", „Krimina- 
lität" oder auch nur „Straftat" werden erwähnt. Man 
kann den Eindruck gewännen, die Grünen versuchten 
krampfhaft, diesem Thema aus dem Weg zu gehen. Ich 
frage mich aber: Wie sollen wir ernsthaft und angemes- 
sen über PNR-Abkommen und auch über die im vorlie- 
genden Antrag kritisierten, angeblich fehlenden Nach- 
weise der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit 
sprechen, wenn hier nicht einmal über den Zweck des 
Fluggastdatenaustausches gesprochen wird? 

Hier müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen: 

Erstens. Fluggastdaten geben Auskunft über Reise- 
routen von Tatverdächtigen und Terrorverdächtigen. 

Das sind Erkenntnisse, die von enormer Bedeutung sind 
und die in dieser Form nicht anders in Erfahrung ge- 
bracht werden können. Die Erkenntnisse aus diesen Da- 
ten tragen auch entscheidend dazu bei, Kriminelle oder 
Terroristen zu identifizieren, die bisher noch nicht ent- 
deckt wurden. 

Zweitens. Immer mehr Staaten - darunter auch viele 
unserer Partner - nutzen Fluggastdaten zur Verfolgung 
und Abwehr von Terrorismus und schweren Straftaten 
wie etwa Menschenhandel oder Drogenschmuggel. 

Auch europäische Länder profitieren von entsprechen- 
den Rückmeldungen für die Arbeit ihrer Sicherheitsbe- 
hörden. 

Drittens. EU-Staaten und unsere Partnerländer kön- 
nen auf Erfolge bei der Aufdeckung und Bekämpfung (D) 
terroristischer und krimineller Netzwerke verweisen, für 
die die Fluggastdaten von großer Bedeutung waren. 
Deshalb ist die Verwendung von Fluggastdaten unver- 
zichtbar, und deshalb sprechen wir im Bundestag über 
PNR-Abkommen und über die geplante PNR-Riclitlinie 
der EU. 

Die ausgehandelten Abkommen mit den USA und 
Australien sind auch nichts Neues. Es gab sie schon in 
der Vergangenheit. Zu einem angemessenen und ernst- 
haften Umgang mit dem Thema PNR-Abkommen gehört 
deshalb auch, dass die Grünen, die sich hier wieder als 
Hüter der Grundrechte und des Datenschutzes gerieren, 
einen Blick in die Zeit werfen, in der sie Regierungsver- 
antwortung hatten. Im Jahr 2004 wurde zwischen der 
EU und den USA ein PNR-Abkommen geschlossen, das 
mit Blick auf den Grundrechts- und Datenschutz bei wei- 
tem nicht die Standards festgeschrieben hatte, die wir in 
den vorliegenden Abkommen finden. Und es ist nicht 
schwer zu erraten, welche Bundesregierung dieses Ab- 
kommen mitgetragen hat und welche Fraktion damals 
keinen Antrag auf Überprüfung dieses Abkommens ge- 
stellt hat. Die Grünen waren seinerzeit mit dabei. Jetzt 
kritisieren dieselben Grünen die Fluggastdatenabkom- 
men mit den USA und Australien, die auch auf Initiative 
des Bundesinnenministeriums deutliche Verbesserungen 
erfahren haben. So sieht grüne Glaubwürdigkeit aus. 

Es war wichtig, das PNR-Abkommen 2004 mit den 
Vereinigten Staaten zu schließen, weil wir damit eine ge- 
meinsame europäisch-amerikanische Vereinbarung über 



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Clemens Binninger 

(A) den Umgang und die Nutzung von Fluggastdaten festge- 
schrieben haben. Nach den Terroranschlägen von 9/11 
stellte sich die Situation anders dar als heute. Die USA 
hatte alle Fluggesellschaften, die Flüge in die oder aus 
den USA oder über das Gebiet der USA durchführen, 
verpflichtet, den amerikanischen Zollbehörden elektro- 
nischen Zugriff auf die Daten ihrer Reservierungs- und 
Abfertigungssysteme, die sogenannten Passenger Name 
Records, einzuräumen. Nachdem die EU um einen Auf- 
schub gebeten hatte, traten die Vorschriften schließlich 
2003 in Kraft. Danach räumten europäische Fluggesell- 
schaften den amerikanischen Zollbehörden Zugang zu 
ihren Fluggastdatensätzen nach einseitig festgesetzten 
Regeln ein. 

Das zeigt: Wenn wir ein besseres Abkommen mit bes- 
serem Datenschutz wollen, dann erreichen wir dies nur 
zusammen mit unseren Partnern. Wenn wir angemessen 
über PNR-Abkommen diskutieren wollen, gehört also 
dazu, dass es sich um Verträge handelt, an denen immer 
mindestens zwei Seiten beteiligt sind. Hier kann nicht 
eine Seite der anderen den Inhalt vorschreiben. Das gilt 
im Übrigen auch für die einzelnen EU-Länder, die unter- 
schiedliche Maßstäbe an die Nutzung von Fluggastdaten 
stellen. Auch hier muss eine interne Linie gefunden wer- 
den, die sich nicht nur nach den deutschen Vorstellungen 
richtet. 

Deshcdb hat die Europäische Kommission sowohl mit 
den USA als auch mit Australien im Rahmen der Ver- 
handlungsmandate, die das Europäische Parlament vor- 

(B) gegeben hat, aber auch mit Blick auf die Bedenken des 
Parlaments über die Nutzung der Fluggastdaten verhan- 
delt. Die jetzt vorliegenden Einigungen mit beiden Län- 
dern spiegeln eine kontinuierliche Verbesserung auch 
der Datenschutzbestimmungen wider. Es geht darum, 
zusammen mit unseren Partnern eine Balance zu finden, 
die dazu beiträgt, Terrorismus und Kriminalität besser 
bekämpfen zu können und gleichzeitig die Rechte des 
Einzelnen zu sichern, auch wenn es hier aus deutscher 
Sicht sicher noch einige offene Wünsche gibt. 

Das Abkommen mit Australien ist praktisch unter 
Dach und Fach. Es wurde im Oktober vom JI-Rat be- 
schlossen. Auch das Europäische Parlament hat Ende 
Oktober in einer legislativen Entschließung dem PNR- 
Abkommen mit Australien bereits zugestimmt. Im De- 
zember wird der Rat abschließend seine Zustimmung ge- 
ben. Insofern hat sich der Antrag der Grünen auf Über- 
prüfung erledigt. Das Abkommen mit Australien ist aus 
unserer Sicht gut ausgestaltet, auch in Datenschutzfra- 
gen. Dies hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte 
anerkannt. Mit den USA wurden seit dem Sommer im 
Vergleich zum Verhandlungsstand, der dem Antrag der 
Grünen zugrunde liegt, weitere Fortschritte erzielt, die 
noch in Schriftform gegossen werden. Erst dann wird 
man den neuen Entwurf für das PNR-Abkommen genau 
bewerten können. 

Die beiden Abkommen unterscheiden sich in vielen 
Punkten. Ich möchte dennoch drei zentrale Aspekte her- 
vorheben: 


Erstens, ln beiden Abkommen werden wir klarer und (C) 
enger gefasste Definitionen des Anwendungsbereichs 
als bisher haben. Daran gebunden sind die Speicherfris- 
ten. Das Abkommen mit Australien sieht fünfeinhalb 
Jahre vor. Die jüngsten Verhandlungen mit den USA se- 
hen jetzt eine Staffelung der Speicherfristen vor. Bei ter- 
roristischen Straftaten dürfen die Daten für fünfzehn 
Jahre und bei schweren Straftaten für zehn Jahre gespei- 
chert werden. Ich hätte mir gerade mit Blick auf die USA 
auch kürzere Speicherfristen vorstellen können. 
Ehrlicherweise ist aber festzuhalten, dass die Daten 
nicht gespeichert werden, weil der Staat es will. Diese 
Daten sind alle schon heute bei den Fluggesellschaften 
vorhanden und werden dort auch heute schon mehrere 
Jahre gespeichert. Es geht also in erster Linie um die 
Frage, unter welchen Voraussetzungen den Sicherheits- 
behörden diese Daten zur Verfügung stehen, um An- 
schläge zu verhindern, schwere Straftaten aufzuklären 
oder Verdächtige zu identifizieren. Wem die Sicherheit 
der Bürger etwas wert ist, der kann eine Speicherung 
nicht grundsätzlich ablehnen. 

Zweitens. Beide Abkommen sehen eine Depersona- 
lisierung der gespeicherten Daten vor. Das heißt, nach 
einem bestimmten Zeitraum - für die USA ist dies nach 
sechs Monaten vorgesehen - werden aus den Datensät- 
zen der Fluggäste Daten gesperrt, die eine Identi- 
fizierung der Person zulassen. Es handelt sich dabei um 
Daten wie Namen und Adressen. Das ist ein ganz ähnli- 
ches Verfahren, wie wir es in Deutschland mit der Ano- 
nymisierung kennen. Die vollen Datensätze werden 
dann nur noch unter strengen Auflagen einem sehr klei- (D) 
neu Personenkreis in den zuständigen Behörden zugäng- 
lich sein. 

Drittens. Neben unterschiedlichen Datenschutzregeln 
möchte ich vor allem darauf hinweisen, dass beide Ab- 
kommen die Datenübermittlung in einem Push-Ver- 
fahren vorsehen. Die Behörden in den USA wie in Aus- 
tralien werden also im Regelfall keinen direkten Zugriff 
auf die Fluggastdaten haben, sondern die Airlines wer- 
den diese Daten auf Anforderung weitergeben. Während 
unter rot-grüner Verantwortung die Daten auf dem 
Wühltisch zur Selbstbedienung bereitlagen, gibt es jetzt 
nur noch Daten auf Anforderung und Beleg. 

Wenn man sich mit dem Thema PNR-Abkommen also 
ernsthaft und angemessen auseinandersetzen möchte, 
muss man den Blick etwas weiter fassen, als dies der An- 
trag der Grünen tut. Nur dann kommt man zu einer fun- 
dierten Einschätzung und Bewertung der Lage. Insge- 
samt gilt festzuhalten, dass auf ein Instrument wie die 
Nutzung von PNR-Daten nicht verzichtet werden kann, 
wenn wir Sicherheit im Luftverkehr wollen, wenn wir 
verhindern wollen, dass Passagiermaschinen zu Waffen 
und zu Zielen von Anschlägen werden, und wenn wir 
wollen, dass die Sicherheitsbehörden in der Lage sind, 
schwere Verbrechen aufzuklären und kriminelle Struktu- 
ren zu erkennen. Wer fordert, dass eine Warnlampe an- 
gelit, wenn ein Terrorverdächtiger ein Flugzeug bestei- 
gen will, braucht eine Speicherung und Auswertung von 
Passagierda tensä tzen . 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Wolf gang Gunkel (SPD): 

Die Abkommen über die Fluggastdaten sind nicht 
zum ersten Med Thema im Deutschen Bundestag. Nach- 
dem die Verhandlungen zwischen der Europäischen 
Union und den USA beziehungsweise Australien nun 
vorläufig abgeschlossen sind, bestehen noch immer er- 
hebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Abkommen 
mit dem EU-Primärrecht, insbesondere mit dem Schutz 
personenbezogener Daten gemäß Art. 8 der EU-Grund- 
recht echarta. 

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die 
Grünen greift diese Bedenken auf und fordert die Bun- 
desregierung auf, ein Gutachten beim Gerichtshof der 
Europäischen Union einzuholen, welcher die Vereinbar- 
keit der geplanten Abkommen mit EU-Primärrecht prü- 
fen soll. Da auch die SPD-Bundestagsfraktion diese Be- 
denken teilt und ein Gutachten des Europäischen 
Gerichtshofs mehr Rechtssicherheit für die Bürgerinnen 
und Bürger mit sich bringen würde, stimmen wir dem 
Antrag zu. 

Bereits im Juni 2011 habe ich darauf hingewiesen, 
dass mit der Weitergabe von Fluggastdaten zwar ein le- 
gitimes Ziel verfolgt wird, dabei aber grund- und men- 
schenrechtliche Garantien beachtet werden müssen. 
Dies sehe ich in den geplanten EU -Fluggastdatenab- 
kommen mit den USA und Australien noch nicht ausrei- 
chend gewährleistet. So hat auch der Juristische Dienst 
der Kommission in seiner Stellungnahme vom 18. Mai 
2011 erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Ab- 
kommens zwischen der EU und den USA mit dem 
Grundrecht auf Datenschutz geäußert. Ich möchte hier 
noch einmal betonen, dass es sich dabei um einen inter- 
nen Dienst der Kommission handelt, also des EU-Or- 
gans, das für die Aushandlung der Fluggastdatenab- 
kommen zuständig ist. Demnach gibt es auch innerhalb 
der Kommission Bedenken hinsichtlich der Grund- 
rechtskonformität dieses Abkommens. 

Die Kritik bezieht sich insbesondere auf die Verhält- 
nismäßigkeit des Abkommens. So sieht das geplante 
PNR-Abkommen mit den USA eine Dauer der Daten- 
speicherung von 15 Jahren vor Der Juristische Dienst 
des Rates hat in seinem Gutachten zum Vorschlag einer 
EU-Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdaten 
vom 12. April 2011 bereits die Notwendigkeit einer Spei- 
cherfrist von mehr als 2 Jahren infrage gestellt. Für die 
Erforderlichkeit einer 1 5-jährigen Speicherfrist fehlt zu- 
dem jeglicher Nachweis, und somit bestehen erhebliche 
Zweifel, dass der mit der Speicherung der Daten verbun- 
dene Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnis- 
mäßigkeit entspricht. 

Des Weiteren soll die Verwendung von Fluggastdaten 
nach dem geplanten Abkommen unter anderem zu Zwe- 
cken der Verhütung und Bekämpfung von „schweren 
Straftaten “ zulässig sein. Uber einen Verweisungs- 
dschungel gelangt man allerdings zu dem Ergebnis, dass 
es sich dabei bereits um Straftaten handelt, die mit einer 
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind. 
Damit umfasst diese Definition eine weitaus größere 
Zahl von Straftaten als beispielsweise der EU-Richt- 
linienvorschlag zur Weitergabe von Fluggastdaten oder 


auch das PNR-Abkommen mit Australien. Da somit auch (C) 
Straftaten erfasst sind, die nicht als schwerwiegend an- 
gesehen werden können, stellt sich auch in diesem Zu- 
sammenhang die Frage nach der Verhältnismäßigkeit 
des Abkommens. 

Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Möglich- 
keit grundrechtswidriger Profilerstellungen sowie auf 
eine mangelnde Kontrolle durch unabhängige Daten- 
schutzbeauftragte. Die Notwendigkeit, Fluggastdaten 
nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutz- 
maßstäben zu übermitteln, haben wir ja auch in einem 
eigenen Antrag - Bundestagsdrucksache 1 7/6293 - zum 
Ausdruck gebracht. 

Die geplanten PNR-Abkommen haben auch Auswir- 
kungen auf den Grundrechtsschutz nach den Maßstäben 
des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundes- 
verfassungsgerichts, da die betreffenden Fluggastdaten 
auf der Grundlage dieser Abkommen von deutschen Stel- 
len an die USA oder Australien weitergeleitet würden. 

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das 
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdaten- 
speicherung vom 2. März 2010, 1 BvR 256/08. Hier hat 
das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aus- 
drücklich aufgetragen, sich auf internationaler und 
europäischer Ebene für die Wahrung der Datenschutzstan- 
dards des Grundgesetzes einzusetzen, BVerfG, a. a. O., 
Randnummer 218. Genau diesem Auftrag kann und 
muss die Bundesregierung nun entsprechen und das ge- 
forderte Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen 
Union einholen. Ein solches Gutachten könnte - sollte 
der EuGH darin die Unvereinbarkeit der Abkommen mit (D) 
dem Grundrecht auf Datenschutz und somit EU-Primär- 
recht feststellen - auch die Position der Europäischen 
Union bei weiteren Verhandlungen über das PNR-Ab- 
kommen mit den USA stärken. 

Die erheblichen datenschutzrechtlichen Bedenken ge- 
genüber dem Abkommen, die offensichtlich auch inner- 
halb der Kommission selbst bestehen, können nicht ein- 
fach unter den Teppich gekehrt werden. Ein Gutachten 
des Gerichtshofs der Europäischen Union kann Klarheit 
über die Vereinbarkeit der Abkommen mit den EU- 
Grundrechten schaffen und ist aus Gründen der Rechts- 
sicherheit unerlässlich. 

Gisela Piltz (FDP): 

Auch auf die Gefahr hin, mich zu diesem Thema zu 
wiederholen: Wer hat ’s erfunden? Richtig, die Grünen. 

Der grüne Außenminister Joschka Fischer hat zu Zeiten 
der rot-grünen Bundesregierung im Rat dem Abkommen 
zwischen EU und USA zur Übermittlung von Fluggast- 
daten zugestimmt, einem Abkommen, in dem damals das 
Wort Datenschutz ein absolutes Fremdwort war. Die 
Notbremse zog dann das Europäische Parlament, wäh- 
rend hier im Bundestag SPD und Grüne das, was sie 
heute kritisieren, unterstützten - mit dem Unterschied, 
dass die heutige schwarz-gelbe Koalition sich um den 
Datenschutz kümmert und dafür kämpft, das, was uns 
Rot-Grün hinterlassen hat, wenigstens rechtsstaatlich 
auszugestalten. 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Gisela Piltz 


(A) Das Verhalten der Grünen jedenfalls nennt man ge- 
meinhin widersprüchlich. Heute so zu tun, als hätten Sie 
mit dem Thema nichts zu tun und könnten sich hier als 
vermeintliche Retter des Rechtsstaats aufzuspielen, ist 
schon ziemlich dreist. 

Die FDP-Fraktion bleibt ihrer Linie bei Fluggastda- 
ten treu. Wir haben die Nutzung von Fluggastdaten von 
Anfang an kritisch begleitet. Wir müssen zur Kenntnis 
nehmen, dass weder im Rat noch im Europäischen Par- 
lament eine Mehrheit gegen Fluggastdatensammlungen 
vorhanden ist. Aber wir nehmen auch zur Kenntnis, dass 
die Sensibilität immerhin gestiegen ist für den Daten- 
schutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte. Sogar 
der Juristische Dienst der Kommission hat inzwischen 
ein kritisches Gutachten zu dem geplanten Abkommen 
zur Übermittlung von Fluggastdaten in die USA erstellt; 
ebenso hat der Juristische Dienst des Rates sich kritisch 
mit dem geplanten EU -Fluggast datensy st em befasst. 
Diese Kritik muss ernst genommen und bei den Beratun- 
gen natürlich berücksichtigt werden. Anders als zu frü- 
heren rot-grünen Zeiten muss man das aber heute der 
Bundesregierung nicht extra sagen - die Bundesjustiz- 
ministerin hat diese Fragen selbst im Blick und setzt sich 
national wie auch in der EU und international für mehr 
Datenschutz ein. 


(B) 


Dass das nicht immer einfach ist, zeigt sich aktuell 
bei den Verhandlungen über ein neues Abkommen zwi- 
schen EU und USA. Wir wissen, dass bei aller guten 
transatlantischen Zusammenarbeit und Partnerschaft 
gerade im Hinblick auf den Datenschutz doch erhebli- 
che Unterschiede bestehen. Davor kann man kapitulie- 
ren und wie damals Joschka Fischer einfach ohne 
weitere rechtsstaatliche Sicherungen den Zugriff auf 
Fluggastdaten und Bankdaten europäischer Bürgerin- 
nen und Bürger gestatten. Oder man kann dafür kämp- 
fen, dass es besser wird. Wir machen lieber Letzteres. 
Gemeinsam mit den Libercden im Europaparlament und 
der Bundesjustizministerin setzt sich die FDP-Fraktion 
dafür ein, dass bei dem künftigen Abkommen mit den 
USA ein hohes Datenschutzniveau erreicht wird. Bei 
dem Abkommen zwischen EU und Australien ist das be- 
reits gelungen. Dieses Abkommen ist -vor allem im Ver- 
gleich zu denjenigen, die wir bisher kannten, und natür- 
lich immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es 
sich um eine grundsätzlich nicht unbedenkliche anlass- 
lose Speicherung von persönlichen Daten handelt - 
mustergültig. Das anerkennt auch der Bundesdaten- 
schutzbeauftragte. 


Und ganz ehrlich: Dafür brauchen wir keinen Rat- 
schlag von den Grünen, ganz besonders nicht von den 
Grünen, die bei diesem Thema eigentlich in Sack und 
Asche gehen müssten. 


Ihren Antrag lehnen wir daher ab und handeln lieber 
im Sinne von mehr Datenschutz und mehr Schutz der 
Persönlichkeitsrechte von Flugreisenden. 


Jan Körte (DIE LINKE): 

Das Versagen der schwarz-gelben Koalition, insbeson- 
dere aber die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der Bun- 
desjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger 


von den Freien Liberalen, zwingen uns dazu, heute er- 
neut über den Stopp des europäischen Fluggastdatenab- 
kommens mit den USA und Australien zu debattieren. 

Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist für ihren 
neuerlichen Vorstoß, die Grundrechtskonformität des 
benannten Datenaustauschabkommens der Europäi- 
schen Union mit den USA und Australien zu überprüfen, 
zu danken. Seit nunmehr sieben Jahren bemüht sich 
auch die Linksfraktion darum, der transatlantischen Da- 
tensammelwut Einhalt zu gebieten. Bisher stießen nicht 
nur wir, sondern auch Bürgerrechtsorganisationen und 
Datenschützer vor allem bei der deutschen Bundesregie- 
rung damit aber auf taube Ohren. 

Selbst das Europäische Parlament und das Bundes- 
verfassungsgericht haben seit einiger Zeit erhebliche 
Zweifel an dem Austausch von Informationen über Flug- 
passagiere mit den benannten Staaten. Das Europäische 
Parlament forderte vor anderthalb Jahren die Kommis- 
sion auf, ein neues Abkommen über die Weitergabe von 
Passagierdaten auszuhandeln. Diese Verhandlungen 
sind nun abgeschlossen; ein vorläufiges Ergebnis liegt 
vor. Dieses kann uns nicht befriedigen. Denn - und dies 
beschreibt der Antrag der Grünen vortreff ich - die der- 
zeit vorliegende Fassung des Abkommens ist mit dem 
Schutz der EU-Grundrechte und damit mit dem Primär- 
recht der Europäischen Union nicht vereinbar 

Augenscheinlich zeigen sowohl Bundesregierung als 
auch Europäische Kommission aber wenig Interesse an 
den vorgebrachten Bedenken von Datenschützern und 
Bürgerrechtsparteien wie der Partei Die Linke. Dies 
verwundert nicht; schließlich schwebt hinter dem trans- 
atlantischen Abkommen die Einrichtung eines inner- 
europäischen Fluggastdatenmanagements. Übersetzt: 
Mit dem Abschluss der Verhandlungen über einen Aus- 
tausch von personenbezogenen Daten von Flugpassa- 
gieren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen 
Union, den USA und Australien soll der Weg bereitet 
werden, um zukün ftig jedwede Bewegung von Personen 
innerhalb der EU zu registrieren, die auf das Transport- 
mittel Flugzeug zurückgreifen. 

Wenn Sie, meine Damen und Herren im Bundesjustiz- 
und Bundesinnenministerium, schon nicht auf die Ein- 
wände der Oppositionsfraktionen im Bundestag, die 
Entschließungen des Europäischen Parlamentes oder 
die europäischen Datenschützer hören wollen, viel- 
leicht, ja vielleicht schenken Sie den Argumenten Ihrer 
eigenen Institutionen und Behörden mehr Vertrauen. 
Selbst der Juristische Dienst des Rates, also jener Insti- 
tution, in der auf europäischer Ebene die Staats- und 
Regierungschefs und Ministerinnen und Minister mit- 
einander arbeiten, hegt erhebliche Zweifel an der 
Grundrechtskonformität des derzeitigen Verhandlungs- 
standes in Bezug auf den Austausch von Flugpassagier- 
daten. Vor allem der Eingriff des ausgehandelten Ab- 
kommens in Art. 8 der EU -Grundrechtecharta, also das 
Grundrecht auf Datenschutz, wiegt schwer. Der Juristi- 
sche Dienst der Europäischen Kommission kritisiert in 
seiner jüngsten Stellungnahme, so wie die Linksfraktion 
vor Monaten bereits auch, den fehlenden Nachweis der 
Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit, die man- 


Zu Protokoll gegebene Reden 



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Jan Körte 

(A) gelnde Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der Grund- 
rechtseingriffe, die überlange Speicherdauer und die 
mangelnde Kontrolle durch unabhängige Datenschutz- 
beauftragte. 

Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns mit sei- 
nem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom März 2010 
klipp und klar aufgetragen, uns für die Wahrung der ver- 
fassungsrechtlichen Datenschutzstandards des deut- 
schen Grundgesetzes auch in internationalen Zusam- 
menhängen einzusetzen. 

Insofern stimmen wir dem Antrag der Grünen zu und 
fordern die Bundesregierung auf, gemäß Art. 218 
Abs. 11 AEUV ein Gutachten der Europäischen Union 
über die Vereinbarkeit der geplanten Abkommen mit den 
USA und Australien über die Weitergabe von Passagier- 
daten mit dem europäischen Primärrecht einzuholen. 

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 
NEN): 

„ Wir dürfen hier nicht sehenden Auges eine Situation 
entstehen lassen, in dem die EU grundrechtswidrige Ab- 
kommen abschließt. “ Mit diesem Satz habe ich Sie in der 
ersten Lesung im Juni 2011 bereits um Zustimmung zu 
unserem Antrag gebeten. Mit diesem Satz bitte ich Sie 
noch einmal um Unterstützung unseres Antrags, mit dem 
die Bundesregierung aufgefordert wird, die geplanten 
Abkommen über die Weitergabe von Passagierdaten, 
PNR, an die USA und Australien dem EuGH zur Prüfung 
vorzulegen. 

(B) Meine Damen und Herren von der Koalition, liebe 
Frau Piltz, lieber Herr Binninger, was haben Sie denn für 
ein Selbstverständnis als Parlamentarier in der Regie- 
rungskoalition? Die Bundesregierung enthält sich - als 
einzige EU-Regierung - bei der Abstimmung über das 
PNR-Abkommen mit Australien im Rat der Stimme, lind 
zwar aufgrund erheblicher Datenschutzbedenken. Und 
was machen Sie? Sie lehnen eine Vorlage dieses Abkom- 
mens und des PNR-Abkommens mit den USA zum EuGH 
mit der schlichten Begründung ab, Terrorbekämpfung 
sei nötig und es hätte schon einmal schlechtere Abkom- 
men gegeben. 

Was, meine Damen und Herren von der Koalition, ha- 
ben Sie für ein Verständnis von Demokratie und Gewal- 
tenteilung? Die Bundesregierung hat im Rat erhebliche 
Bedenken gegen die PNR-Abkommen wegen Zweifeln an 
der Rechtsgrundlage geäußert. Das heißt übersetzt: Die 
Bundesregierung ist der Ansicht, dass die PNR-Abkom- 
men mit den USA und Australien von den nationalen 
Parlamenten, also auch vom Deutschen Bundestag, rati- 
fiziert werden müssten. Die Bundesregierung konnte 
sich mit dieser Auffassung im Rat aber nicht durchset- 
zen. Was machen Sie? Sie akzeptieren brav wie die 
Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, dass dem Bun- 
destag hier möglicherweise Rechte vorenthalten werden, 
statt sich dafür einzusetzen, dass auch diese Frage vom 
EuGH in einem Gutachten geklärt wird. 

Jetzt aber noch einmal zu den Inhalten, dem Kern der 
Besorgnis der Grünen als Bürgerrechtspartei: Auch 
wenn im Laufe der Verhandlungen mit den USA und 


Australien einzelne Verbesserungen erreicht wurden, (C) 
eine ganze Reihe von Experten und Institutionen haben 
massive Zweifel an der Vereinbarkeit der geplanten 
PNR-Abkommen mit den EU-Grundrechten, der Euro- 
päischen Menschenrechtskonvention und dem deutschen 
Grundgesetz. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen, 
die Einzelheiten wurden vielfach vorgebracht und wir 
haben über sie hier auch diskutiert. Die berechtigten 
Datenschutzbedenken gegen die geplanten PNR-Abkom- 
men lassen sich aber einfach nicht wegdiskutieren, wie 
man ja unschwer auch am Abstimmungsverhalten der 
Bundesregierung erkennen kann. 

Frau Piltz, Zweckbindung, Ausschluss grundrechts- 
widrigen Profilings und die Weiterleitung von Daten in 
Unrechtsstaaten, unabhängige Datenschutzkontrolle - 
das sind Ihre Themen, und das sind die zentralen Kritik- 
punkte an den PNR-Abkommen mit den USA und Austra- 
lien, geäußert nicht nur vom Juristischen Dienst der 
Europäischen Kommission, sondern auch vom Europäi- 
schen Datenschutzbeauftragten und führenden Exper- 
ten. Im Juni dieses Jahres haben Sie an dieser Stelle ge- 
sagt, was die Fluggastdaten angeht, müsse im Sinne des 
Rechtsstaates gerettet werden, was noch zu retten ist. 

Ihre Parteikollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger 
wird in der Regierung hart gekämpft haben um die Ent- 
haltung beim PNR-Abkommen mit Australien. Jetzt sind 
wirklich einmal Sie dran mit dem Retten - und ich meine 
damit nicht das Retten der Koalition -: Setzen Sie sich 
innerhalb der Koalition durch, und nutzen Sie damit die 
Möglichkeit, die der Vertrag über die Arbeitsweise der 
Europäischen Union uns gibt; die Möglichkeit, diese 
eklatant grundrechtswidrigen Abkommen dem EuGH (D) 
zur Prüfung vorzulegen, bevor sie in Kraft treten. 

Zu Ihnen, Herr Binninger: Sie haben im Innenaus- 
schuss gesagt, dass Parlamentarier nach Mehrheiten 
entscheiden und nicht nach Gerichtsentscheidungen und 
dass Sie deswegen einer Grundrechtskontrolle durch 
den EuGH nicht zustimmen können. Da bleibt mir ja fast 
die Spucke weg, wenn das Ihr Verständnis von Gewal- 
tenteilung sein sollte: Was grundrechtswidrig ist, be- 
stimmt allein das Parlament, und wenn es dann doch 
schiefgeht und die Sache irgendwie vor dem Bundesver- 
fassungsgericht landet, dann bringen wir die deutschen 
Grundrechtshüter vom Verfassungsgericht halt in die 
europapolitische Bredouille, indem wir sie vor die Ent- 
scheidung stellen, sich entweder für Europa oder für die 
Grundrechte zu entscheiden? 

Umgekehrt wird ein Schuh draus. In seinem Urteil 
zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverbin- 
dungsdaten hat das Bundesverfassungsgericht den Ge- 
setzgeber unmissverständlich dazu aufgefordert, sich für 
die Wahrung verfassungsrechtlicher Datenschutzstan- 
dards auf europäischer und internationaler Ebene ein- 
zusetzen. Wenn also allenthalben und sogar innerhalb 
Ihrer Regierungskoalition Zweifel an der Grundrechts- 
konformität bestehen, ist es Ihre Pflicht, dem nachzuge- 
hen und edle verfügbaren Mittel zu ergreifen, um das 
Inkrafttreten grundrechtswidriger Abkommen zu ver- 
meiden. Noch ist es nicht zu spät: Stimmen Sie unserem 
Antrag zu, fordern Sie die Bundesregierung auf die ge- 
planten PNR-Abkommen mit Australien und den USA 


Zu Protokoll gegebene Reden 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


16661 


Dr. Konstantin von Notz 

(A) dem EuGH vorzulegen. Nach der Enthaltung der Bun- 
desregierung beim Abkommen mit Australien wäre die- 
ser Schritt nur konsequent. 

Vizepräsident Eduard Oswald: 

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss 
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- 
che 17/7676, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die 
Grünen auf Drucksache 17/6331 abzulehnen. Wer 
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die 
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Frak- 
tionen der Sozialdemokraten und des Bündnisses 90/Die 
Grünen sowie die Linksfraktion. Enthaltungen? - Nie- 
mand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. 


Sie werden es nicht für möglich halten, meine lieben (C) 
Kolleginnen und Kollegen, aber es ist so: Wir sind am 
Ende unserer heutigen Tagesordnung. 

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 
der FDP - Zurufe von der CDU/CSU: Jetzt 
schon?) 

Wir wollen dennoch Weiterarbeiten, aber nicht mehr 
heute, sondern morgen. 

Ich berufe somit die nächste Sitzung des Deutschen 
Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. November 
2011 - ein besonderer Tag -, 9 Uhr, ein. 

Die Sitzung ist geschlossen. 

(Schluss: 23.26 Uhr) 




Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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(A) 


Anlagen zum Stenografischen Bericht 


Anlage 1 

Liste der entschuldigten Abgeordneten 


entschuldigt bis 


Abgeordnete(r) 


einschließlich 

Ahrendt, Christian 

FDP 

10.11.2011 

Beck (Bremen), 
Marieluise 

BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN 

10.11.2011 

Goldmann, Hans- 
Michael 

FDP 

10.11.2011 

Hintze, Peter 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Dr. Koschorrek, Rolf 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Leidig, Sabine 

DIE LINKE 

10.11.2011 

Meierhofer, Horst 

FDP 

10.11.2011 

Philipp, Beatrix 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Polenz, Ruprecht 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Seiler, Till 

BÜNDNIS 90/ 
DIE GRÜNEN 

10.11.2011 

Spatz, Joachim 

FDP 

10.11.2011 

Dr. Wadephul, Johann 
David 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Widmann-Mauz, 

Annette 

CDU/CSU 

10.11.2011 

Wolff (Wolmirstedt), 
Waltraud 

SPD 

10.11.2011 

Wunderlich, Jörn 

DIE LINKE 

10.11.2011 


Anlage 2 

Erklärung nach § 31 GO 

der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE 
LINKE) zur Abstimmung über die Beschluss- 
empfehlung zu dem Antrag: Fischartenschutz 
voranbringen - Vordringliche Maßnahmen für 
ein Kormoranmanagement (Tagesordnungs- 
punkt 14 b) 

Der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Antrag 
greift wesentliche Forderungen des Antrages 17/5378 
„Ökosysteme schützen, Artenvielfalt erhalten - Kormo- 
ranmanagement einführen“ der Bundestagsfraktion Die 
Linke auf. Letzterer wurde im Frühjahr 2011 gestellt. 
Die grundsätzliche Forderung beider Anträge ist ein 


bundesweites Kormoranmanagement. Dies kann ein 
wichtiger erster Schritt zu einem europaweiten Manage- 
ment sein. Daher stimme ich auch dem Antrag auf 
Drucksache 17/7352 zu. 

Gleichzeitig möchte ich auf drei kritische Aspekte des 
Antrages verweisen, die über die grundsätzliche Zustim- 
mung hinaus festzustellen sind: 

Erstens. Die Antragsformulierungen zum Thema Ein- 
griffe in Schutzgebieten sind missverständlich. Weitge- 
hende Ausnahmeregelungen, „auch in Schutzgebieten 
Eingriffe in bereits bestehende Kolonien zu ermögli- 
chen“, müssen selbstverständlich im Rahmen natur- 
schutzgesetzlicher Regelungen und damit auf die dort er- 
möglichten Ausnahmesituationen beschränkt bleiben. 
Viele betroffene Teichwirtschaften liegen in der Nähe 
oder in Schutzgebieten. Wenn notwendig, sollten hier 
einzelfallbezogene Maßnahmen geprüft werden. Recht- 
liche Bedenken sind zuvor ernsthaft zu prüfen. Flandeln 
in solch begründeten Ausnahmefällen ist bereits jetzt 
möglich. 

Zweitens. Im Antrag fehlen wichtige Partnerinnen 
und Partner zur Umsetzung eines bundesweiten Manage- 
ments. Gerade bei so emotional geführten Debatten soll- 
ten alle beteiligten Stakeholder einbezogen werden. Die 
Koalition nennt jedoch nur die Bundesländer. Im Antrag 
der Bundestagsfraktion Die Linke wird auch die Beteili- 
gung von Fischerinnen und Fischern, Naturschützerin- 
nen und Naturschützern und Anglerinnen und Anglern 
gefordert. Es macht Sinn, diese Gruppen an einen Tisch 
zu holen und gemeinsam nach der besten Lösung zu su- 
chen. 

Drittens. Im Antrag der Koalition fehlen differen- 
zierte Blickwinkel. Die Probleme im Fischartenschutz 
sind nicht nur durch den Kormoran verursacht und hät- 
ten daher wie im Antrag auf Drucksache 17/5378 gleich- 
berechtigt dargestellt werden sollen. Beispielsweise 
muss auf den schlechten ökologischen Zustand vieler 
Fließgewässer infolge von Uferverbauung, Staustufen 
und Stickstoffeinträgen aus der Landwirtschaft hinge- 
wiesen werden. Neben einem Kormoranmanagement 
müssen deshalb die Verbesserung der Gewässerqualität, 
die Reduzierung von Verbauungen und der Einflüsse der 
Wasserkraft sowie die Renaturierung der Gewässer wei- 
ter vorangetrieben werden. 


Anlage 3 

Zu Protokoll gegebene Reden 

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über 
die Besetzung der Großen Straf- und Jugend- 
kammern in der Hauptverhandlung (Tagesord- 
nungspunkt 18) 

Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): In den 90er-Jah- 
ren waren aufgrund der Wiedervereinigung die Personal- 
mittel in der Justiz sehr knapp. Um trotz dieses Umstan- 


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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


(A) des eine funktionierende Rechtspflege gewährleisten zu 
können, wurde mit dem Gesetz zur Entlastung der 
Rechtspflege in § 76 Abs. 2 GVG für die Großen Straf- 
kammern die Möglichkeit geschaffen, in der Hauptver- 
handlung in der Besetzung mit zwei Berufsrichtem und 
zwei Schöffen zu verhandeln. Das Gesetz zur Entlastung 
der Rechtspflege trat am 1. März 1993 in Kraft, ln der 
letzten Änderung dieses Gesetzes durch das RPflEntlG 
in der Fassung vom 8. Dezember 2010 wurde in Art. 15 
Abs. 2 bestimmt, dass diese in § 76 Abs. 2 GVG nor- 
mierte Regelung am 31. Dezember 2011 außer Kraft 
tritt. Bis dahin wurde die Regelung im Zweijahresrhyth- 
mus verlängert. Mit dem heute zu verabschiedenden Ge- 
setz zur Besetzung der Großen Straf- und Jugendkam- 
mern wird nun eine dauerhaft gültige Regelung 
geschaffen. Hiermit setzt die christlich-liberale Koalition 
den richtigen Akzent! 

Grundsätzlich hat sich gezeigt, dass sich die bisherige 
Regelung bewährt hat; deshalb wurde sie auch bisher im 
Zweijahresrhythmus verlängert. So waren im Jahre 2009 
fast 80 Prozent - in einigen Bundesländern fast 90 Pro- 
zent - der Hauptverhandlungen vor den Großen Straf- 
und Jugendkammem mit zwei Berufsrichtern und zwei 
Schöffen besetzt. Dennoch wurde eine funktionierende 
und vor allem rechtsstaatliche Rechtspflege gewährleis- 
tet, da diese Fälle auch in der Zweierbesetzung adäquat 
entschieden werden können. 

So loben auch die Landesjustizverwaltungen, dass 
„die Besetzungsreduktion den Strafkammern eine fle- 
xible Reaktionsmöglichkeit auf unterschiedliche Verfah- 

(B) renskonstellationen“ ermöglicht. Dies stellte die Große 
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes in 
ihrem Gutachten zur Besetzungsreduktion, das aus den 
Ergebnissen der Sitzung vom 3. bis 8. August 2009 in 
Gotha resultiert, fest. 

ln dem Zielkonflikt zwischen Sicherung der Qualität 
der Rechtsprechung und Prozessökonomie wird nun eine 
dauerhafte Regelung geschaffen, die den Anforderungen 
an eine funktionierende Rechtspflege Rechnung trägt. 

Mit dem Gesetz über die Besetzung der Großen Straf- 
und Jugendkammern werden gleichzeitig noch einige 
Änderungen bei dem Gesetz über den Rechtsschutz bei 
überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Er- 
mittlungsverfahren und eine Änderung der Disziplinar- 
ordnung abgeschlossen. Im Einzelnen geht es hierbei vor 
allem um die drei folgenden Punkte: Erstens werden Re- 
gelungen zur Dekonzentration von Zuständigkeiten ge- 
schaffen. Zweitens wird der Ausschluss der Präsidenten 
und Vizepräsidenten von der Mitwirkung an Entschädi- 
gungsprozessen für kleinere Gerichte festgeschrieben. 
Drittens wird eine Regelung geschaffen, die dafür sorgt, 
dass Privatkläger in Strafverfahren nicht in den Kreis der 
Entschädigungsberechtigten mit einbezogen werden. 

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausdrücklich zu 
begrüßen. Durch die Schaffung und gesetzliche Normie- 
rung von Ausnahmen, in denen eine Besetzungsreduk- 
tion unmöglich ist, wird eine stabile Rechtslage geschaf- 
fen, die gleichzeitig den Anforderungen an ein faires 
Verfahren Rechnung trägt. 


Eine Reduktion kann dann nicht erfolgen, wenn die 
Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah- 
rung, deren Vorbehalt oder die Unterbringung in einem 
psychiatrischen Krankenhaus zu erwarten ist. Bei sol- 
chen Entscheidungen der Großen Strafkammern, die als 
einzige Tatsacheninstanz mit umfassender Strafgewalt 
etwa über die Unterbringung in der Sicherungsverwah- 
rung zu entscheiden haben, muss das Wissen und die Er- 
fahrung eines voll besetzten Richterkollegiums genutzt 
werden. 

Weiter ist dann in der Dreierbesetzung zu verhandeln, 
wenn Umfang und Schwierigkeit der Strafsache dies for- 
dern oder das Gericht als Schwurgericht verhandelt. Bei 
Zweifel bzw. Unklarheit ist immer die Dreierbesetzung 
der Zweierbesetzung vorzuziehen. 

Schließlich werden in § 76 Abs. 3 GVG noch zwei 
Regelbeispiele aufgestellt, die eine Verhandlung vor drei 
Richtern erfordern. 

Das eine Regelbeispiel ist gemäß § 76 Abs. 3 GVG 
dann erfüllt, wenn die Große Strafkammer als Wirt- 
schaftskammer zuständig ist. In diesem Fall ist in der 
Regel die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig. 

Besonders ist hierbei daraufhinzuweisen, dass in den 
Fällen, in denen die Wirtschaftskammem als Große 
Strafkammer verhandeln, eine Dreierbesetzung in der 
Regel angemessen ist. Dass die Besetzung der Wirt- 
schaftskammern mit drei Richtern als Regelbeispiel gilt, 
fußt auf folgenden Erkenntnissen: Einerseits hat sich erge- 
ben, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Verfahren von 
zwei Berufsrichtern und zwei Schöffenrichtern bewältigt 
werden kann. Andererseits zeigt sich, dass Wirtschafts- 
strafverfahren vom durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad 
eines allgemeinen landgerichtlichen Verfahrens abwei- 
chen. Vor allem die Komplexität der vor der Wirtschafts- 
kammer zu verhandelnden Sachverhalte gebietet eine 
Besetzung mit drei Berufsrichtem, um eine adäquate 
Rechtsfindung zu ermöglichen. 

Gleichzeitig ist es in den Beratungen zu dem vorlie- 
genden Gesetzentwurf aber gelungen, in den Fällen, in 
den die Wirtschaftskammer als Große Strafkammer han- 
delt und eine Besetzung mit drei Richtern das Regelbei- 
spiel erfüllt, einer klare Beschlussempfehlung zu formu- 
lieren, die es den Gerichten ermöglicht, eine Redu- 
zierung auf zwei Richter revisionsfest vorzunehmen, 
wenn sie zu der Überzeugung gelangen, dass das Regel- 
beispiel gerade nicht erfüllt ist. So ist eine Reduzierung 
auf zwei Richter dann möglich, wenn nur wenige Ver- 
handlungstage erforderlich sind oder aber ein weniger 
komplexes Verfahren vorliegt, wenn deren Umfang nur 
dadurch bedingt ist, dass viele ähnlich gelagerte, kleine 
Fälle Zusammentreffen. 

Mit dieser Regelung wird die für die Arbeit der Wirt- 
schaftskammern erforderliche Flexibilität bei der Beset- 
zung in der Hauptverhandlung gewährleistet. 

Das zweite in § 76 Abs. 3 GVG genannte Regelbei- 
spiel ist dann erfüllt, wenn die Hauptverhandlung vo- 
raussichtlich länger als zehn Tage dauern wird. In diesen 
Fällen ist die Mitwirkung eines dritten Richters in der 
Regel notwendig. 



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(A) Hinsichtlich dieses Regelbeispiels ist noch auf Fol- 
gendes hinzuweisen: 

Es gab zunächst unterschiedliche Ansätze, die Anzahl 
der Verhandlungstage zu bestimmen, die eine zwingende 
Dreierbesetzung nach sich ziehen. Hierbei kann zum ei- 
nen auf § 275 Abs. 1 StPO verwiesen werden. Diskutiert 
wurde hierbei vor allem zum einen eine Anzahl von drei, 
zum anderen eine Anzahl von zehn Hauptverhandlungs- 
tagen. Diese beiden Zahlen standen deshalb im Raum, 
weil beide Zahlen in § 275 Abs. 1 StPO genannt werden. 
§ 275 Abs. 1 StPO bestimmt unterschiedliche Fristen, in 
denen ein Urteil zu den Akten zu bringen ist. Diese Fris- 
ten verlängern sich entsprechend der Dauer der Haupt- 
verhandlung. Eine verlängerte Frist gilt zum einen bei 
einer Hauptverhandlungsdauer. Diese Zeiträume - drei 
bzw. zehn Tage - können somit als Anhaltspunkte auch 
in der Regelung des § 76 Abs. 3 GVG gelten. 

Wie die Sachverständigen bei dem erweiterten Be- 
richterstattergespräch ausführten, dauert die Mehrzahl 
der Hauptverhandlungen etwa drei bis fünf Tage. Um 
eine klare Abgrenzung zu dieser Vielzahl von Fällen zu 
schaffen, muss die Zahl der Hauptverhandlungstage, die 
eine zwingende Dreierbesetzung nach sich ziehen, mit- 
hin höher angesetzt werden. Auch eine voraussichtliche 
Verhandlungsdauer von fünf Tagen kann hier noch keine 
klare Abgrenzung schaffen. 

Für die Einführung der Zehn-Tage-Grenze spricht 
auch ein weiteres systematisches Argument. Auch in 
§ 229 Abs. 2 StPO wird die Verhandlungsdauer von zehn 
Tagen als Anlass genommen, eine längere Unterbre- 

(B) chung zu gewähren. 

Sowohl § 275 Abs. 1 StPO als auch § 229 Abs. 2 StPO 
wurden für umfangreiche Verfahren geschaffen. Diese 
mithin vom Gesetzgeber selbst geschaffene Grenze für 
umfangreiche Verfahren kann auch bei § 76 Abs. 2 GVG 
herangezogen werden. So führt auch der BGH in seinem 
Beschluss vom 7. Juli 2010 aus (Az: 5 StR 555/09, 
Nr. 19): 


lungstagen zurückbleibt. Mit der vorliegenden Regelung (C) 
wird der entscheidende Richter klar bestimmt und das 
Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 
Abs. 1 Satz 2 GG gewahrt. 

Zusammenfassend kann man Folgendes festhalten. 

Die neue Regelung des § 76 Abs. 2 bis 5 GVG verbes- 
sert den Verfahrensablauf, da er eine unbefristet gültige 
Regelung statuiert. Dies führt zu einer Erhöhung der 
Rechtssicherheit und gerade nicht zu einem Entzug des 
gesetzlichen Richters, da der Angeklagte jederzeit mit 
Rechtssicherheit seinen gesetzlichen Richter bestimmt 
weiß. 

Die Vorteile der unbefristeten Regelung der Beset- 
zung der Großen Straf- und Jugendkammern liegen auf 
der Hand. Auch an diesem Gesetzgebungsvorhaben 
zeigt sich die stringente Rechtspolitik der christlich-libe- 
ralen Koalition im Hinblick auf die Gewährleistung von 
Rechtssicherheit und Effektivität der Justiz. 


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Ich 
möchte die Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgeset- 
zes in den Fokus meines Beitrags stellen, die der Rechts- 
ausschuss in das Verfahren eingebracht hat und die das 
heute zu verabschiedende Gesetz als „Omnibus“ nutzen, 
um bereits Änderungen des vor kurzem verabschiedeten 
Gesetzes über den Rechtschutz bei überlangen Gerichts- 
verfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor- 
zunehmen. 


Neben vielen richtigen Regelungen in dem Gesetz, 
mit dem wir ein Rechtsmittel bei unverhältnismäßig lang 
andauernden Verfahren geschaffen haben, konnte in ei- 
nem wesentlichen Punkt leider nicht die aus Sicht mei- 
ner Fraktion optimale Lösung erzielt werden. Von An- 
fang an hatten wir Bedenken gegen die örtliche aus- 
schließliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts am 
Sitz der Landesregierung auch für Verfahren im Bereich 
anderer Oberlandesgerichte des jeweiligen Bundeslan- 
des. 


(D) 


Der Senat hielte es demgegenüber grundsätzlich für 
angezeigt, den der Beurteilung des Tatrichters un- 
terstehenden Rechtsbegriff des Umfangs der Sache 
auch dahingehend weiter zu konturieren, dass je- 
denfalls bei einer im Zeitpunkt der Eröffnung des 
Hauptverfahrens absehbaren Verhandlungsdauer 
von wenigstens zehn Hauptverhandlungstagen von 
der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grund- 
sätzlich nicht abgesehen werden darf. 

Bei den so zu bestimmenden umfangreichen Verfah- 
ren, die durch eine Verhandlungsdauer von zehn oder 
mehr Tagen gekennzeichnet sind, kann dann in der Drei- 
erbesetzung das Verfahren seinem Umfang entsprechend 
angemessen erledigt werden. 

Endlich kann noch festgehalten werden, dass gerade 
kein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Rich- 
ter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt. Die Ent- 
scheidung, mit drei Richtern zu verhandeln, kann näm- 
lich auch dann nicht mehr abgeändert werden, wenn sich 
während der Hauptverhandlung ergibt, dass die Verhand- 
lungsdauer hinter den zehn prognostizierten Verhand- 


Die Reaktionen aus den Ländern mit zwei oder mehr 
Oberlandesgerichten - ich hatte es in meiner Rede am 
29. September 2011 angesprochen - waren ausnahmslos 
ablehnend. Auch war es aus meiner Sicht nicht nachvoll- 
ziehbar, warum bei der Beurteilung der Überlänge eines 
Verfahrens der ersten oder zweiten Instanz die Grenzen 
des OLG-Bezirks verlassen werden sollten. Schließlich 
entscheiden auch sonst die Oberlandesgerichte als Beru- 
fungs- oder Revisionsinstanz über Entscheidungen der 
jeweiligen Gerichte ihrer Bezirke. Den entsprechenden 
„Gleichlauf der Verfahren“, den der Bundesrat hier an- 
mahnt, halte ich für ein überzeugendes Argument. Die 
vom Entwurfsverfasser ursprünglich angestrebte Ein- 
heitlichkeit der Rechtsprechung wird meines Erachtens 
hinreichend durch die auf Ebene des BGH angesiedelten 
Fachgerichte gewährleistet. Das dadurch bei den Gerich- 
ten entstandene Unbehagen und Unverständnis ist mehr- 
fach - zumeist am Beispiel der Badener und der 
Wiirttemberger Justiz - sowohl im Ausschuss, aber auch 
in sonstigen kollegialen Gesprächen und Schreiben, mal 
mit rein sachlichen Argumenten, mal auch mit einem er- 
kennbaren Schmunzeln erörtert worden. Leider war es 


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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


(A) trotzdem im parlamentarischen Verfahren und unter dem 
bestehenden Zeitdruck angesichts der Fristsetzung des 
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zunächst 
nicht konsensfähig, zu der nun getroffenen guten Lösung 
zu kommen, obwohl noch in der letzten Sitzung des 
Rechtsausschusses vor der Verabschiedung um eine gute 
Lösung gerungen worden war. 

Die entsprechende Bundesratsstellungnahme hat die 
Bundesregierung nun zum Anlass genommen, nachträg- 
lich einige wenige Verbesserungen einzubringen. Da der 
entsprechende Kompromiss mit den Ländern erst nach 
Verabschiedung des oben genannten Gesetzes gefunden 
wurde und sich die Einführung eines Rechtsmittels gegen 
überlange Gerichtsverfahren nicht verzögern sollte, bin 
ich dankbar, dass wir mit dem ebenfalls eingebrachten 
Entwurf eines Gesetzes zur Besetzungsreduktion der 
Großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhand- 
lung in ein parlamentarisches Verfahren gefunden haben, 
das es uns erlaubt, im Regelungszusammenhang des Ge- 
richtsverfassungsgesetzes die Änderung nachträglich 
vorzunehmen. „Geht doch, warum nicht gleich so“, 
möchte man sagen, denn neben den besseren Argumen- 
ten war bereits damals die Einstellung der Länder zu die- 
sem Punkt bekannt, der Änderungsbedarf daher abseh- 
bar; eine Entscheidung des Parlaments aus einem Guss 
im Zuge der Verabschiedung des Gesetzes wäre sicher 
überzeugender gewesen, als die erste Nachbesserung des 
Gesetzes noch vor der Verkündung im Bundesanzeiger. 

Zwei weitere Änderungen werden auf Betreiben des 
Bundesrates eingefligt: Das Mitwirkungsverbot der Ge- 
, R . richtspräsidenten und ihrer ständigen Vertreter wird ge- 
strichen. Die seitens der Länder geäußerte nachvollzieh- 
bare Sorge, dass mit solch einer Ausschlussregelung 
Misstrauen innerhalb der Gerichte Vorschub geleistet 
werde, ist damit aus der Welt. Die in Zukunft erforder- 
lich werdende Trennung zwischen Dienstaufsicht und 
Entschädigungsangelegenheiten kann der Organisations- 
autonomie der Gerichte und damit den Geschäftsvertei- 
lungsplänen überlassen werden. 

Dritter Bestandteil des mit den Ländern gefundenen 
Kompromisses ist die gesetzliche Einschränkung, dass 
ein Privatkläger im Strafverfahren keinen Entschädi- 
gungsanspruch für Überlängen im Verfahren hat. ln der 
Tat ging diese Regelung über die Vorgaben des EGMR 
hinaus; die Streichung liegt damit in der Tendenz, das 
neue Rechtsmittel nicht zu einer ausufernden neuen 
- und damit letztlich gerade kontraproduktiven - Belas- 
tung der Gerichte werden zu lassen. Ob dies in der Pra- 
xis zu deutlich anderen Fallzahlen führen wird, als es die 
ursprüngliche Regelung getan hätte, kann hier dahinge- 
stellt bleiben. 

Wichtig ist, dass mit diesem Kompromiss der Rechts- 
schutz bei überlangen Gerichtsverfahren nun ohne wei- 
tere Verzögerung in Kraft treten kann; erfreulich ist, dass 
wir dies mit einer entscheidenden Verbesserung bei der 
örtlichen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte verbin- 
den konnten. 

Christoph Strässer (SPD): Nach § 76 Abs. 1 GVG 
sind die Großen Straf- und Jugendkammern bei den 


Landgerichten bei der Hauptverhandlung grundsätzlich (C) 
mit drei Berufsrichtem und zwei Schöffen besetzt. Seit 
fast 20 Jahren wird ihnen durch das Gesetz zur Entlas- 
tung der Rechtspflege die Möglichkeit gegeben, in „we- 
niger umfangreichen und einfacheren Fällen“ mit zwei 
statt mit drei Berufsrichtern plus jeweils zwei Schöffen 
zu entscheiden. Diese Entscheidung ist bei der Eröff- 
nung des Hauptverfahrens zu treffen. 

Die Geltungsdauer dieser Regelungen zur sogenann- 
ten Besetzungsreduktion, also die bestehende Möglich- 
keit der Zweierbesetzung, wurde den Gerichten 1993 
erstmals befristet eröffnet, um personelle Engpässe nach 
der Wende vor allem an Gerichten in den neuen Bundes- 
ländern abzufedern. Eine Evaluation auf Wunsch der 
SPD vor einigen Jahren hat gezeigt, dass die Beset- 
zungsreduktion insgesamt eine feste Größe im Justizall- 
tag geworden ist. Bei der Anwendung der Regelung sind 
erhebliche regionale Unterschiede feststellbar. Je höher 
die Komplexität eines Falles, desto häufiger wurde aber 
auch weiterhin in Dreierbesetzung verhandelt. Die Zwei- 
erbesetzung ist in einfach gelagerten Fällen vertretbar, 
wird aber von den Gerichten insgesamt zu großzügig ge- 
handhabt. Mehr noch: Es gibt Einschätzungen, wonach 
diese Möglichkeit ausufernd in Anspruch genommen 
und quasi zum Regelfall gemacht wurde. 

Einigkeit besteht darin, dass es keine weitere Verlän- 
gerung der derzeit geltenden Regelung geben soll. Es 
wird keine unbefristete Fortdauer der jetzigen Regelung 
und es wird keine komplette Rückkehr zur alten Rechts- 
lage geben, wobei wir davon ausgehen, dass eine Dreier- 
besetzung nicht in allen Fällen rechtsstaatlich geboten (pj) 
ist. Insbesondere dann, wenn ein Fall weder in rechtli- 
cher noch in tatsächlicher Hinsicht Schwierigkeiten auf- 
weist, kann der Verfahrensstoff auch in reduzierter Be- 
setzung ohne Qualitätseinbußen bewältigt werden, aller- 
dings legen wir Wert darauf, dass dies auch weiterhin die 
Ausnahme bleiben soll. 

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hingegen 
sieht vor, dass die Möglichkeit, mit zwei statt drei Be- 
rufsrichtern zu verhandeln, grundsätzlich beibehalten 
wird. Durch den Entwurf sollen die Begriffe „Umfang“ 
und „Schwierigkeit der Sache“ weiter ausgestaltet wer- 
den. Darüber hinaus wird für die Fälle, in denen die An- 
ordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah- 
rung, deren Vorbehalt oder die Anordnung der Unter- 
bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu er- 
warten sind, stets eine Besetzung von drei Berufsrichtern 
vorgesehen. Bei den Regelungen zur Besetzung der Gro- 
ßen Jugendkammer wird zusätzlich jugendstrafrechtli- 
chen Besonderheiten Rechnung getragen. 

Bundesregierung und Koalition halten es für ausrei- 
chend, den Rechtsbegriff des Umfangs der Sache dahin 
gehend zu konkretisieren, dass zumindest bei einer im 
Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens absehba- 
ren Verhandlungsdauer von wenigstens zehn Hauptver- 
handlungstagen von der Mitwirkung eines dritten Be- 
rufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden darf. 

Der Koalitionsentwurf sieht im Grunde genommen vor, 
dass die bisherige Ausnahme, nämlich die Besetzungsre- 
duktion, zum Regelfall werden soll - eine Entwicklung, 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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(A) die die SPD-Bundestagsfraktion in dieser Form nicht 
mitträgt. 

Vor wenigen Wochen hat es ein erweitertes Bericht- 
erstattergespräch gegeben. Die Anhörung der Sachver- 
ständigen war allerdings anscheinend ohne Belang für 
die Koalition. Drei der vier angehörten Sachverständi- 
gen haben sich nachvollziehbar auf den Standpunkt ge- 
stellt, dass es nicht akzeptabel sei, eine besondere 
Schwierigkeit oder einen besonderen Umfang der Sache, 
die eine Dreierbesetzung erforderlich machen, erst bei 
einer voraussichtlichen Verfahrensdauer von zehn Tagen 
anzunehmen. Die Bundesrechtsanwaltskammer sieht 
weniger als fünf Hauptverhandlungstage als Regelvo- 
raussetzung für eine Besetzung mit nur zwei Richtern als 
angemessen an, die Neue Richtervereinigung sogar nur 
eine Verhandlungsdauer von drei Tagen. Ob fünf oder 
drei Verhandlungstage - beide Regelungen sind in jedem 
Fall klarer und weniger zugänglich für gestalterische In- 
terpretationsmöglichkeiten der Verhandlungsdauer und 
sind damit weniger missbrauchsanfällig. 60 Prozent der 
Verfahren werden sogar innerhalb dreier Verhandlungs- 
tage verhandelt. Insofern bleiben genügend einfache 
Verfahren erhalten, bei denen eine Zweierbesetzung aus- 
reicht. 

Die SPD-Bundestagsfraktion bedauert, dass die Ko- 
alition nicht auf die Einschätzungen der Wissenschaft 
und Praxis eingegangen ist und keine interfraktionelle 
Lösung gesucht hat. Zwar stellt der Gesetzentwurf eine 
Verbesserung des Status quo dar und ist durchaus disku- 
tabel. Zwei für uns wesentliche Aspekte werden aber 
, R nicht erfüllt: Erstens: Die Dreierbesetzung wird nicht 
v ausreichend als Regelfall dargestellt. Zweitens: Die Be- 
setzung mit zwei Berufsrichtern bei allen Verfahren mit 
einer Verhandlungsdauer bis zu zehn Tagen ist zu weit- 
gehend. De facto wird in Umkehrung von § 76 Abs. 1 
GVG damit die Besetzung mit zwei Berufsrichtern zum 
Regelfall erklärt. 

Der Änderungsantrag der SPD-Fraktion zielt demge- 
genüber darauf ab, die Dreierbesetzung der Berufsrich- 
terbank wieder zum Regelfall zu erklären; sie soll nur in 
besonderen Fällen entbehrlich sein. Dazu schlagen wir 
Regelbeispiele vor. Wir orientieren uns hierbei im We- 
sentlichen an den Vorschlägen der Bundesrechtsanwalts- 
kammer. Mit der von uns vorgeschlagenen Fassung wird 
die strukturelle Überlegenheit der Dreierbesetzung ver- 
deutlicht und das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Beset- 
zung mit drei Berufsrichtern verankert. Nicht die Dreier- 
besetzung bedarf einer besonderen Begründung, sondern 
die Zweierbesetzung als Ausnahmefall. Um den Grund- 
satz nicht zu sehr auszuhöhlen, favorisieren wir eine 
Fünf- und keine Zehn-Verhandlungstage-Lösung. Nach 
unserem Vorschlag beschließt die Große Strafkammer, 
dass sie in der Hauptverhandlung nur mit zwei Richtern 
einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen be- 
setzt ist, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich 
weniger als fünf Tage dauern wird oder in der Hauptver- 
handlung ein Geständnis zu erwarten ist. Dies gilt nicht, 
wenn die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist 
oder die Anordnung der Unterbringung in der Siche- 
rungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die Anordnung 
der Unterbringung in einem psychiatrischen Kranken- 


haus zu erwarten sind. Eine Aufnahme auch der Wirt- (C) 
Schaftsstrafkammern in den Katalog der obligatorischen 
Dreierbesetzung halten wir hingegen nicht für erforder- 
lich, da es auch bei Wirtschaftsstrafsachen Verhandlun- 
gen gibt, die mit ausreichender rechtsstaatlicher Garantie 
in der reduzierten Besetzung unter den gleichen Krite- 
rien wie bei den Strafkammern durchgeführt werden 
können. Dem Änderungsantrag der Grünen können wir 
deshalb nicht zustimmen. 

Die Beteiligung mehrerer Berufsrichter neben dem 
Vorsitzenden ist grundsätzlich geeignet, Aufgaben insbe- 
sondere in der Hauptverhandlung sachgerecht aufzutei- 
len, den Verfahrensstoff intensiver zu würdigen und 
schwierige Rechtsfragen besser zu bewältigen. Eine zu 
umfassend ausgedehnte Besetzungsreduktion birgt die 
Gefahr des Verlusts der Kontrollfunktion, die der zweite 
beisitzende Richter mit Blick auf den ordnungsgemäßen 
Verfahrensablauf und die Urteilsberatung ausübt. Da- 
durch kommt es zu einer stärkeren Belastung insbeson- 
dere des Vorsitzenden, die Einarbeitung junger unerfah- 
rener Richterinnen und Richter wird ebenso erschwert 
wie die Erlernung kollegialer und kommunikativer 
Kompetenzen. Außerdem schafft die häufigere Anwen- 
dung der Zweierbesetzung langfristig keine neuen Kapa- 
zitäten bei den Gerichten, da Stellen gestrichen werden 
könnten. 

Die Neuregelung der Besetzung der Straf- und Ju- 
gendkammern in der Hauptverhandlung dürfte im Ver- 
gleich zur derzeit geltenden Rechtslage zu einem nicht 
genau bezifferbaren höheren Personalbedarf und damit 
zu höheren Personalkosten für die Länder führen. Das (D) 
sehen wir durchaus. Die Gerichte und Justizbehörden 
sind aber keine untergeordneten Behörden der Finanz- 
minister. Die Kosten sind überschaubar. Das hohe Gut 
der Rechtsstaatlichkeit sollte uns dies wert sein. 

Jens Petermann (DIE LINKE): Wir begrüßen den 
Versuch, die Notlösung in § 76 Abs. 2 Gerichtsverfas- 
sungsgesetz nicht nochmals zu verlängern. Man sollte 
sie aber einfach am 31. Dezember auslaufen lassen und 
nicht wie geplant zur Regel machen. Deshalb kann ich 
zum wiederholten Mal den Einbringern kritische Hin- 
weise nicht ersparen. Die Bedenken gegen das Vorhaben 
wurden bereits in einem erweiterten Berichterstatterge- 
spräch vorgetragen, haben jedoch bei der Koalition nicht 
zu einer Neubewertung geführt. Leider läuft das der Ab- 
sicht zuwider, den Gesetzentwurf nach Anhörung von 
Sachverständigen sachlich zu verbessern. Es nützt 
nichts, Sachverständige einzuladen, wenn man nicht be- 
reit ist, ihre Argumente zu hören. 

Worum geht es genau? Nach Herstellung der deut- 
schen Einheit wuchs der Bedarf an Richterinnen, Rich- 
tern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten im Beitritts- 
gebiet kurzfristig stark an. Deshalb entschied sich der 
Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine vorübergehende 
Notlösung. Er erlaubte befristet bis zum 28. Februar 
1998 den Großen Strafkammern an den Landgerichten, 
selbst über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrich- 
tern zu entscheiden. Man ging davon aus, dass nach fünf 
Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur 


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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


(A) Verfügung stünden, was tatsächlich auch der Fall war. 
Doch heute bleibt die Zahl der offenen Stellen in der Jus- 
tiz weit hinter der Zahl bestens geeigneter J uristinnen 
und Juristen zurück. Die Geschäftsgrundlage für die da- 
malige Sonderregelung, nämlich der Mangel an geeigne- 
ten Fachkräften, ist also längst entfallen. 

Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Moti- 
ven bei der Besetzung der Großen Straf- und Jugend- 
kammern weiterhin ein Sonderrecht gelten soll. 

Eine naheliegende Antwort lautet: Kosteneinsparung 
in der Justiz. Durch die Notlösung wurden in jedem 
Bundesland, also auch in den alten Bundesländern, min- 
destens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat 
die Finanzminister der Länder offenbar so sehr gefreut, 
dass dieser Einspareffekt nun festgeschrieben werden 
soll. Damit wird nicht nur die viele Arbeit auf weniger 
Köpfe verteilt, sondern es wird auch leichtfertig mit der 
Qualität des Strafprozesses gespielt. 

Der Einspareffekt hat in der Erwägung der Bundesre- 
gierung, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vor- 
zulegen, wohl eine wichtige Rolle gespielt. Zwar fordert 
der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in 
Schleswig-Holstein für die Großen Jugendkammern eine 
grundsätzliche Besetzung mit drei Berufsrichtern; in ei- 
nem Antrag für die Bundesratssitzung argumentiert er 
mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Ju- 
gendverfahren und fordert einen hohen Standard in 
Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Aber er scheint 
mit dieser Position noch allein zu stehen. 

(B) 

Der Gesetzentwurf selbst wählt eine unpräzise Um- 
schreibung des Umfangs oder der Schwierigkeit des Ver- 
fahrens, die für die Mitwirkung eines dritten Richters 
maßgeblich sein soll. Aber auch die nur orakelhaft vor- 
hersehbare Frist von mindestens zehn Verhandlungsta- 
gen, die zu einer Dreierbesetzung führen soll, eröffnet 
Beurteilungsspielräume, die missbräuchlich genutzt wer- 
den könnten. Darüber hinaus darf nicht hingenommen 
werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher 
Besetzung es tätig sein will. Es besteht die Gefahr der 
Ungleichbehandlung verschiedener Delinquenten vor 
den Großen Straf- und Jugendkammem und somit der 
Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige 
Ungleichbehandlung verstößt auch gegen den Gleich- 
heitsgrundsatz des Grundgesetzes. 

Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der 
unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerich- 
ten. Laut einem Gutachten der Strafrechtskommission 
des Deutschen Richterbundes wurden zum Beispiel im 
Saarland 9 Prozent der Verfahren in der ausnahmsweisen 
Zweierbesetzung verhandelt, in Bayern und Sachsen 
hingegen satte 90 Prozent, und das, obwohl der angeb- 
lich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern 
nicht zu den neuen Bundesländern mit Richtermangel 
und knappen Kassen gehört. Dieses Ungleichgewicht 
vermag der vorgelegte Entwurf nicht zu beseitigen, so- 
dass es besser wäre, die befristete Regelung einfach aus- 
laufen zu lassen und zu dem über 114 Jahre bewährten 
Rechtszustand vor 1993 zurückzukehren. 


Zu dem Gesetzentwurf wurden im Rechtsausschuss (C) 
noch drei Änderungsanträge eingebracht. Die Anträge 
von SPD und Grünen lassen zwar vermuten, dass sie die 
Defizite des Entwurfes erkannt haben, vermögen es aber 
leider nicht, die Mängel gänzlich auszuräumen. 

Ja, und dann gibt es noch einen überraschenden Än- 
derungsantrag der Koalitionsfraktionen. Es ist schon er- 
staunlich, was da „by the way“ geplant ist. Sie möchten 
damit Fehler in längst abgeschlossenen Gesetzgebungs- 
verfahren beheben. Sie haben selbst eingeräumt, dass 
das mit der Besetzung von Straf- und Jugendkammern 
gar nichts zu tun hat. 

Bei dem Zuständigkeitskatalog des Schwurgerichts 
und den Beamtenbeisitzern im Disziplinarsenat beim 
Bundesverwaltungsgericht könnte man noch einmal ein 
Auge zudrücken. Aber der Rechtsschutz bei überlangen 
Gerichtsverfahren hat sachlich nun überhaupt nichts mit 
einem Gesetz zu tun, das die Besetzung von Großen 
Straf- und Jugendkammern regelt. Abgesehen davon 
leistet der Änderungsantrag auch keinen Beitrag zur 
Steigerung der Qualität des Entwurfes, was nach den Ar- 
gumenten der Sachverständigen nötig gewesen wäre. 

Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fis- 
kalischen Interessen der Länder unterzuordnen, und dem 
Versuch, eine neue Materie einfach ohne erste Lesung 
mitzuregeln, versagt meine Fraktion die Unterstützung. 

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine 
rechtspolitische Dauerbaustelle wird heute geschlossen, (pj) 
Was im Jahre 1993 als eine zeitlich befristete Notmaß- 
nahme begann, hat sich als eine „never-ending story“ er- 
wiesen. Um den strafrechtlichen Gerichtsaufbau in den 
damals neuen Bundesländern nach der Wiedervereini- 
gung zu erleichtern, hat der Gesetzgeber ausdrücklich 
die Besetzungsreduktion an Großen Strafkammern von 
drei auf zwei Berufsrichter einschließlich des Vorsitzen- 
den nur für eine Übergangszeit erlaubt. Diese Regelung 
galt auch in den sogenannten alten Bundesländern, weil 
ein nicht unbeachtlicher Personaltransfer von West nach 
Ost auch in den alten Bundesländern für Engpässe in der 
Justiz sorgte. 

Die Justiz und auch die Landesjustizministerien ha- 
ben sich an diese Möglichkeit der Besetzungsreduktion 
schnell gewöhnt und haben sie in die justizpolitischen 
Haushalte eingepreist. So wurden sozusagen hinterrücks 
der Ausnahmecharakter der Vorschrift und ihre zeitliche 
Begrenzung konterkariert. Auch der Bundestag wollte 
sich dem Problem einer Rückkehr zum Zustand von vor 
1993 nicht stellen. Insgesamt 6-mal wurde die Ausnah- 
mevorschrift jeweils zeitlich befristet verlängert. In die- 
sen 18 Jahren ist die Besetzungsreduktion höchst unter- 
schiedlich zum Einsatz gekommen. Im Saarland wurde 
sie in 7 Prozent aller Strafsachen vor Großen Strafkam- 
mern eingesetzt, in Brandenburg in 50 Prozent aller sol- 
chen Fälle und in Bayern in 90 Prozent. So wurde, gegen 
die Intention des Gesetzgebers, aus einer Ausnahmevor- 
schrift eine - regional unterschiedlich - fast ausnahms- 
lose Regel. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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(A) Auch der Bundesgerichtshof konnte dieser Entwick- 
lung nicht Einhalt gebieten, obwohl er in einer Grund- 
satzentscheidung den Vorzug der Dreierbesetzung ein- 
drucksvoll hervorhob und sie mit der Notwendigkeit der 
im Kollegialitätsprinzip gewährleisteten Sicherung der 
notwendigen Qualität der Entscheidungen der Großen 
Strafkammern begründete. An die Adresse der Landes- 
justizverwaltungen heißt es in dieser Entscheidung: 

„Es spricht vieles dafür, bei der Anordnung einer 
Zweierbesetzung ist eine gewisse Zurückhaltung zu 
üben, wenn zweifelhaft ist, ob Umfang oder Schwierig- 
keit der Sache die Bestimmung einer Dreierbesetzung 
notwendig erscheinen lässt. Jedenfalls wäre es sach- 
fremd und damit objektiv willkürlich, eine reduzierte 
Besetzung aus Gründen der Personaleinsparung zu be- 
schließen.“ Die Justizverwaltung hat deshalb sicherzu- 
stellen, dass umfangreiche oder schwierige Verfahren 
mit drei Berufsrichtern durchgeführt werden können. 

Nach 18 Jahren Provisorium scheint eine Rückkehr 
zum alten Rechtszustand, für den nach wie vor sehr viel 
spricht, gegen die Länder nicht mehr durchsetzbar. Es ist 
auch zuzugestehen, dass es durchaus Strafsachen gibt, 
die an einer Großen Strafkammer von zwei Berufsrich- 
tern und zwei Schöffen bewältigt werden können. Auch 
die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen 
zwei Gutachten zu dieser Frage befürworten deshalb 
nicht die ersatzlose Streichung. Aber auch eine schlichte 
Entfristung der bisherigen Lösung ist rechtspolitisch 
nicht gerechtfertigt. Eine Neuregelung muss gewährleis- 
ten, dass die Dreierbesetzung der Großen Strafkammern 
(ß) als Regelbesetzung auch in der Praxis erhalten bleibt und 
dass von möglichen Ausnahmen wirklich nur in wenigen 
Fällen Gebrauch gemacht wird. 

Im Grundsatz geht der von der Bundesregierung vor- 
gelegte Gesetzentwurf deshalb den richtigen Weg. 
Schwurgerichte verhandeln ausnahmslos in einer Dreier- 
besetzung. Das Gleiche gilt für alle Varianten der Siche- 
rungswahrung und der Einweisung in ein psychiatrisches 
Krankenhaus. Auch die Regelung, wonach in Wirt- 
schaftsstrafsachen in der Regel davon auszugehen ist, 
dass die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters notwen- 
dig ist, löst das Verhältnis zwischen Regel und Aus- 
nahme bei der Dreier- bzw. Zweierbesetzung richtig und 
handhabbar. 

Ein Problem ist und bleibt schließlich die Lösung für 
alle anderen Strafsachen, die vor einer Großen Strafkam- 
mer angeklagt werden. Der Vorschlag, insoweit den Ge- 
richten aufzugeben, eine Dreierbesetzung dann zu be- 
schließen, wenn „nach dem Umfang oder der 
Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten 
Richters notwendig erscheint", wobei dies in der Regel 
jedenfalls dann der Fall sein soll, wenn die Hauptver- 
handlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern 
wird. Das ist zu weitgehend, zu wenig konturiert und 
wird sich weiterhin als ein Einfallstor für Tendenzen in 
der Praxis erweisen, das Regel-Ausnahme- Verhältnis 
zwischen der Dreier- und Zweierbesetzung umzudrehen. 
Im Jahre 2010 wurden von insgesamt 10 240 erledigten 
Verfahren vor Großen Strafkammern 9 600 in zehn oder 
weniger Verhandlungstagen beendet. 


Wir haben deshalb - ähnlich wie die SPD - eine Re- 
gelung vorgeschlagen, wonach die Mitwirkung eines 
dritten Richters in der Regel entbehrlich ist, wenn die 
Hauptverhandlung voraussichtlich weniger als fünf Tage 
dauern wird oder ein Geständnis zu erwarten ist. Diese 
Regelung bringt klar zum Ausdruck, von welchem Leit- 
bild der Besetzung Großer Strafkammern der Gesetzge- 
ber ausgeht: regelmäßige Dreierbesetzung bei prognosti- 
zierten fünf Verhandlungstagen oder mehr und 
regelmäßige Zweierbesetzung bei prognostiziert kürze- 
ren Prozessen. 

Leider hat die Koalition in dieser Frage keine Eini- 
gung mit der Opposition gesucht. Wir werden deshalb 
dem Gesetz auch nicht zustimmen können. Wir stimmen 
ihm ferner aber auch nicht zu, weil die Koalition im so- 
genannten Omnibusverfahren eine Änderung des Geset- 
zes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver- 
fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren 
durchzieht - bei einem Gesetz, das erst vor wenigen 
Tagen beschlossen wurde und noch nicht einmal im 
Bundesgesetzblatt veröffentlicht ist. Sogenannte Omni- 
busverfahren bedeuten eine Beschneidung der parlamen- 
tarischen Beratung und sind strukturell intransparent. Sie 
sind nur in Notfällen und bei Behebung offensichtlicher 
Unstimmigkeiten angezeigt. Hier werden aber breit dis- 
kutierte Teile des Gesetzes über den Rechtsschutz bei 
überlangen Gerichtsverfahren quasi unter Ausschluss 
der Öffentlichkeit korrigiert. Da können und werden wir 
nicht mitmachen. 

Dr. Max Stadler, Pari. Staatssekretär bei der Bun- 
desministerin der Justiz: Das 1993 in Kraft getretene 
Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege hat der „Notsi- 
tuation der Justiz in den neuen Ländern“ der damaligen 
Zeit Rechnung tragen wollen. Den Großen Straf- und Ju- 
gendkammern wurde seinerzeit die Möglichkeit eröffnet, 
in geeigneten Fällen in reduzierter Besetzung mit zwei 
statt drei Berufsrichtern zu verhandeln. Diese - immer 
wieder für zwei oder drei Jahre befristete - Regelung 
wurde zuletzt bis zum 31. Dezember 2011 verlängert. 
19 Jahre provisorische Lösungen sind genug. Jetzt ist 
höchste Zeit, eine Dauerlösung zu schaffen, auf die sich 
die Justizverwaltungen und Gerichte einstellen können. 

Die Bundesregierung hält allerdings eine Rückkehr 
zur Rechtslage, wie sie bis 1992 galt, angesichts der ste- 
tig steigenden Belastung der Landgerichte und der ange- 
spannten Personalsituation in den Ländern nicht für 
sinnvoll und - das ist angesichts der überragenden Be- 
deutung, die der Strafrechtspflege in unserer Gesell- 
schaft zukommt, ausschlaggebend - auch rechtsstaatlich 
nicht für geboten. Wir haben - wie in der Begründung 
des letzten Verlängerungsgesetzes bereits angekündigt - 
die Handhabung der Besetzungsreduktion in der Praxis 
evaluiert. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der in 
Auftrag gegebenen Gutachten, aber auch der Rechtspre- 
chung und Literatur sowie der Stellungnahmen der Län- 
der und Verbände hat die Bundesregierung den vorlie- 
genden Entwurf erarbeitet. 

Unserer Meinung nach stellt der Entwurf einen ausge- 
wogenen Mittelweg zwischen den vor und seit 1993 gel- 


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(A) tenden Regelungen dar. Die Möglichkeit, mit zwei statt 
drei Berufsrichtern zu verhandeln, wird zwar grundsätz- 
lich beibehalten. Sind aber besonders schwerwiegende 
Rechtsfolgen wie die Anordnung der Unterbringung in 
der Sicherungsverwahrung, deren Vorbehalt oder die 
Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen 
Krankenhaus zu erwarten, ist - wie bisher schon in 
Schwurgerichtssachen - stets in Dreierbesetzung zu ver- 
handeln. Darüber hinaus werden die Begriffe „Umfang“ 
und „Schwierigkeit der Sache“, die bisher einen sehr 
weiten Beurteilungsspielraum der Strafkammern zulie- 
ßen, durch Regelbeispiele näher konturiert. Es handelt 
sich dabei um Wirtschaftsstrafverfahren und Hauptver- 
handlungen, die voraussichtlich länger als zehn Tage 
dauern. Diese Regelbeispielstechnik erlaubt es zum Bei- 
spiel, auch künftig bei einfach gelagerten Wirtschafts- 
strafsachen eine Verhandlung in Zweierbesetzung zu be- 
schließen. Bei den Regelungen zur Besetzung der 
Großen Jugendkammer haben wir zusätzlich jugend- 
strafrechtlichen Besonderheiten Rechnung getragen. 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Verhandlun- 
gen in schwierigen Fällen und bei schwerwiegenden 
Rechtsfolgen künftig immer von drei Berufsrichtern ge- 
führt werden. Bei den übrigen Verfahren gibt es eine fle- 
xible Lösung, die zwar die Dreierbesetzung bevorzugt, 
aber bei einfach gelagerten Fällen einen ressourcenscho- 
nenden Einsatz erlaubt. 

Neben der Besetzung der Großen Straf- und Jugend- 
kammem in der Hauptverhandlung sind weitere Ände- 
rungen vorgesehen. Auf zwei Punkte möchte ich gern 

(B) kurz eingehen: zum einen auf die Erweiterung des Zu- 
ständigkeitskatalogs des Schwurgerichts, zum anderen 
auf drei nachträgliche Änderungen der Vorschriften, die 
durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen 
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsver- 
fahren eingeführt worden sind. 

Der Zuständigkeitskatalog des Schwurgerichts erfasst 
seiner Konzeption nach neben den Tötungsdelikten alle 
Verbrechen mit der Erfolgsqualifikation „Todesfolge“. 
Der Katalog war bislang unvollständig. Künftig werden 
alle Straftatbestände des Kern- und des Nebenstraf- 
rechts, die in die genannte Kategorie fallen, zur Zustän- 
digkeit des Schwurgerichts gehören. 

Darüber hinaus wird im Hinblick auf das Gesetz über 
den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und 
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Protokollerklä- 
rung der Bundesregierung zu Tagesordnungspunkt 8 der 
888. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2011 Rech- 
nung getragen. 

Durch Änderungen beim Kreis der Entschädigungsbe- 
rechtigten im Strafverfahren und bei der Regelung der 
örtlichen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte für Ent- 
schädigungsverfahren werden Wünsche des Bundesrates 
aufgegriffen. Privatkläger sollen - so die geänderte Rege- 
lung - von der Entschädigungsregelung ausgenommen 
sein, und die Zuständigkeit soll aus Gründen der Dekon- 
zentration jeweils bei dem Oberlandesgericht liegen, in 
dessen Bezirk das streitbefangene Verfahren stattgefun- 
den hat. 


Entsprechend dem Vorschlag des Bundesrates wird (C) 
außerdem die Regelung zum Ausschluss von Präsiden- 
ten und Vizepräsidenten bei der Mitwirkung in Entschä- 
digungsverfahren gestrichen. 


Anlage 4 

Zu Protokoll gegebene Reden 

zur Beratung des Antrags: Nachhaltige Ent- 
wicklung in Subsahara-Afrika durch die Stär- 
kung der Menschenrechte fördern (Tagesord- 
nungspunkt 19) 

Frank Heinrich (CDU/CSU): Wenn wir in diesen Ta- 
gen eine Tageszeitung aufschlagen oder eine Website 
wie Spiegel Online oder Zeit Online besuchen, dann le- 
sen wir in großen Lettern: Euro, Griechenland, 
Berlusconi, Mindestlohn, Steuersenkung usw. Afrika ist 
im Moment kaum eine Schlagzeile wert. Wir finden viel- 
leicht eine Notiz zu den Umwälzungen im Norden Afri- 
kas. Doch schon Libyen ist nach dem Tod Muammar 
Gaddafis kaum noch ein Thema in den Medien. 

Das Afrika unterhalb der Sahara im Süden und Osten 
des Kontinents dagegen ist völlig vergessen, und das, ob- 
wohl sich vor unseren - geschlossenen! - Augen eine der 
größten Hungerkatastrophen der Neuzeit abspielt. Jeder 
zweite Mensch in Afrika lebt in absoluter Armut, also von 
weniger als 1 Euro pro Tag. Nach Angaben der DSW kom- 
men auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter 84 Men- 
schen, die auf Unterstützung angewiesen sind. 30 Prozent (D) 
der Menschen in Subsahara- Afrika hungern. Etliche Men- 
schen leiden an Aids, Malaria oder Typhus, ln einzelnen 
Staaten des südlichen Afrika ist mehr als jeder fünfte Er- 
wachsene mit dem HI- Virus infiziert, so das Afrika-Kon- 
zept der Bundesregierung. 

Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Innerstaatli- 
che Konflikte wären zu nennen, ethnische Spannungen 
und fragile Staatlichkeit, die Gefahr von zerfallenden 
Staaten, wiederholte Völker- und Menschenrechtsverlet- 
zungen sowie mangelnde Rechtsstaatlichkeit, willkürli- 
che Rechts- und Justizsysteme, organisierte Kriminalität 
- Frauenhandel -, schlecht funktionierende Verwaltun- 
gen, die von Korruption zersetzt sind. Eine Presse- und 
Meinungsfreiheit wird oftmals nur eingeschränkt ge- 
währleistet. Von Landflucht ist zu sprechen und der da- 
raus resultierenden rasanten Urbanisierung sowie von 
hohen Geburtenraten ohne ausreichende wirtschaftliche 
und infrastrukturelle Versorgung. 

Afrika ist ein weites Feld. Daher ist die heutige De- 
batte - und mögen die Reden auch „nur“ zu Protokoll 
gehen - mehr als eine Randnotiz im Deutschen Bundes- 
tag. Wir brauchen solche Debatten, um die humanitäre 
und menschenrechtliche Lage im Afrika der Subsahara 
zu betonen und zurück ins Bewusstsein der Öffentlich- 
keit zu bringen. Politik muss Öffentlichkeit schaffen. 

Das ist eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Wir tun dies 
heute. Darum gilt mein Dank den Kollegen von der 
SPD-Fraktion, die mit ihrem Antrag diese Debatte er- 
möglicht haben. 



Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


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Lassen Sie mich zunächst etwas zur Begrifflichkeit 
sagen. Der Begriff Subsahara-Afrika ist unglücklich ge- 
wählt. Er mag zwar geografisch sinnvoll sein, geht aber 
aus menschenrechtlicher Sicht am Ziel vorbei. Auch Ihr 
Antrag verkennt ja die heterogene Situation keineswegs. 
Das Afrika-Konzept der Bundesregierung betont diese 
ausdrücklich. 

Die „Löwenstaaten“ im westlichen Afrika weisen ne- 
ben ökonomischer Stärke viele Beispiele für Good Go- 
vemance und menschenrechtliche Fortschritte auf. Der 
Ansatz der Regierungskoalition, der die Menschenrechte 
zu einer Kernaufgabe und zu einem Querschnittsthema 
der Außen- und Wirtschaftspolitik macht, wird hier be- 
stätigt. Entwicklungszusammenarbeit ist mehr als Ent- 
wicklungshilfe; sie ist Wirtschaftszusammenarbeit und 
setzt auf Themen mit nachhaltiger Bedeutung. 

So stehen im Mittelpunkt der deutschen Unterstützung 
eben nicht nur einzelne Projekte und Länder, sondern 
Bündnisse und Institutionen wie die Afrikanische Union, 
AU, das panafrikanische Parlament, PAP, der Afrikani- 
sche Menschenrechtsgerichtshof und die Afrikanische 
Konferenz der Dezentralisierungsminister, AMCOD. Die 
Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen, REC, und 
Fachnetzwerken ergänzt diesen Ansatz. Parallel beteiligt 
sich Deutschland an politischen Prozessen, die Afrika als 
geeinten Akteur mit afrikanischen Positionen im Außen- 
verhältnis wahmehmen und stärken. Beispiele sind der 
G-8/G-20-Kontext sowie die Gemeinsame Afrika-EU- 
Strategie, Joint Africa-EU Strategy - JAES. 

Ein wichtiges Kriterium für die deutsche Entwick- 
lungszusammenarbeit ist es, Schwerpunkte zu setzen. 
Daher hat das BMZ ein Sektorkonzept entwickelt, das in 
intensiver Zusammenarbeit mit der GIZ betrieben wird. 
Ganz vorne steht dabei das Menschenrecht auf Wasser 
und Sanitärversorgung. 

Im Afrika-Konzept der Bundesregierung steht Fol- 
gendes: 40 Prozent der Menschen haben keine ausrei- 
chende Versorgung mit Trinkwasser und 70 Prozent kei- 
nen Zugang zu Sanitäreinrichtungen in dieser Region. 
Deutschland ist der größte bilaterale Entwicklungspart- 
ner für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in 
Afrika. 

Seit 2003 hat die Bundesregierung durchschnittlich 
90 bis 100 Millionen Euro pro Jahr für den Wassersektor 
in Afrika zur Verfügung gestellt. Davon fielen 70 Millio- 
nen Euro auf die Trinkwasser- und Sanitärversorgung. In 
Ländern wie Ägypten, Benin, Burkina Faso, Burundi, 
der Demokratischen Republik Kongo, Mali, Marokko, 
Sambia, Südsudan, Tansania, Tunesien oder Uganda 
sind Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 
Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenar- 
beit. 

Es wurden beachtliche Erfolge erzielt: In Afrika süd- 
lich der Sahara stieg die Zahl der Menschen, die eine 
bessere Trinkwasserquelle nutzen, von 252 auf 492 Mil- 
lionen zwischen 1990 und 2008 und damit auf fast das 
Doppelte, so im Millennium-Entwicklungsziele-Bericht 
2011 der Vereinten Nationen. 


Beispielhaft ist die Entwicklung in Kenia. So heißt 
auf der Webseite der GIZ: „Die deutsche Unterstützung 
für den Wassersektor Kenias durch die GIZ durchläuft 
nunmehr die vierte Phase, die im Januar 2011 begonnen 
hat und drei Jahre dauern wird. Sie umfasst fünf Kompo- 
nenten: Reform des Wassersektors, MWI, Regulierungs- 
behörde, WASREB, Armutsfonds - Water Services Trust 
Fund, WSTF, Wasserbewirtschaftung, WRMA, 
WRUAS, Ausweitung der Einzelhausentsorgung, 
WSTF.“ 

Der vorliegende Antrag übersieht die Wasserproble- 
matik nahezu gänzlich. Hier gehen die realen Erforder- 
nisse, aber auch die reale Politik über den Antrag hinaus. 

Zuzustimmen ist der Forderung, die in den Millen- 
niumentwicklungszielen versprochenen Mittel von 
0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Entwick- 
lungszusammenarbeit bis 2015 zur Verfügung zu stellen. 
Wir dürfen nicht nachlassen, dieses Ziel anzustreben. 
Dafür habe ich mich in meinem bisherigen politischen 
Wirken starkgemacht und werde es weiterhin tun. Mein 
Engagement für die Micha-Initiative sei dabei beispiel- 
haft erwähnt. Dass wir hier eine parteiübergreifende 
Gruppe von 371 Bundestagsabgeordneten sind, die den 
„Entwicklungspolitischen Konsens“ zur Einhaltung des 
Millenniumsversprechens unterschrieben haben, ist hoff- 
nungsvoll. Bleiben wir dran. Zugleich dürfen wir unser 
Engagement nicht auf eine Prozentzahl fixieren. Der 
menschenrechtliche Ansatz - das betone ich erneut - 
muss sich durch alle Politikfelder ziehen. 

Und machen wir uns nichts vor: Jede optimistische 
Zusage steht unter dem Finanzierungsvorbehalt. Hilfe 
auf Pump wird nicht funktionieren. Wir brauchen ein 
Sparkonzept, in Deutschland, in der EU und weltweit. 
Das wird in absoluten Summen auch die Gelder der Ent- 
wicklungszusammenarbeit betreffen. Darum müssen wir 
umso gewissenhafter den Einsatz und die Effektivität 
von Mitteln in den Ländern kontrollieren. 

Und wir müssen Einfluss nehmen auf internationale 
Märkte und Spekulationsgewinne, vor allem im Bereich 
der Lebensmittel. Hier möchte ich das engagierte Auf- 
treten und die internationale Führungsrolle von Angela 
Merkel, zuletzt auf dem G-20-Gipfel in Cannes, aus- 
drücklich loben. 

Wir lehnen den Antrag der SPD deswegen in der vor- 
liegenden Form ab, weil er unserer Meinung nach zum 
einen zu wenig den bisherigen Einsatz der Bundesregie- 
rung würdigt und zum anderen in einigen existenziellen 
Bereichen nicht weit genug geht. 

Lassen Sie mich persönlich schließen: Wir stehen 
kurz vor dem Beginn der Adventszeit - Menschen öff- 
nen ihre Herzen. Lassen Sie uns persönlich dabei voran- 
gehen, Afrika wieder zum Thema zu machen - öffent- 
lich, politisch, aber eben auch persönlich. Vielleicht mit 
einer Spende für die Christoffel-Blindenmission? Oder 
einem Patenkind bei World Vision? 

Es gilt, das eine zu tun - und das andere nicht zu las- 
sen. 


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Deutscher Bundestag - 17. Wahlperiode - 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. November 2011 


(A) Klaus Riegert (CDU/CSU): Die Einhaltung der 
Menschenrechte hat für die Koalitionsfraktionen und die 
Bundesregierung einen äußerst hohen Stellenwert. Men- 
schenrechte sind Leitprinzip deutscher Entwicklungs- 
politik. Der Antrag der SPD-Fraktion beschreibt nun 
eine Vielzahl von Politikbereichen, in denen die Bundes- 
regierung handelt und neue entwicklungspolitische Ak- 
zente setzt. 

Mit unserem umfassenden Menschenrechtskonzept 
machen wir Achtung, Schutz und Gewährleistung der 
Menschenrechte zur Messlatte deutscher Entwicklungs- 
politik. Das Konzept definiert konkret, dass Menschen- 
rechte für die Entwicklungspolitik das Dach bilden, un- 
ter dem die Rechte von Frauen, jungen Menschen, 
Menschen mit Behinderungen, indigenen Völkern und 
anderen diskriminierten Personengruppen in der Ent- 
wicklungszusammenarbeit strategisch gefördert wer- 
den. Wir achten querschnittlich darauf, Männer und 
Frauen gleichberechtigt am Entwicklungsprozess zu be- 
teiligen und langfristig eine Verbesserung der Stellung 
von Frauen und ihre Gleichstellung zu erreichen. 

Nach Schätzungen leben weltweit etwa 690 Millionen 
Menschen mit Behinderungen, 80 Prozent von ihnen in 
Entwicklungsländern. Zählt man ihre Familienangehöri- 
gen hinzu, sind mehr als 2 Milliarden Menschen - also 
ein Drittel der Weltbevölkerung - direkt oder indirekt 
von Behinderung betroffen. Menschen mit Behinderun- 
gen werden weder in der Millenniumserklärung noch in 
den Millenniumsentwicklungszielen, MDG, ausdrück- 
lich erwähnt. 

(B) Deshalb ist es richtig, dass der Antrag die Einhaltung 
der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen 
anmahnt. Sie werden in den Entwicklungsländern häufig 
diskriminiert und ausgegrenzt. Unsere Entwicklungs- 
politik orientiert sich an diesem Menschenrechtsansatz: 
Eine inklusive Entwicklungszusammenarbeit fördert 
Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Be- 
hinderung. Wir betrachten sie als aktive Partner bei der 
Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur 
Programme für Menschen mit Behinderungen. Wir stre- 
ben an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Menschen 
mit Behinderungen zugänglich sein müssen. Unsere Bot- 
schaft lautet: Entwicklung inklusiv gestalten! 

Neu ist auch, dass die Durchführungsorganisationen 
in Zukunft Vorhaben auf menschenrechtliche Auswir- 
kungen und Risiken prüfen müssen. Weiter verbessern 
wir menschenrechtliches Monitoring und Evaluierun- 
gen. 

Grundsätzlich arbeiten wir darauf hin, die Kohärenz 
der Politik für eine global nachhaltige Politik zu erhö- 
hen. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich darauf verstän- 
digt, Politikkohärenz für Entwicklung - Policy Cohe- 
rence for Development - zu fördern und sich in einem 
Monitoringprozess besonders auf die Politikbereiche 
Handel und Finanzen, Ernährungssicherheit, Klimawan- 
del, Migration und Sicherheit zu konzentrieren. 

Wesentliches Element unserer ressortiibergreifenden 
Strategiepapiere für die Zusammenarbeit zum Beispiel 
mit Lateinamerika, der Karibik und insbesondere Afrika 


sind Menschenrechtsfragen. Unser Afrika-Konzept trägt (C) 
den Potenzialen ebenso wie den Herausforderungen auf 
unserem Nachbarkontinent Rechnung. Es dient als 
Grundlage für spezifischere Länder- und thematische 
Strategien, die der großen Vielfältigkeit des afrikani- 
schen Kontinents gerecht werden. 

Wir wollen eine Partnerschaft auf Augenhöhe, jen- 
seits von überholten Geber-Nehmer-Strukturen. Wir 
wollen afrikanische Eigenanstrengungen und Eigenver- 
antwortung fördern. Und wir wollen gemeinsame Ant- 
worten Deutschlands und Afrikas auf globale, regionale 
und nationale Herausforderungen auch in der Subsahara 
finden. 

Die Aufforderung im SPD-Antrag, vorrangig die 
menschenrechtlichen Ziele unseres Afrika-Konzeptes zu 
verfolgen, kann ich deshalb nur als Werbung für unser 
Afrika-Konzept verstehen. 

Dies gilt auch für die im Antrag angesprochene Kri- 
senprävention. Die Staaten Afrikas haben mit der 
Afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur Ver- 
antwortung für den Frieden auf ihrem Kontinent über- 
nommen. Deutschland unterstützt sie dabei, auch im 
Rahmen der Vereinten Nationen. Ein besonderer 
Schwerpunkt ist die Konfliktprävention. 

Dort, wo afrikanische Kapazitäten fehlen, oder bei 
schwerwiegenden Krisen sind wir, ist die Bundesregie- 
rung grundsätzlich bereit, sich im Rahmen des Völker- 
rechts auch unmittelbar zu engagieren. An erster Stelle 
steht jedoch die Stärkung afrikanischer Eigenverantwor- 

tun & (D) 

Menschenrechte dürfen niemals zur Disposition ste- 
hen. Zukunftsfähige Entwicklung braucht Menschen- 
rechte - bürgerliche und politische, wirtschaftliche, so- 
ziale und kulturelle sowie Frauen- und Kinderrechte. 

Aber: Ohne Rechtssicherheit, Schutz der Menschen- und 
Eigentumsrechte gelingt keine Entwicklung. Ein demo- 
kratisch verfasstes, rechtsstaatliches Gemeinwesen und 
gute Regierungsführung bilden langfristig die beste Ga- 
rantie für Stabilität und nachhaltige Entwicklung. 

Der „BMZ-Kriterienkatalog für die Bewertung der 
Entwicklungsorientierung von Partnerländern“ beurteilt 
jährlich die Govemance- und Menschenrechtssituation in 
den Partnerländern. Eines der insgesamt fünf Kriterien 
lautet „Schutz der Menschenrechte und Menschenrechts- 
situation“. Die Bewertung erfolgt auf der Grundlage von 
international anerkannten Indizes und Assessments inter- 
nationaler Organisationen bzw. Institutionen, den Bot- 
schaftsberichten, den Empfehlungen internationaler 
Menschenrechtsorgane sowie Studien und Berichten von 
Menschenrechtsorganisationen zur Menschenrechtslage. 

Die Förderung regionaler und subregionaler Gerichtshöfe 
kann ein konkreter deutscher Beitrag zur EU-Afrika- 
Strategie sein. 

Wichtig ist auch: Die Menschen in den Partnerländern 
müssen befähigt werden, Menschenrechte einzufordern 
und die Entwicklung ihres Landes selbst in die Hand zu 
nehmen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen in 
den Partnerländern und in Deutschland spielen hierbei 
eine zentrale Rolle. Daher haben wir bei der bilateralen 



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(A) Entwicklungszusammenarbeit zivilgesellschaftlicher und 
wirtschaftlicher Gruppen und Institutionen die Ausga- 
benansätze deutlich gesteigert. Deutschland unterstützt 
grundsätzlich weltweit Menschenrechtsverteidiger, und 
in deutschen Botschaften haben wir meist einen An- 
sprechpartner für Menschenrechtsverteidiger. 

Weiter wollen wir den Auf- und Ausbau demokratischer 
Strukturen im subsaharischen Afrika durch zahlreiche In- 
strumente verstärkt unterstützen und demokratiefördernde, 
entwicklungs-, migrations- und wirtschaftspolitische An- 
sätze verknüpfen. Als eine der führenden Handelsnatio- 
nen haben wir ein natürliches Interesse an freiem Welt- 
handel und zunehmender Integration der afrikanischen 
Märkte untereinander und in die Weltwirtschaft. 

Gleichzeitig sind Auslandsinvestitionen im Interesse 
afrikanischer Länder. Sie schaffen Arbeitsplätze, sorgen 
für Bildung und Ausbildung und können zu nachhalti- 
gem Wirtschaftswachstum beitragen. Deutsche Entwick- 
lungspolitik fördert wirtschaftliches Engagement in den 
Partnerländern, das die Einhaltung von Menschenrechts- 
standards sicherstellt und Chancen für alle eröffnet. Nur 
so kann langfristige Armutsreduzierung gelingen. Aller- 
dings: Die Hauptverantwortung für die Einhaltung der 
Menschenrechte tragen die Staaten und ihre Organe. 

Darüber hinaus sind alle Einzelpersonen und alle pri- 
vaten Akteure der Gesellschaft aufgefordert, Menschen- 
rechte zu respektieren. Dies schließt Unternehmen ein. 
Unternehmen tragen gesellschaftliche Verantwortung. 
Wir unterstützen verantwortungsvolles unternehmeri- 
sches Handeln, CSR, auf verschiedenen Ebenen und auf 

(B) vielfältige Art und Weise. 

Handlungsleitend ist für uns das international verein- 
barte Konzept von VN-Sonderberichterstatter John Ruggie 
zur menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung. 
Es enthält unter anderem die Verpflichtung der National- 
staaten, vor Menschenrechtsverletzungen durch Dritte 
zu schützen - protect -, die Verantwortung von Unter- 
nehmen, Menschenrechte zu achten - respect -, men- 
schenrechtliche Auswirkungen ihrer Tätigkeit zu be- 
obachten - due diligence - sowie wirksame gerichtliche 
und, für den Fall von Verletzungen, außergerichtliche 
Beschwerdemechanismen einzuführen und Betroffene 
zu entschädigen - remedy -. Die Entwicklungspolitik 
der Bundesregierung wird die Weiterentwicklung des in- 
ternationalen Rechtsrahmens für verantwortungsvolles 
unternehmerisches Handeln und darüber hinaus Stan- 
dards, Leitlinien und freiwillige Initiativen von Unter- 
nehmen und Wirtschaftssektoren - Corporate Social 
Responsibility - fördern. 

Schon diese wenigen herausgegriffenen Politikfelder 
zeigen: Wo die Sozialdemokraten mit ihrem Antrag hin 
wollen, da ist die Regierungskoalition schon angekom- 
men. 

Die Beratungen in den Ausschüssen werden zeigen, 
dass Minister Dirk Niebel auch in den weiteren Politik- 
feldern Ihres Antrages wegweisende Spuren hinterlassen 
hat. 

Ich habe den Eindruck - Sie wissen dass auch -: „Die 
politische, menschenrechtliche und wirtschaftliche Lage 


in Subsahara-Afrika hat sich insgesamt verbessert“, (C) 
schreiben Sie. Ja, wenn die SPD dies selbst feststellt, 
warum formulieren Sie diesen Antrag? Wir alle wissen, 
dass in dieser Region nach wie vor Missstände existie- 
ren. Wir wissen aber auch: Die Bundesregierung unter- 
nimmt alles Erdenkliche, um die Lage in Subsahara- 
Afrika zu verbessern! 

Christoph Strässer (SPD): Wenn es um Afrika geht 
- und das merkt man immer wieder in vielen Ge- 
sprächen -, dann haben die meisten Menschen be- 
stimmte Bilder im Kopf, Bilder, gegen die es schwer ist, 
anzukämpfen, weil sie sich über Jahrzehnte festgesetzt 
haben. So wird Afrika in der westlichen Welt oft als ein 
Kontinent der Katastrophen wahrgenommen und darge- 
stellt, als ein Gebilde, welches sich vor allem „auszeich- 
net“ durch Hungerkatastrophen, durch Bürgerkriege, 
Korruption und schlechte Regierungsführung, durch Na- 
turkatastrophen, die unendliches Leiden und Sterben von 
Menschen und vor allem von vielen Kindern hervorru- 
fen. Beispielhaft dafür steht momentan die aktuelle Hun- 
gerkatastrophe am Horn von Afrika. Das sind die Ereig- 
nisse, die unser Bild von Afrika bestimmen. Es stimmt: 

Alle diese schrecklichen Entwicklungen sind Teil Afri- 
kas. Es gilt, sie mit aller Kraft zu bekämpfen. Es stimmt 
aber auch, dass diese Umstände nur ein Teil Afrikas 
sind, und ein solches einseitiges Bild niemandem weiter- 
hilft. Die Komplexität und das Zusammenwirken der 
vielen verschiedenen afrikanischen kulturellen, politi- 
schen und wirtschaftlichen Traditionen bedürfen viel- 
mehr eines tiefgreifenden und umfassenden Ansatzes. 

(D) 

Die SPD-B undestagsfraktion tritt diesem einseitigen 
realitätsfemen Blick mit einem Antrag entgegen, der ei- 
nen ganzheitlichen Ansatz aufweist, der den Menschen in 
den Mittelpunkt unseres Handelns setzt und die zum Teil 
großen regionalen sowie staatlichen Entwicklungsunter- 
schiede berücksichtigt, ln diesem Sinne sind demokrati- 
sche Staatsführung und die Einhaltung der Menschen- 
rechte der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung 
Afrikas. Diese Zielrichtung haben wir deshalb in unse- 
rem Afrika-Konzept verfolgt und ausformuliert. Ressour- 
cenreichtum und wirtschaftliches Wachstum allein kön- 
nen eine solche Entwicklung nicht bewirken. Vielmehr 
geht es darum, politische Rahmenbedingungen zu schaf- 
fen, mit denen sich für eine Mehrheit der Bevölkerung 
die Lebensbedingungen verbessern und die Armut ver- 
ringern lassen. Armut ist nämlich nicht nur eine Folge 
von ungünstigen ökonomischen Rahmenbedingungen, 
sondern auch das Ergebnis mangelnder Partizipation und 
der Verletzung der Menschenrechte. Deshalb ist es wich- 
tig, die menschenrechtlichen Prinzipien wie Empower- 
ment und Partizipation, Nichtdiskriminierung und Chan- 
cengleichheit, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu 
fördern. Sie beschreiben die Handlungsweisen, wie die 
Menschenrechte umgesetzt werden sollen, und zugleich 
die Ziele, die durch die Verwirklichung von Menschen- 
rechten erreicht werden sollen. Die Anwendung men- 
schenrechtlicher Prinzipien und die Stärkung der Men- 
schenrechte können wesentlich zu Armutsbekämpfung 
und einer nachhaltigen Entwicklung in Afrika beitragen. 

Es gilt deshalb, reformorientierte Regierungen zu unter- 


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(A) stützen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu stär- 
ken. Gute Regierungsführung und die Achtung der Men- 
schenrechte gehören zusammen. Wir unterstützen daher 
zum Beispiel konsequent die Umsetzung der UN-Resolu- 
tion 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“, die eine 
wichtige Rolle von Frauen bei der Prävention und Lö- 
sung von Konflikten und ihren Schutz vor - sexueller - 
Gewalt fordert. 

Ein relativ neues Organ der AU ist der auch mit deut- 
schen Mitteln geförderte Afrikanische Gerichtshof für 
Menschenrechte. Wir erwarten, dass er zumindest länger- 
fristig einen wirksamen Beitrag gegen Straflosigkeit leis- 
tet. Es ist kein Zufall, dass die menschenrechtspolitischen 
Konzepte der Responsibility to Protect aus dem afrikani- 
schen Kontext entwickelt worden sind und dass die afri- 
kanischen Staaten die größte regionale Staatengruppe 
stellt, die das römische Statut des internationalen Straf- 
rechtsgerichtshofs ratifiziert haben. In reformorientierten 
Staaten unterstützen wir bilateral und multilateral den 
Aufbau und die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen. 
Die meisten afrikanischen Staaten haben die wichtigsten 
internationalen Menschenrechtsabkommen ratifiziert und 
sind zu deren Einhaltung verpflichtet. Richtschnur unse- 
res politischen Handelns ist daher die Forderung nach 
konsequenter Umsetzung der politischen und bürgerli- 
chen sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen 
Menschenrechte. Insofern ist es durchaus bemerkens- 
wert, dass im Rahmen der NEPAD-Initiative das Konzept 
des African-Peer-Review-Prozesses entwickelt wurde, in 
dem sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, die Ein- 
haltung menschenrechtlicher Standards in ihren eigenen 

(B) Ländern zu überprüfen und die Ergebnisse öffentlich zu 
machen, gewissermaßen eine Patenschaft für den UPR- 
Prozess, wie er im VN-Menschenrechtsrat praktiziert 
wird. 

Nun gibt es seit Juni dieses Jahres auch das Afrika- 
Konzept der Bundesregierung. Dass die Bundesregie- 
rung und das AA damit zumindest den Willen bekunden, 
Afrika nicht von der politischen Agenda verschwinden 
zu lassen, ist erst einmal lobenswert. Leider ist der An- 
satz des Konzeptes aber von einem sehr einseitigen und 
realitätsfernen Weltbild geprägt. Die Zielrichtung des 
ganzen Konzeptes lässt sich dementsprechend auf fol- 
gende Formel bringen: Die Wirtschaft wird es richten, 
gut ist, was der deutschen Wirtschaft nutzt. 

Dem Konzept fehlt es deshalb an einer klaren Zielper- 
spektive und vor allem auch an einem klaren Bekenntnis 
zum deutschen und europäischen Anteil zur Erreichung 
der Millenniumsentwicklungsziele. Wirtschaftsinteres- 
sen stehen klar im Vordergrund. Das Bekenntnis zum 
Freihandel und die Öffnung der afrikanischen Märkte für 
deutsche Unternehmen führen aber nicht zwangsläufig 
zu mehr Wohlstand beim Großteil der afrikanischen Be- 
völkerung. Die hohen Wachstumsraten der nationalen 
Ökonomien verstellen den Blick auf die realen Entwick- 
lungen in vielen Teilen des Kontinents. Das Konzept 
zeigt einen geschönten Blick auf Afrika und vernachläs- 
sigt insbesondere die ländliche Entwicklung. 80 Prozent 
der - armen - Menschen leben nämlich in ländlichen 
Gebieten und nicht in Wirtschaftszentren. Bereits offen 
zu Tage tretende Zielkonflikte, zum Beispiel im Bereich 


der Energie und Rohstoffversorgung, werden nicht aus- 
reichend benannt. Das gilt auch für die Interessen der in 
den Rohstoffindustrien arbeitenden Menschen, das 
Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, die 
Rolle von Gewerkschaften beim Kampf um lebenswerte 
Arbeitsbedingungen 

Leider stehen insofern in diesem Konzept nicht die 
Überwindung von Armut und Hunger im Vordergrund, 
sondern deutsche Wirtschaftsinteressen, wobei das eine 
das andere nicht ausschließen muss. Das kritisiert zu- 
recht auch der Verband Entwicklungspolitik deutscher 
Nichtregierungsorganisationen, VENRO. Noch dazu be- 
klagen Nichtregierungsorganisationen unzureichend ein- 
bezogen worden zu sein. 

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist es 
nicht verwerflich, sondern kann sogar sinnvoll und nütz- 
lich sein, dass deutsche und europäische Unternehmen in 
Afrika investieren und hierdurch auch Gewinne erzielen. 
Jedoch darf das Handeln nicht einseitig nur auf Gewinn- 
erzielung ausgerichtet sein, sondern muss sich immer 
auch an menschenrechtlichen und entwicklungspolitisch 
sinnvollen Standards messen lassen. Viele Unternehmen 
sind dabei schon weiter als die Bundesregierung, sie ha- 
ben nämlich erkannt, dass die Einhaltung menschen- 
rechtlicher, sozialer und ökologischer Standards nicht 
nur einen Kostenfaktor in der betriebswirtschaftlichen 
Bilanz darstellen, sondern einen positiven Standortfaktor 
im Wettbewerb bedeuten. Es ist nämlich offenkundig, 
dass einseitig ausgerichtete ökomische Entwicklungs- 
ziele nicht grundsätzlich den Menschen in ihren konkre- 
ten Lebensbedürfnissen weiterhelfen. Denn sie stellen 
den Menschen nicht in den Mittelpunkt, was gerade in 
Afrika so dringend notwendig wäre. 

Deshalb begrüße ich ausdrücklich das Motto des 
Konzeptes der Bundesregierung: „Partnerschaft auf Au- 
genhöhe“ und das Ziel, Afrika-Politik als ressortüber- 
greifende kohärente Aufgabe zu verstehen. Denn sozial- 
demokratische Menschenrechts- und Entwicklungs- 
politik orientiert sich stets an den Bedürfnissen der Men- 
schen vor Ort. Menschenrechtspolitik ist im Verständnis 
der SPD insofern schon lange eine Querschnittsaufgabe. 
Wenn zumindest dies eine Erkenntnis ist, die die Bun- 
desregierung aus ihrer Konzepterarbeitung gewonnen 
hat, so ist dies positiv zu vermerken; bei der Umsetzung 
eines solchen Konzepts können Sie daher auf unsere Un- 
terstützung rechnen. Gegenwärtig können wir aber nicht 
erkennen, dass dieses Konzept von Ihnen ernst genom- 
men wird. Deshalb bitten wir um Unterstützung für un- 
seren Antrag. 

Marina Schuster (FDP): Menschenrechte sind das 
Fundament unserer Außen- und Entwicklungszusam- 
menarbeit. 

Und es ist in der Tat richtig, was der Titel des Antrags 
der SPD-Fraktion fordert. Menschenrechte durchzuset- 
zen ist eine Voraussetzung für die nachhaltige Entwick- 
lung. Viele Punkte Ihres Antrags geben im Feststellungs- 
teil die Beschreibung der Lage in Subsahara-Afrika 
richtig wider. An manchen Stellen sind die Ausführun- 
gen allerdings schlichtweg nicht richtig - gerade was das 



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(A) Engagement der Bundesregierung betrifft. Wir werden 
daher Ihrem Antrag nicht zustimmen können. Aber las- 
sen Sie mich das im Folgenden darlegen: 

Der Zusammenhang zwischen nachhaltiger Entwick- 
lung und Einhaltung von Menschenrechten wurde von 
der Bundesregierung längst erkannt. Menschenrechte 
stellen in den Strategien und in der Arbeit der Bundes- 
regierung einen zentralen, kohärenten Lösungsansatz 
dar, um die Situation unter anderem in Subsahara-Afrika 
effektiv zu verbessern. 

Das möchte ich gerne näher ausführen: Im Mai diesen 
Jahres hat das Bundesministeriums für wirtschaftliche 
Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, das erste ver- 
bindliche Menschenrechtskonzept vorgestellt. Die Strate- 
gie des BMZ hat einen dualen Ansatz: 1 . Die Förderung 
von spezifischen Menschenrechtsvorhaben und 2. die 
Querschnittsverankerung des Menschenrechtsansatzes in 
allen Sektoren und Schwerpunkten der Zusammenarbeit. 

Das Menschenrechtskonzept enthält verbindliche, 
entscheidungsrelevante Vorgaben für die Gestaltung der 
deutschen Entwicklungspolitik - und die Einhaltung des 
Konzepts wird regelmäßig überprüft werden. Damit ha- 
ben wir transparente Ziele, klare Handlungsvorgaben 
und ein systematisches Monitoring, wie sie zuvor in der 
deutschen Entwicklungszusammenarbeit noch nicht be- 
standen haben! 

Das operative Handeln, das dadurch festgelegt wird, 
geht damit meiner Ansicht nach sogar weiter, als es in 
Ihrem Antrag gefordert wird! Es richtet sich am Drei- 

(B) klang folgender Schritte aus: erstens staatliche Pflichten- 
träger befähigen, ihren menschenrechtlichen Pflichten 
nachzukommen. Zweitens bedürftige Zielgruppen in die 
Lage zu versetzen, ihre Rechte effektiv einzufordern und 
drittens Regierungen bei Nichteinhaltung von Men- 
schenrechten zur Rechenschaft zu ziehen. Bei letztem 
Punkt geht die Bundesregierung sogar soweit die Zu- 
sammenarbeit bei Nichteinhaltung von Menschenrech- 
ten in letzter Konsequenz einzustellen. 

Das Menschenrechtskonzept des BMZ stellt hier eine 
Art „Menschenrechts-TÜV“ dar. Menschenrechte wer- 
den als Konditionalität für staatliche EZ eingesetzt, 
wenn staatliche Akteure in den Partnerländern gravie- 
renden und systematischen Menschenrechtsverletzungen 
begehen. Im Falle von Uganda hat der erhöhte Druck 
von Minister Niebel und Staatssekretär Beerfeltz, die 
Entwicklungszusammenarbeit einzustellen, dazu ge- 
führt, dass das geplante menschenverachtende Anti- 
homosexuellengesetz bisher nicht weiter verfolgt wurde. 
Dieses Beispiel zeigt, dass diese Art der Konditionalität 
der einzig richtige Weg ist. 

Im Koalitionsvertrag hat die schwarz-gelbe Koalition 
erstmals ein ressortiibergreifendes Afrika-Konzept ver- 
ankert. Dieses erstmals ressortiibergreifende und kohä- 
rente Afrikakonzept der Bundesregierung verfolgt einen 
partnerschaftlichen Ansatz auf Augenhöhe konsequent. 
Das Thema Menschenrechte spielt dabei in dem Konzept 
eine zentrale Rolle. Und ich sage ganz klar: Wer den 
Vorwurf erhebt, in dem Afrika-Konzept würden Men- 
schenrechte keine Rolle spielen, der kann das Konzept 


nicht gelesen haben. Zur Erinnerung: Nach der Einlei- 
tung nimmt das Thema das zweite Kapitel ein. 

Der partnerschaftliche Ansatz des Afrika-Konzepts 
setzt darauf, Chancen und Potenziale des Kontinents und 
seiner Menschen zu identifizieren und zu entwickeln. In 
allen identifizierten Schlüsselbereichen kann sich das 
Engagement der Bundesregierung sehen lassen. 

Und den Vorwurf, die schwarz-gelbe Bundesregie- 
rung würde sich auf deutsche Wirtschaftsinteressen kon- 
zentrieren, weise ich entschieden zurück. Die wirtschaft- 
liche Zusammenarbeit - wie sie das Bundesministerium 
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 
bereits in seinem Namen trägt - ergänzt die vielfältigen 
Aktivitäten, ist aber nicht Kern unserer Entwicklungs- 
politik mit Afrika. Es ist richtig, die wirtschaftliche Zu- 
sammenarbeit stärker in den Blick zu nehmen - das trägt 
der neuen Rolle Afrikas schließlich Rechnung. Afrika 
spricht zunehmend mit einer Stimme, Afrikas Wirtschaft 
ist seit der Jahrtausendwende mit knapp 6 Prozent pro 
Jahr stärker gewachsen als der Weltdurchschnitt. Afrika 
ist längst und zurecht als Akteur auf der globalen Bühne 
angekommen. Ich habe oft von afrikanischen Gesprächs- 
partnern gehört, dass sie selbst diese wirtschaftlichen 
Chancen nutzen wollen. 

Blicken wir auf die Länder des „Arabischen Früh- 
lings“ - wir wissen doch alle, dass die jungen Menschen, 
die auf die Straße gegangen sind, neben ihrem Wunsch 
nach Demokratie und Menschenrechten auch den 
Wunsch nach Lebensperspektiven hatten, nach Chancen, 
nach Arbeitsplätzen. Deswegen wissen wir alle, wie 
wichtig die wirtschaftliche Komponente bei der Ent- 
wicklung der Länder ist, gerade bei der Transformation. 

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie 
müssen endlich weg von der Geber- und Empfänger- 
mentalität hin zu einem partnerschaftlichen Dialog auf 
Augenhöhe. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und poli- 
tische Entwicklung gelingt nur durch gute Regierungs- 
führung, durch die Abwesenheit von gewaltsamen Kon- 
flikten und durch effektive Korruptionsbekämpfung. 
Und wirtschaftliche Entwicklung gehört dazu, sie schafft 
Anreize und ist daher ein Motor für die nachhaltige Ent- 
wicklung von Gesellschaften. Stärkerer bilateraler Han- 
del und Investitionen tragen dazu bei. Allein durch deut- 
sche Arbeitgeber erhalten bspw. heutzutage in Afrika 
circa 146 000 Menschen einen Arbeitsplatz. Ich kann 
nicht verstehen, was die SPD-Fraktion gegen die Schaf- 
fung von Arbeitsplätzen hat! 

Ich kann mich noch gut an den Besuch der Bundes- 
kanzlerin in Liberia erinnern, an dem ich teilnehmen 
durfte. Ellen Johnson-Sirleaf sagte sehr deutlich zur mit- 
reisenden Wirtschaftsdelegation, dass sie keine Almosen 
wolle, sondern Jobs - bei einer Arbeitslosenquote von 
damals 80 Prozent mehr als verständlich. 

Nach wie vor gibt es allerdings eine Reihe von Ent- 
wicklungshemmnissen in Afrika: regionale Konflikte, 
Instabilität, schlechte Regierungsführung und Straflosig- 
keit. Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen 
gehen oft einher mit schwacher Staatlichkeit, fehlender 
Rechtsstaatlichkeit und schweren Menschenrechtsverge- 


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(A) hen. Wir haben als Menschenrechtsausschuss all das er- 
leben können bei unserem Besuch im Ostkongo in die- 
sem Jahr. 

Deswegen ist ein zentrales Anliegen unserer Politik, 
gemeinsam mit den afrikanischen Staaten - sowohl auf 
internationaler und europäischer Ebene die afrikani- 
schen Fähigkeiten zur regionalen Krisenprävention und 
-bewältigung zu stärken. Und gerade die Afrikanische 
Union hat im Bereich „Frieden und Sicherheit“ einige 
Anstrengungen unternommen, sei es mit dem early-war- 
ning center, mit der African Standby Force, sei es mit 
weiteren Bemühungen auf dem Kontinent wie zum Bei- 
spiel das Kofi Annan Peacebuilding Center. Und dieses 
Engagement unterstützen wir. Wie wichtig der Bereich 
„Frieden und Sicherheit“ ist, zeigen folgende Zahlen: 
Knapp die Hälfte aller Friedensmissionen sind in Afrika, 
etwa 70 Prozent aller Blauhelmsoldatinnen und -Solda- 
ten werden auf dem Kontinent eingesetzt. Die Bundes- 
regierung ist der viertgrößte Beitragszahler für friedens- 
erhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen. Ein 
bedeutender Anteil geht hier an Blauhelmmissionen. 

Ich danke meinem Kollegen Joachim Spatz als Vorsit- 
zenden des Unterausschusses Zivile Krisenprävention 
und vernetzte Sicherheit ganz explizit für die Arbeit des 
Ausschusses. Es zeigt, wie wichtig das deutsche Engage- 
ment im Bereich Krisenprävention und Konfliktlösung 
ist. 

Auch der Bereich „Good Governance“ ist ein aussa- 
gekräftige Gradmesser, ob ein Staat in der Lage und wil- 
lens ist, Menschenrechte einzuhalten. Er steht für Ge- 

(B) waltenteilung, Rechenschaftspflicht der Regierungen 
und verantwortliches Handeln der öffentlichen Verwal- 
tung. Gute Regierungsführung ist Schwerpunkt des 
BMZ mit 16 afrikanischen Ländern. Kein anderer 
Schwerpunkt wurde häufiger vereinbart. Mit einem jähr- 
lichen Fördervolumen von 285 Millionen Euro gehört 
Deutschland zu den drei größten bilateralen Unterstüt- 
zern guter Regierungsführung in Afrika. Im Bereich 
Rechtsstaatlichkeit werden verschiedene Justizpro- 
gramme in der Elfenbeinküste, Liberia und Sierra Leone 
durchgeführt. Die Programme unterstützen die effektive 
Reform des Sicherheitssektors und den Aufbau einer un- 
abhängigen Justiz. Die Bundesregierung unterstützt wei- 
terhin den internationalen Strafgerichtshof, den 2004 ge- 
gründeten Afrikanischen Menschengerichtshof und die 
internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Sierra 
Leone sowie vieles mehr. 

Denn - und das teilen wir sicher im ganzen Haus - 
die Kultur der Straflosigkeit muss endlich ein Ende ha- 
ben! 

Deswegen kann man nicht genug betonen, wie wichtig 
der deutsche Beitrag bei der Review-Konferenz zum 
Rom-Statut in Kampala im vergangenen Jahr war. Durch 
das deutsche Engagement unter der Leitung unseres Men- 
schenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus 
Löning, ist es gelungen, eine Strafbarkeitslücke zu 
schließen. Das ist ein Meilenstein auf der Weiterent- 
wicklung des Völkerstrafrechts. Leider hat dieses kom- 
plexe Thema in den Medien zu wenig Beachtung gefun- 
den. 


Sie sehen, wir haben einiges vorzuweisen - und die- (C) 
sen Weg werden wir konsequent weiter gehen. 

Annette Groth (DIE LINKE): Die Fraktion Die 
Linke fordert seit vielen Jahren eine andere Menschen- 
rechtspolitik als integralen Bestandteil der deutschen 
Außen- und Handelspolitik ein. Nur wenn Menschen- 
rechte nicht mehr den Wirtschafts- und Handelsinteres- 
sen untergeordnet werden, kann die Menschenrechtslage 
in den Ländern Subsahara-Afrikas nachhaltig verbessert 
werden. 

Die aktuelle Situation der Menschenrechte in den 
Staaten des südlichen Afrikas ist problematisch. Dazu 
hat auch die Afrika-Politik der westlichen Industrielän- 
der, die diese Region vor allem als Rohstofflieferant und 
Absatzmarkt betrachten, beigetragen. Auch sind viele 
der betroffenen Staaten bis heute von postkolonialen 
Strukturen geprägt. 

Aus diesem Grund halten wir die Einschätzung im 
SPD-Antrag, dass bei einer Reihe von afrikanischen 
Staaten südlich der Subsahara die Chance besteht, die 
„Löwenstaaten“ der Zukunft zu werden, für mehr als 
fragwürdig. Bisher zeigt sich in keiner Weise, dass die 
gestiegenen Rohstoffpreise für die Entwicklung der Län- 
der direkte Vorteile gebracht hätten. 

Die Mehrzahl der Rohstoffkonzeme befindet sich im 
Eigentum transnationaler Konzerne, welche die zusätz- 
lichen Gewinne in die Konzernkassen in den Industrie- 
staaten leiten. Zudem zeigt sich, dass durch den Roh- 
stoffboom die Vertreibung von Bauern zugenommen hat. (D) 

Laut Amnesty International sind seit dem Jahr 2000 
in Nigeria über 2 Millionen Menschen unrechtmäßig aus 
ihren Häusern vertrieben worden. Von diesen Zwangs- 
räumungen sind vor allem die ärmsten Bevölkerungs- 
gruppen betroffen. Sie werden in noch größeres Elend 
gestürzt und verlieren für die Interessen einiger weniger 
alles. 

Diese Vertreibungen gehen auch aktuell weiter. So 
sollen in der nigerianischen Hafenstadt Port Harcourt 
200 000 Menschen vertrieben werden, damit ein neues 
Geschäfts- und Freizeitzentrum für Unternehmen und 
die kleine Oberschicht errichtet werden kann. Dies alles 
passiert unter Zustimmung der lokalen Regierung, die 
einen sogenannten Stadtentwicklungsplan umsetzt. 2009 
wurden 17 000 Menschen gezwungen, ihre Häuser zu 
verlassen, um 40 hochmodernen Uferquartieren Platz zu 
machen. Mit „Löwenstaaten“ hat dies nach unserer Mei- 
nung wenig zu tun, vielmehr mit Unrecht, Vertreibung 
und Verarmung der Bevölkerung. 

Der Antrag der SPD geht von einem verkürzten Men- 
schenrechtsbegriff aus, in dem wirtschaftliche, soziale 
und kulturelle Menschenrechte nur unzureichend ange- 
sprochen werden. Dadurch werden wesentliche Ursachen 
für Menschenrechtsverletzungen nicht angesprochen, 
und zwar gerade solche, die besonders entwicklungsrele- 
vant sind, etwa die erzwungene Freihandels-, Privatisie- 
rungs- und Liberalisierungspolitik durch die Staaten des 
Nordens. 



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(A) Menschenrechte dürfen nicht auf die bürgerlichen 
Menschenrechte beschränkt werden, sondern müssen 
umfassend definiert werden. Vor allem die sozialen 
Menschenrechte dürfen nicht mehr hinter Wirtschafts- 
interessen zurückstehen. 

Der großflächige Verkauf oder die Verpachtung von 
Land an Großinvestoren wird häufig durch Menschen- 
rechtsverletzung durchgesetzt. Westliche Konzerne neh- 
men den Menschen ihr Recht auf Nahrung und Wasser, 
damit Blumen für den europäischen Markt gezüchtet 
werden können. Sie missbrauchen wertvolles Ackerland 
zum Anbau von Energiepflanzen für die Spritproduktion 
des Nordens. 

Beispiel Äthiopien: Nur 13 Prozent der Landfläche 
sind landwirtschaftlich nutzbar. Von diesen 15 Millionen 
Hektar wurden etwa 3,3 Millionen Hektar als Pachtland 
für Investoren ausgewiesen. Durch diese Verpachtung 
finden großflächige Umsiedlungen statt. Nomaden wird 
ihr bisheriges Weideland genommen. 

Insgesamt ist der SPD-Antrag von einer problemati- 
schen Haltung gegenüber den Partnerländern im Süden 
durchdrungen. Menschenrechtliche Prinzipien sollen in 
den Partnerländern „bekannt gemacht werden“, es wer- 
den Schulnoten an einzelne Staaten vergeben und Kon- 
ditionen für die Entwicklungszusammenarbeit gefordert. 
„Unsere“ Vorstellungen von „Good Governance“ wer- 
den zum Maßstab erhoben und als Voraussetzung für 
Entwicklung dargestellt, obwohl es für diesen unterstell- 
ten Zusammenhang keinen Nachweis gibt. 

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,L ’ In ihrem Antrag betont die SPD einseitig Selbstver- 
pflichtungen der afrikanischen Staaten, etwa im Rahmen 
der Gründungsakte der Afrikanischen Union, des Afri- 
can Peer Review Mechanismus, der Afrikanischen 
Charta der Menschenrechte und internationaler Men- 
schenrechtskonventionen. 

Es ist viel von afrikanischer Eigenverantwortung die 
Rede, aber nie von der Verantwortung der Industriestaa- 
ten. Die Linke lehnt diese einseitige Herangehensweise 
ab. Es ist eine nicht zu akzeptierende Haltung, dass 
„wir“ uns herausnehmen, den Menschen in Afrika etwas 
beizubringen. „Wir“, also die Staaten des reichen Nor- 
dens, sind nicht in der Situation, anderen Ländern Men- 
schenrechte zu lehren. Vielmehr müsste die Politik der 
EU grundsätzlich geändert werden, damit Menschen- 
rechte auch dort verwirklicht werden können. Ich 
möchte hier als Stichworte nur die unmenschliche Be- 
handlung von Flüchtlingen an der EU -Außengrenze nen- 
nen. 

Auch die unkritische Bezugnahme auf die afrikani- 
sche Friedens- und Sicherheitsarchitektur und AU-Frie- 
densmissionen teilen wir nicht. Die Militarisierung der 
Beziehungen zwischen der EU und Afrika lehnen wir ab. 
Menschenrechte werden in Afrika insbesondere auch 
durch militärische Interventionen des Westens verletzt, 
siehe Libyen und Cöte d’Ivoire. Waffenexporte werden 
im Antrag zwar angesprochen, es wird jedoch versäumt, 
Deutschlands Rolle als drittgrößter Waffenexporteur di- 
rekt zu problematisieren. 


Auch wenn in dem Antrag einige richtige Forderun- (C) 
gen aufgegriffen werden, ist er insgesamt ein Dokument 
einer weitgehend unzureichenden Menschenrechtspoli- 
tik. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. 

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 

Es gibt zwei Arten parlamentarischer Initiativen, mit de- 
nen schwer umzugehen ist. Einerseits sind es diejenigen, 
die so tief ins Detail gehen, dass nur noch jene sie verste- 
hen, die sie geschrieben haben oder die zumindest über 
enormes Expertenwissen verfügen. Andererseits gibt es 
Initiativen, die so allgemein gehalten sind, dass man ih- 
nen sogleich zustimmen möchte, weil sie die Probleme 
so übersichtlich darstellen und zugleich suggerieren, 
dass sie mit einem Handstreich zu lösen sein könnten. 

Zur letzteren Gruppe gehört der Antrag der SPD, über 
den an dieser Stelle diskutiert wird. Wir diskutieren über 
einen Antrag zu nahezu einem gesamten Kontinent, ei- 
ner Region mit 35 Staaten. Ein solcher Antrag kann den 
tatsächlichen Problemen in keiner Weise gerecht wer- 
den. Zwar mag der Problemaufriss übersichtlich geglie- 
dert und um Vollständigkeit bemüht sein. Eine seriöse 
Auseinandersetzung ist aber in solch einer Kürze nicht 
möglich. 

Ich möchte mich auf einen Punkt konzentrieren, der 
in dem Antrag nur skizzenhaft auftaucht, den institutio- 
nellen Schutz der Menschenrechte durch den Afrikani- 
schen Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte 
der Völker, AGMR, den Internationalen Strafgerichts- 
hof, IStGH, und die nationalen Rechtsordnungen - ein- 
schließlich derer der Europäischen Union und Deutsch- m) 
lands. 

Der AGMR wacht seit Juli 2006 über die Wahrung 
der Menschenrechte durch die 25 Mitglieder der Afrika- 
nischen Union, die das Zusatzprotokoll zur Afrikani- 
schen Menschenrechtscharta von 1998 unterzeichnet 
haben. Der Gerichtshof übernimmt die Arbeit der Afri- 
kanischen Kommission in Bezug auf den Menschen- 
rechtsschutz. Durch seine bindenden Urteile kann er ein 
bedeutendes Instrument zur Förderung von Wahrung 
und Schutz der Menschenrechte auf dem afrikanischen 
Kontinent darstellen. Der Wirksamkeit und Funktionsfä- 
higkeit des Gerichtshofs als Teil eines Gesamtsystems 
stehen allerdings noch verschiedene Hemmnisse entge- 
gen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt erst ein einziger Fall 
entschieden wurde. 

Zum einen ist gemäß Art. 34 Abs. 6 und Art. 5 Abs. 3 
Individuen und Nichtregierungsorganisationen eine 
Klage nur möglich, sofern der betreffende Staat in einer 
Zusatzerklärung der Individualklage zugestimmt hat. 

Dies ist bis zum jetzigen Zeitpunkt erst durch die Staaten 
Burkina Faso, Mali, Malawi und Tansania geschehen. 
Folglich bleibt einem Großteil der Menschen der Zugang 
zum Gerichtshof verwehrt. 

Zum anderen befindet sich der strukturelle und perso- 
nelle Aufbau des Gerichtshofes noch in der Entwicklung. 

Ein Austausch zwischen dem AGMR und den anderen 
regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen, insbesondere 
dem EGMR, könnte die Entwicklung hin zu einem funk- 


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(A) tionierenden Organ des Menschenrechtschlitzes unter- 
stützen. 

Die Bundesregierung muss hier die Initiative ergrei- 
fen und sollte in bilateralen Gesprächen die Staaten der 
Afrikanischen Union, die das Protokoll bis dato noch 
nicht unterzeichnet haben, zum Unterzeichnen aufzufor- 
dern. In Gesprächen mit jenen Staaten der Afrikanischen 
Union, die die Zusatzerklärung zur Individualklage noch 
nicht abgegeben haben, sollte sie zudem die Bedeutung 
der Individualklage hervorheben. Darüber hinaus wäre 
es hilfreich, wenn sich die Bundesregierung im Europa- 
rat für eine verstärkte Zusammenarbeit in Form eines 
Expertenaustausches zwischen EGMR und AGMR ein- 
setzen würde. Und schließlich muss sie die finanzielle 
und personelle Unterstützung im Rahmen der Entwick- 
lungszusammenarbeit intensivieren, anstatt sie wie in 
der aktuellen Haushaltsrunde zu kürzen. 

Nicht ohne Grund richten sich alle derzeit beim 
IStGH anhängigen Verfahren gegen Verantwortliche aus 
afrikanischen Staaten. Damit sei nicht gesagt, dass nicht 
auch in anderen Teilen der Welt Völkerrechtsverbrechen 
begangen werden, doch auf dem afrikanischen Konti- 
nent ist sowohl ihre Zahl als auch ihr Ausmaß erschre- 
ckend und gewaltig. Die Anklagen vor dem Gerichtshof 
entfalten zunehmend eine präventive Wirkung. Dennoch 
ist seine Akzeptanz in weiten Teilen afrikanischer Polit- 
eliten zu gering. 31 afrikanische Staaten haben das Rö- 
mische Statut zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof 
ratifiziert und sich somit zur Zusammenarbeit verpflich- 
tet. Dies beinhaltet unter anderem die Ausführung von 
Haftbefehlen. Dass dies für einige Regierungen jedoch 
nur ein Lippenbekenntnis darstellt, wird exemplarisch 
ein ums andere Mal deutlich, wenn der sudanesische 
Präsident Umar al-Baschir herumreist. Vor wenigen Wo- 
chen war er anlässlich eines Treffens des Common Mar- 
ket for Eastern and Southern Africa in Malawi. Dort 
hätte man sich der Zusammenarbeit mit dem IStGH 
nicht verweigern dürfen. Als Unterzeichnerstaat des Sta- 
tuts des Internationalen Strafgerichtshof hätte Malawi al- 
Baschir festnehmen und an Den Haag ausliefern müssen. 
Ähnlich war es zuvor in Kenia. Doch in beiden Vertrags- 
staaten des IStGH fühlte sich der international Ange- 
klagte sicher und reiste dann auch wieder unbehelligt zu- 
rück in seine Heimat. 

Stellt al-Baschirs Auftritt etwa in Nairobi nun das Be- 
kenntnis Kenias infrage, mit dem IStGH zusammenzuar- 
beiten, wenn es um Ermittlungen im eigenen Land geht? 
Unter denen, die infolge der Wahlen 2007 Unruhen mit 
mehr als 1 100 Toten angezettelt haben sollen, sind weit- 
hin wohl einige Regierungsmitglieder. Nairobi hatte bis- 
lang für die Untersuchung des IStGH in Kenia uneinge- 
schränkte Kooperation zugesagt und diese gerade im 
Juni 2010 bei der Überprüfungskonferenz in Kampala, 
Uganda, noch bekräftigt. Aber letztlich ist ungewiss, wie 
die Regierung mit der nächsten Herausforderung umge- 
hen wird: Noch in diesem Monat ist mit den Anklagen 
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu rechnen. 
Dass die dann angeklagten Politikerinnen und Politiker 
Kenias ausgeliefert werden, dürfte nach diesem offiziel- 
len Staatsbesuch al-Baschirs bezweifelt werden. 


Und vielleicht ist Kenias Entscheidung auch ein Signal (C) 
an den Chefankläger des IStGH. Denn dessen zielstrebi- 
ges Vorgehen insbesondere gegen afrikanische Täter 
missfällt vielen dortigen Verantwortlichen. Für uns ist 
klar, dass Umar al-Baschir auf die Anklagebank gehört. 

Er muss sich endlich für den Völkermord in Darfur ver- 
antworten, denn auch Staatsoberhäupter können sich nicht 
auf ihre Immunität berufen, wenn sie wegen Völker- 
rechtsverbrechen angeklagt sind. Es darf keine weitere 
Aushöhlung des Strafgerichtshofes durch seine Mitglied- 
staaten geben. Auch hier ist die Bundesregierung in bila- 
teralen Gesprächen sowie in Gesprächen mit der Afrikani- 
schen Union in der Pflicht, Überzeugungsarbeit zu leisten. 

Deutsche und europäische Wirtschaftsunternehmen 
sind in großem Ausmaß in afrikanischen Staaten tätig. 

Sie lassen dort ihre Waren produzieren, beuten Rohstoffe 
aus, investieren, bauen und vieles mehr. Sie profitieren 
dabei nicht nur von menschenunwürdigen Löhnen oder 
den Vorkommen seltener Erden, sondern auch von zu- 
weilen schwachen Verwaltungen, korrupten Beamten, 
schlechten Gesetzen oder untätigen Gerichten. Sie haben 
also mitunter ganz konkreten Einfluss auf Menschen- 
rechtsverletzungen, nehmen an diesen teil oder profitie- 
ren von ihnen. Deutsche und europäische Unternehmen, 
die auf dem afrikanischen Kontinent tätig sind, müssten 
daher gesetzlich dazu verpflichtet werden, regelmäßige 
Berichte zu ihren Menschenrechtspolitiken zu erstellen. 
Allerdings werden weder die klassischen, staatszentrier- 
ten menschenrechtlichen Konzeptionen noch die beste- 
hende nationale und internationale Rechtslage den Ge- 
fahren, die von Unternehmen für die Menschenrechte 
auf dem afrikanischen Kontinent ausgehen, gerecht. 

Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen daher 
auf völkerrechtlicher und europäischer Ebene, dringend 
aber auch im nationalen deutschen Recht, verbessert 
werden. Zwar existieren bereits jetzt Soft-Law- Verfah- 
ren, die rechtsunverbindlich genutzt werden können, wie 
die OECD-Beschwerden und Weltbank-Beschwerdever- 
fahren. Durch Klagen und juristische Verfahren aber 
könnten Menschen in Afrika deutlich machen, dass es 
sich bei Menschenrechtsverletzungen nicht allein um 
politische und soziale Skandale handelt, sondern um 
Verstöße gegen konkrete Rechtsnormen. 

Das deutsche und europäische Zivilrecht und Zivil- 
prozessrecht sollte deswegen so ausgestaltet werden, 
dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen transnatio- 
naler Unternehmen - nicht nur, aber häufig in Afrika - 
Entschädigungsansprüche effektiv geltend machen kön- 
nen. Auch müsste das Handels- und Gesellschaftsrecht 
dahingehend geändert werden, dass Entscheidungsträge- 
rinnen und -träger in Unternehmen verpflichtet sind, 
auch nach menschenrechtlichen Kriterien zu entscheiden 
und nicht nur nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunk- 
ten. Denn viel zu häufig beruht die Entscheidung, wirt- 
schaftlich in einem afrikanischen Staat tätig zu werden, 
einzig auf der Erwägung, dort billigste Voraussetzungen 
vorzufinden. Die menschenrechtlichen Belange finden 
dabei zumeist keine Berücksichtigung - und dürfen es 
nach der derzeitigen Rechtslage im Handels- und Gesell- 
schaftsrecht auch nicht, da die Managerinnen und Mana- 
ger von Unternehmen verpflichtet sind, deren Vermö- 
gensinteressen wahrzunehmen und für einen reibungs- 



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(A) losen, effizienten und gewinnorientierten Betriebsablauf 
Sorge zu tragen. 

Lassen Sie mich nach dieser Fokussierung auf einen 
Punkt des Antrags noch eine allgemeine Bemerkung ma- 
chen. Es ist gut, dass der aus der Kolonialzeit stam- 
mende rassistische Begriff „Schwarzafrika“ peu ä peu 
aus dem Sprachgebrauch verschwindet. Der Terminus 
„Subsahara-Afrika“ mag zwar sperrig sein, knüpft aber 
immerhin nicht mehr an ethnische und pseudobiologisti- 
sche Zusammenhänge an. Nichtsdestotrotz ist auch diese 
Unterteilung des afrikanischen Kontinents in zwei Kate- 
gorien ein sprachliches Überbleibsel kolonialistischen 
Denkens. Sie gründet in der Idee des „divide et impera“, 
des Teilens und Herrschens, und suggeriert Homogeni- 


tät, wo eigentlich Pluralität und Vielfalt herrschen. Ganz (C) 
so, als ob der Saharasand ein Hemmnis für die von Nor- 
den her voranschreitende Kultur und Sprache und alles 
darunter irgendwie zusammengehörig sei. Diesen Sand 
zur sprachlichen Klammer einer Vielzahl von Staaten, 
Völkern und Kulturen zu erheben, wird ihnen allen nicht 
gerecht und geht vollkommen an den Realitäten vorbei. 

Es gibt so mannigfaltige Unterschiede in dieser großen 
Region, dass wir unseren Blick von Norden her deutlich 
schärfen müssen. Der Antrag der SPD, der in einem gro- 
ßen Aufwasch Probleme verallgemeinert und verunklart, 
tut genau das Gegenteil. Diese Sichtweise auf Afrika ist 
nicht nur vollends veraltet, sie ist auch in der politischen 
Debatte nicht mehr wirklich hilfreich. 




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ISSN 0722-7980